Nach Taifun Haiyan

Wer Wind sät...

04.12.2014   Lesezeit: 9 min

Die Wellen am Strand von Tacloban plätschern ruhig dahin. Nur eine leichte Brise lässt die Fahnen all derer flattern, die sich heute an diesem symbolträchtigen Ort versammeln. Knapp ein Jahr ist es her, dass hier der stärkste jemals gemessene Taifun auf Land traf. Eine tsunamigleiche Sturmflut zerstörte die Stadt und zog eine Schneise der Verwüstung durch die Inselgruppe der Visayas. Heute aber warten hier Hunderte auf den Beginn einer neuartigen Flut – einer Menschenflut.

Dann geht es los. Eine Armada von Fischerbooten und hölzernen Fährschiffen taucht am Horizont auf. Die meisten sind geschmückt mit der Fahne von PeopleSurge. Diesen Namen gab sich die Bewegung der Überlebenden des Taifun Haiyan. Als die Boote näher kommen, bildet sich eine Menschenkette. Parolen werden gerufen, die Ankommenden begrüßt. „Da sind unsere Boote!“, ruft mir Ian von der philippinischen medico-Partnerorganisation SOS zu. Mitten im Getümmel begrüßen wir die Fischer aus Basey von der anderen Seite der Bucht auf der Insel Samar. Der Taifun hatte auch ihre Lebensgrundlagen zerstört. SOS versorgte die Fischereikooperative mit neuen Booten und Netzen. Unterdessen wird die Ansammlung immer größer. Die Bauern von der Nachbarinsel kommen an, schließlich treffen auch Busse mit Aktivisten aus der Hauptstadt Manila ein. Die Kundgebung zieht um auf den schattigen Campus der Universität. Als dort auch noch die Studenten aus Solidarität geschlossen die Seminarräume verlassen, können die Protesttage zum Jahrestag beginnen.

Ganz vorne mit dabei ist Dr. Efleda Bautista. Sie promovierte einst in Frankfurt am Main in Erziehungswissenschaften über „Pädagogik in der Dritten Welt“. Später unterrichtete sie auf den Philippinen und war Vorsitzende der Lehrergewerkschaft. Nach der Pensionierung zog sie zurück in ihre Heimatstadt Tacloban. Dann kam der Taifun. Empört über die Untätigkeit der Regierung, suchte sie nach Mitstreitern – und fand sie, schnell und in großer Zahl. Ein Jahr später ist die erfahrene Politaktivistin zum Sprachrohr der Katastrophenüberlebenden geworden. „Niemals werden wir die Unfähigkeit der Regierung Aquino vergessen, die 18.000 unserer Verwandten und Freunde das Leben gekostet hat“, beginnt sie ihre Rede.

Die Wut ist groß

Kritik an der Katastrophenhilfe der Zentralregierung bestimmt die Nachrichten auf den Philippinen und bringt den Präsidenten zunehmend in die Defensive. Efleda hat Präsident Aquino, genannt NoyNoy, öffentlich aufgefordert, am Jahrestag nach Tacloban zu kommen, um sich den Anliegen der Überlebenden zu stellen. Der Präsident aber reiste lieber woandershin. „NoyNoy hat Angst, von den Überlebenden durch die Straßen gejagt zu werden.  Die Wut ist groß“, sagt Efleda. Tatsächlich kann PeopleSurge nicht mehr so leicht ignoriert werden. Auch die Versuche, die Bewegung durch Verunglimpfungen als bezahlte Demonstranten oder „Kommunisten“ zu isolieren, haben nicht verfangen. Am Ende werden es fast 20.000 sein, die sich allen Transportschwierigkeiten und behördlichen Einschüchterungen zum Trotz den Demonstrationen anschließen. „Ein großer politischer Erfolg“, urteilt Efleda.

Beim nachmittäglichen „Protest-Hopping“ bildet der örtliche Ableger des Sozialministeriums die erste Station. „Wo sind die Hilfsgelder geblieben?“, skandieren die Demonstranten. Aus den sozialen Netzwerken kennen sie Bilder, die zeigen, dass Reis aus Hilfslieferungen palettenweise in den Warenlagern des Ministeriums verfault. Auch finanzielle Unterstützung haben nur die wenigsten erhalten. Der Sprecher des zum Lautsprecherwagen umgebauten Sammeltaxis fordert die Direktorin auf, aus ihrem Büro zu kommen und sich zu erklären. Doch sie bleibt hinter den Polizisten verschanzt, die das Tor beschützen. Kurz wird es hektisch. Ein Schild wird aus der Verankerung gerissen. Als der große Weihnachtsbaum umfällt, sind alle etwas erschrocken und ziehen weiter zum symbolischen Sturm auf den Sitz der Provinzregierung.

