Dr. Alex O. Awiti, Direktor des Ostafrikainstituts an der Aga Khan Universität in Nairobi, Kenia spricht mit Anne Jung, medico international, über die Folgen der Dürre in Ostafrika, das Versagen der Politik und mangelnde Reichweite humanitärer Hilfe.
“Die schlimmste humanitäre Katastrophe seit der Gründung der UN” – so nennt die UN selbst diese Hungersnot in Ostafrika. Zwanzig Millionen Menschen sind akut vom Hungertod bedroht, ohne dass sofortige finanzielle Mittel im Jemen, im Südsudan, Somalia und Nigeria bereitgestellt worden wären. Wie beurteilen Sie dies aus einer Ihrer wissenschaftlichen Position heraus?
Alex O. Awiti: Diese Kategorisierung der UN ist bemerkenswert. 2012 galt die Dürre als die schlimmste seit 60 Jahren, aber wir werteten sie als Naturkatastrophe. Dieses Mal jedoch ist es offensichtlich menschliches Versagen bei der Bewältigung einer Dürre, die wir hätten bewältigen können – wäre nur rechtzeitig gehandelt worden. Stattdessen wurde daraus eine humanitäre Katastrophe. Es wurde dramatisch unterschätzt, wie dringend und in welchen Ausmaßen wir hätten reagieren müssen.
Es ist meiner Meinung nach ein Armutszeugnis der global agierenden humanitären Organisationen wie der UN und anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen: Sie waren nicht in der Lage, genügend Aufmerksamkeit für diesen Fall zu schaffen und deutlich zu machen, dass auch auf internationaler Ebene diesen Entwicklungen nicht radikal genug begegnet wird.
Wie ist dieses Versagen der Politik zu erklären?
Ein Problem ist, dass emotionalisierte Zugänge einfach zu handhaben sind. Es ist leicht, mit dem Anblick eines sterbenden Kindes internationale Aufmerksamkeit zu schüren und Mittel zu akquirieren. Wenn du so eine Darstellung zu Hause auf deinem Bildschirm siehst, dann handelst du. Aber danach, da wird es sehr still. Die internationale Presse fährt nach Hause und wir hören auf, es als Problem wahrzunehmen.
Nach der letzten großen Hungersnot in 2012 konnten wir beobachten, wie schnell in Gesellschaften, deren Lebensgrundlagen zerstört wurden, durch solche katastrophalen Ereignisse Konflikte wieder ausbrechen. Der Viehbestand ist tot, Wasserressourcen sind versiegt und Menschen müssen um grundlegende natürliche Ressourcen konkurrieren. Dürren zerstören die Leistungskraft einer Gesellschaft, indem sie ihre Lebensgrundlagen vernichten. An dieser Stelle hat die internationale Gemeinschaft versagt.
Wir überlegen nicht, wie wir mit den Folgen langfristig umgehen, um die Leben der Menschen wieder herzustellen, die wir retteten. Und ihnen die Lebensgrundlagen bereitstellen, die sie benötigen, um wieder auf eigenen Beinen zu stehen.
Für mich lautet die Frage: Warum habt ihr sie überhaupt gerettet? Um ihnen während der nächsten Dürre beim Sterben zuzusehen? Wenn die Menschen nicht dabei unterstützt werden, sich aus eigener Kraft vor der nächsten Dürre zu schützen, dann sind sie eigentlich zum Sterben gerettet worden. Und das halte ich für schlicht für unmenschlich.
Welche Langzeitfolgen hat die Hungernot?
Die wichtigste Phase menschlicher Entwicklung findet während der ersten 1000 Tage statt. Denken wir an all die Kinder, die innerhalb dieses Zeitraums geboren wurden und die schwangeren oder stillenden Mütter, so kann von der Zerstörung einer ganzen Generation durch diese Dürre ausgegangen werden. Die Kinder sind in ihrer kognitiven Entwicklung beeinträchtigt. Die Mütter, die während der Dürre ihr Kind verloren haben, müssen mit dieser traumatischen Erfahrung klarkommen. Sie können einfach nicht mit der Erinnerung an diesen Albtraum leben, ihr Kind machtlos vor ihren Augen verhungern zu sehen. Selbst wenn es wissen, dass es nicht ihre Schuld ist, so bleibt ihnen doch das Gefühl, das Leben ihres Kindes nicht haben schützen zu können. Dieses Stigma tragen sie noch mit sich, wenn die Dürre längst vergangen ist. Und die psychisch und physisch beeinträchtigten Kinder werden niemals in der Lage sein, ihr ganzes Potenzial voll zu entwickeln und auszuleben. Dadurch werden sie gezwungen, selbst in Armut aufzuwachsen und ihre Kinder in dieser Armut zu erziehen.
Dies lässt eine Armutsspirale entstehen, die sich über Generationen fortsetzt. Das halte ich für die folgenreichste Langzeitauswirkung einer Dürre. Denn selbst wenn diese selbst bloß sechs Monate andauerte, entsteht durch sie eine ganze Generation von Kindern unter zwei Jahren, die schwere körperliche Einschränkungen von der Situation davontragen. Diese Gesellschaft verliert durch die Dürre also ihre Leistungsfähigkeit, weil weniger produktive Arbeitskraft verfügbar ist. So bleibt das Problem kein individuelles oder innerfamiliäres, sondern hat Folgen für das ganze Land. Äthiopien verlor etwa 16% seines BIP, weil die Hälfte aller öffentlich Angestellten vermutlich als Folge einer früheren Hungersnot körperlich eingeschränkt war. Dies sind also die sehr, sehr langfristigen Konsequenzen, wenn die Reaktionsstrategien in und nach der Dürre versagen.
Aber die UN und die nationalen Regierungen sollten sich über all dies im Klaren sein!
Sie sind sich darüber im Klaren.
Was das Ganze noch schwerer nachvollziehbar macht…
Das Generalsekretariat der UN rief erst eine Naturkatastrophe aus, als bereits 3 Millionen Menschen dem Hungertod nah waren. Am Horn von Afrika vor zwei Jahren wurde uns jedoch durch Frühwarnsysteme rechtzeitig klar, dass dort ein Problem auf uns zukommen wird und es konnte reagiert werden. Die Dürre selbst ist also nicht das Problem! Das sie zu einer Hungerkatastrophe wird, ist ein politisch geschaffenes Problem und die Regierungen sollten dafür zur Verantwortung gezogen werden. Vor allem, wenn Säuglinge durch ihr Versagen sterben!
Nach der letzten Hungersnot 2012 veröffentlichten afrikanische AutorInnen verschiedener Länder einen Appel mit dem Titel <link rechte-statt-mitleid-fuer-ostafrika-14230>Rechte statt Mitleid. Er behandelte einige strukturelle Ursachen der Hungersnot, etwa Krieg, Klimawandel, Lebensmittelspekulation und Landraub. Wie passt dies Ihrer Meinung nach in Ihre Argumentation?
Ressourcenkonflikte können ein Aspekt sein. Wenn tausende Communities um Weideland und Wasser konkurrieren müssen und dieser Konflikt schlecht gehandhabt wird, dann entsteht daraus unter Umständen ein Bürgerkrieg. Auch Viehbestand als Ausdruck von Wohlstand und ethnischer Überlegenheit spielt eine Rolle. Und der Klimawandel öffnet eine neue Ebene in nahezu allen Bereichen, von Gesundheit über natürliche Ressourcen bis hin zu Landwirtschaft. Es verschärft bereits bestehende Schwächen in staatlichen Institutionen und dem Sozialsystem.
Aber auf die afrikanischen Regierungen werden noch viel größere Schwierigkeiten zukommen. Wenn sie nicht in Lage sind, ausreichend Nahrung für die gesamte Bevölkerung zu produzieren, leiden vor allem die vulnerabelsten Gruppen der Gesellschaft.
Die benötigte Neuordnung, die moderne Wirtschaftssysteme voraussetzen, schafft zudem Probleme. Pastoralismus beruht auf der Leistungsfähigkeit nomadisch organisierter Menschen, die wiederrum von freien Flächen, Wasser und Weideland abhängig sind. Mit den Folgen des Klimawandels und der Landspekulationen aufgrund von Mineralien, Öl, Korridoren für Infrastrukturprojekte und Biokraftstoff reduzieren sich diese freien Weideflächen drastisch. Wir müssen sicherstellen, dass die Wirtschaft auf diese neugeschaffenen Realitäten auch reagiert. Wenn einfach Land aufgekauft und das privatisiert wird, was immer Gemeindeland war, dann betrügen wir diese nomadischen Communities um ihr Weideland. Unter den Bedingungen schwindender nutzbarer Flächen durch Klimawandel, welche weniger Raum für Menschen zum Leben zur Verfügung lassen, kann dies eine sehr fragile Situation erschaffen. Und aus dieser wird leicht ein handfester Konflikt - erst ein lokaler, dann ein überregionaler. Und ehe du dich versiehst, bewaffnen sich Menschen und bilden Milizen. Dann ist es zu spät: Der Staat ist nicht mehr in der Lage, die Fall als lokale Krise zu handhaben und es wird ein überregionales Sicherheitsproblem.