Die Zahlen geben den Demonstranten Recht. Eine von medico unterstützte Studie der Forscher der IBON Foundation belegt, dass die Behörden ihre selbst gesetzten Ziele bei weitem nicht erreicht haben. IBON-Geschäftsführer Sonny Africa zählt Beispiele auf: „Von 1,5 Millionen Familien, die finanzielle Hilfen aus dem Fonds der Regierung erhalten sollen, haben erst 215.471 tatsächlich Zahlungen erhalten. Mehr als 1,2 Millionen Häuser wurden beschädigt oder zerstört, aber erst 364 neue wurden errichtet.“ Bei der Instandsetzung von Klassenzimmern und Gesundheitsstationen sähe es nicht besser aus und noch immer funktionierten drei Viertel des Gesundheitswesens nicht. Die Sozialwissenschaftler haben auch mehr als 1.000 Betroffene in ihren Gemeinden aufgesucht und befragt. Dass nach dem Taifun keine Hungersnot oder Seuchen ausgebrochen sind, sei kein Verdienst des nationalen Katastrophenschutzes. Vielmehr sei die Hilfe in der ersten Woche von Verwandten, Nachbarn und Freunden geleistet worden, später auch von lokalen und internationalen NGOs. Aber nur jeder Zehnte gab an, von der nationalen Regierung unterstützt worden zu sein.

Privatisierung statt Wiederaufbau

Am Hafen haben sich inzwischen Tausende zur Abschlusskundgebung eingefunden. Viele haben das Demo-Motto „Gerechtigkeit für die Überlebenden des Taifun Yolanda!“ – so heißt Haiyan hier – auf Reissäcke gemalt oder tragen selbst gebastelte Rettungsringe um den Hals. Auf der Bühne geißelt Efleda Bautista diesmal nicht nur das Ausbleiben der Hilfe: „Der Wiederaufbauplan der Regierung ignoriert die Bedürfnisse der Überlebenden. Es profitieren nur die mit der Regierung Aquino verbundenen Unternehmen von der zunehmenden Privatisierung und großen Infrastrukturprojekten.“ Die Ausgabe von Saatgut in Verbindung mit Mikrokrediten stürze die Kleinbauern in die Schuldenfalle.

Und sie kritisiert die „No-Build-Zone“, derzufolge in einem 40 Meter breiten Abschnitt entlang der Küste Wohnunterkünfte verboten, kommerziell genutzte Gebäude hingegen erlaubt sind. Diese vermeintlich dem Katastrophenschutz dienende Maßnahme sei ein Instrument der neoliberalen Umstrukturierung. Tatsächlich thront nicht weit von der Bühne entfernt eine neu errichtete McDonalds-Filiale an der Rizal Avenue – keine 10 Meter von der Hafenmauer entfernt. Daneben wird eifrig an einem Einkaufszentrum gebaut. Es ist vermutlich nur eine Frage der Zeit, bis die zahlreichen Hütten der verarmten Stadtbevölkerung entlang des Wassers weiteren Bauprojekten in attraktiver Meerlage weichen müssen. Im neuen Tacloban sind keine Unterkünfte der Armen vorgesehen, zumindest nicht in Sichtweite der Tourismusanlagen und Zentren der IT-Industrie.

Am nächsten Morgen steht ein Projektbesuch bei den Bauern aus Pinabacdao in der Gemeinde Pelaon an. Mit Rosalinda, Nonie, Ian und Mighty vom SOS-Team aus dem Büro in Palo auf der Insel Leyte geht es über die längste Brücke der Philippinen nach Samar. Irene, die das Wiederaufbauprojekt maßgeblich betreut, treffen wir erst im Dorf selbst. Es ist nicht ungewöhnlich, dass SOS-Mitarbeiter über Wochen in den Gemeinden leben. Nachdem wir das Auto am Highway geparkt haben, werden Gummistiefel verteilt. Selbst mit dem besten Geländewagen ist Pelaon nicht zu erreichen. Für Vertreter großer Hilfsorganisationen, die sich nur in ihren Autos mit GPS-Standortverfolgung bewegen dürfen, ist hier Schluss. Wir laufen los. Nach 200 Metern verliert sich die schmale Teerstraße in fast knietiefem Matsch. „Was du hier siehst, ist eine 180.000 Euro teure Straße“, lacht Nonie. „Leider existiert diese Straße nur auf dem Papier.“ Die Gelder sind verschwunden, vermutlich in den Taschen des Landrates, der die Dokumente über die erfolgreiche Fertigstellung unterschrieben hat. Er ist ein mächtiger Geschäftsmann und Landbesitzer aus Pinabacdao, der gleichzeitig über die Zuteilung von Hilfsgeldern und -gütern entscheidet. Die Bewohner Pelaons bezichtigen ihn der Korruption. Der Landrat wiederum hält das Dorf für ein Rebellennest undankbarer Kleinbauern.