Welche Maßnahmen werden gebraucht?
Ich denke, dass gezielte, gut ausgearbeitete Hilfsprojekte einen Schlüsselrolle spielen können, um sozioökonomischen und institutionellen Herausforderungen zu begegnen. Bedenken Sie den Einfluss von Hilfsmaßnahmen auf Säuglingssterblichkeit, auf Bildung, den Zugang zu Wasser und sanitären Anlagen. Gezielte Hilfsmaßnahmen dieser Art können eine erhebliche Rolle spielen, vor allem dann, wenn sie wirklich an die Bedürfnisse der Communities angepasst sind. Unter diesen Bedingungen können sie erheblich zur Reduzierung von Armut und Ungleichheit beitragen. Es kann für diese Gesellschaften Möglichkeiten eröffnen, aus der Subsistenzlebensweise auszubrechen, ohne ihnen notwendigerweise eine bestimmte Richtung zu diktieren oder sie kulturell einzuengen. Es schafft einfach Wahl- und Entscheidungsmöglichkeiten.
Nur Handel an sich löst einfach das Problem nicht, weil die Mehrheit der Afrikaner*innen gar keinen Handel betreiben können uns wollen. Wenn Menschen keinen Zugang zu Alphabetisierungsmaßnahmen haben oder zu angemessener Nahrung und Gesundheitssystemen, dann können sie keinen effizienten Beitrag zur nationalen politischen Agenda ihres Landes leisten.
Und sie haben schon gar nicht die Kraft, ihre Regierungen für die transparente Verwendung von Hilfsgeldern verantwortlich zu machen. Die Regierungen blockieren an dieser Stelle jeden Fortschritt.
Heißt das dann Hilfe ist Hilfe und Handel ist Handel und dabei belassen wir es?
Natürlich sollte es eine Verbindung geben. Aber die besten Handelsverträge nützen nichts, wenn nur ein Bruchteil der Bevölkerung an den Vorteilen des Abkommens profitieren kann. Manchmal braucht es kontinuierliche Hilfsmaßnahmen. Ein Grund, warum Hilfsmaßnahmen so schlecht ankommen, ist meiner Meinung nach der Mangel an Koordination zwischen den nationalen und der globalen Ebene. Oft arbeiten Hilfsorganisationen völlig isoliert voneinander. Und dann entstehen diese kurzfristigen, ineffizienten Projektformate.
Sind die nationalen Regierungen überhaupt handlungsfähig, wenn sie durch die erzwungene Absenkung von Steuern ihrer Mittel beraubt werden?
Die sogenannten Entwicklungsländer müssen so viele Ressourcen mobilisieren können wie sie benötigen, um ihre eigene Entwicklung voran zu treiben. Selbst wenn dies von globalen vergebenen Mitteln abhängt. Eines der Herausforderungen in vielen afrikanischen Ländern ist der Mangel an eigenen Ressourcen, um die Wirtschaft anzukurbeln. Wie können Steuern eingetrieben und private Investitionen zur ökonomischen und infrastrukturellen Entwicklung mobilisiert werden? Und wie regen wir soziale Investitionen an, um unseren Kindern einen Boden zum Leben und zur Entwicklung bieten zu können? Es sind also diese Widersprüche – globale Abkommen und unfaire Handelsauflagen ziehen den nationalen Regierungen das Geld aus der Tasche und nehmen das Essen aus den Mündern der afrikanischen Kinder und verhindern eine Gesundheitsvorsorge, auf die sie Anspruch hätten. In gewisser Weise ist es grob unmoralisch, was auf multilateraler und globaler Ebene geschieht. Denn wenn die Probleme auftreten, dann fragen alle: “So viel Hilfsgelder fließen nach Afrika – warum sieht man denn keine Veränderung?” Ja, man sieht keine Veränderung, weil während mit einer Hand das Geld gegeben wird, wird uns der gleiche Betrag mit der anderen Hand durch unfaire Handelsverträge und ungleiche technische Voraussetzungen wieder genommen.
Dann müssen wir weiter dafür kämpfen das zu verändern!
Ja, das müssen wir allen Regierungen vorwerfen. Unseren Regierungen in Afrika müssen wir vorwerfen, dass sie schlechte Deals machen! Das könnte das einzige sein was wir von Trump lernen können – der weiß wenigstens, wie man Deals macht.
Interview: Anne Jung, Gesundheitsreferentin, medico international
Übersetzung und redaktionelle Bearbeitung: Maria Hartmann, Zentrum für Konfliktforschung Marburg
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