Ungelöste Landfrage

Nach zwei Stunden „Matschwaten“ gelangen wir an das Ziel, wo uns Mitglieder der örtlichen Bauernorganisation erwarten. Begeistert führen sie Vieh und Maschinen vor, die SOS nach dem Taifun geliefert hatte, um den Menschen einen Neuanfang zu ermöglichen. Dann geht es auf die Gemeinschaftsfelder. Es gilt keine Zeit zu verlieren, der Reis muss geerntet werden. „Es ist schon die zweite Ernte seit dem Taifun und wir haben immer noch Vorräte von der letzten“, berichtet Bauernpräsident Jerry Tobique mit sichtlichem Stolz: „Früher hatten wir keine Wasserpumpe und konnten höchstens einmal im Jahr ernten. Dank der Unterstützung durch SOS bauen wir jetzt zusätzlich Erdnüsse und Gemüse an.“ Das größte Problem bleibt allerdings die Landfrage – ein Erbe des spanischen Kolonialismus, der rund 300 Jahre über die Philippinen herrschte und in der Dominanz des Großgrundbesitzes überdauert.

Nur 18 Hektar dürfen die rund 200 Mitglieder der Bauernkooperative gemeinschaftlich bewirtschaften. Möglich und nötig wäre ein Vielfaches. So bleibt den meisten keine andere Wahl, als Land bei den Feudalherren zu pachten oder sich als Tagelöhner zu verdingen. Im Nachbardorf Nabong, das ebenfalls von SOS beim Wiederaufbau unterstützt wird, ist die Situation ähnlich. Die Gemeinschaftsfarm kommt hier immerhin auf 42 Hektar. Allerdings sind von den rund 600 Einwohnern nur 75 in der Kooperative organisiert. „Das Interesse ist groß, aber die Angst noch größer“, erklärt Erning. Er ist Kleinbauer und seit der Ermordung seines Vorgängers im Juni örtlicher PeopleSurge-Sprecher.

Damals, am 29. Juni 2014, habe Rodolfo Basada, Schmied von Beruf, in der Werkstatt gearbeitet, berichtet seine Witwe. Als sie zwei Schüsse hörte, sei sie aus dem Haus gelaufen, um zu sehen, was los ist. Getroffen sah sie ihren Mann zusammensacken und vier Maskierte auf Motorrädern davonfahren. Die Täter vermutet sie in den Reihen der Armee: „Niemand außer ihnen hätte einen Grund, meinen Mann umzubringen. Seine politischen Aktivitäten waren ihnen seit langem ein Dorn im Auge.“

Auch Erning wird von Militär bedroht. „Sie wollen, dass ich aufhöre, die Leute zu organisieren. Die politischen Dynastien fühlen sich von unserem Kampf für unsere Rechte bedroht. Eine Landreform wollen sie um jeden Preis verhindern.“ Auf der Fahrt zurück ins SOS-Büro bedrückt mich der Gedanke, bei meinem nächsten Projektbesuch womöglich nicht mehr mit dem sympathischen Bauernaktivisten reden zu können. „Die Kultur der Straflosigkeit ist ein Riesenproblem. Deshalb sind wir auch so froh über die Unterstützung von medico. Nicht nur wegen der Spenden. Wenn die Soldaten dich oder euer Logo sehen, sind sie erstmal vorsichtig“, sagt SOS-Geschäftsführerin Rosalinda. „Schreib ruhig über Erning. Aufmerksamkeit aus dem Ausland ist das Einzige, was ihn beschützen kann.“ Diesen Wunsch erfülle ich gerne.

Bernd Eichner

medico international unterstützt seine philippinische Partnerorganisation Samahang Operasyong Sagip (SOS), ein Netzwerk aus Gesundheitsorganisationen, das neben Katastrophenvorsorge auch Nothilfe leistet, seit dem Taifun Haiyan mit 1,1 Millionen Euro. Die Aktivitäten des Netzwerkes haben seit Dezember 2013 mehrere Zehntausend Menschen erreicht. Doch noch immer ist die Not vielerorts groß.

Dieser Artikel erschien zuerst im Rundschreiben 3/2014. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt bestellen!


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