Polen

Zur Lage an der Grenze

31.01.2022   Lesezeit: 9 min

Die humanitäre Krise an der polnisch-belarusischen Grenze dauert nun schon den sechsten Monat in Folge an. Update der Grupa Granica.

Unter schwierigen Bedingungen wir weiter täglich humanitäre, rechtliche und auch medizinische Hilfe. Dank der Mobilisierung der Bevölkerung in der Grenzregion sind wir in der Lage, die Gesundheit und manchmal auch das Leben der Menschen hier zu retten. Als Grupa Granica sind wir seit dem 15. August 2021 im Einsatz, bis heute (28. Januar 2022) sind wir bereits 166 Tage und Nächte ununterbrochen im Kriseninterventionsmodus.

Wir leisten humanitäre und rechtliche Hilfe in Polen, und zwar entlang der gesamten polnisch-belarusischen Grenze, die 418 km lang ist.

Insgesamt haben wir Hilferufe von mindestens 8.600 Personen erhalten. Im Zeitraum vom 15. Oktober 2021 bis 28. Januar 2022 waren darunter mindestens 456 Kinder. Allein in den ersten drei Januarwochen haben wir Hilfeersuchen von mindestens 345 Personen erhalten, darunter 51 Kinder. Es gab sicherlich noch viel mehr Menschen, die Hilfe brauchten. Wir wissen nicht über alle von ihnen Bescheid.

Anzahl der Vermissten, die seit Mitte Oktober von Familienangehörigen gemeldet wurden (nur direkt an die polnische Regierung): über 70.

Anzahl der Vor-Ort-Einsätze für Gruppen, die uns um humanitäre, rechtliche oder medizinische Hilfe baten: 960.

Aufgrund der Bedingungen an der Grenze und der Gewalt der belarussischen und polnischen Beamten bleibt die Arbeit nach wie vor notwendig.

Der Ausnahmezustand und die No-Go-Area auf der polnischen Seite

Der Ausnahmezustand, mit dem die "Einreiseverbotszone" entlang der gesamten Grenze zwischen Polen und Belarus eingeführt wurde, dauerte vom 2. September bis zum 2. Dezember 2021. Nach der polnischen Verfassung ist es nicht möglich, ihn über 60 Tage hinaus zu verlängern. Um diese Einschränkungen zu umgehen, verabschiedete die polnische Regierung am 30. November neue Bestimmungen zur Änderung des Gesetzes über den Schutz der Staatsgrenze. Damit wählte die Regierung den Weg der Umgehung der Verfassung und unternahm einen weiteren Versuch, ihre rechtswidrigen Aktivitäten durch ein weiteres Gesetz zu legalisieren.

Das Gebiet, auf das sich die Verlängerung des Einreiseverbots erstreckt, deckt sich mit dem Gebiet, in dem bis Ende November der Ausnahmezustand in Kraft war. Es umfasst insgesamt 183 Dörfer und Städte. Außerdem kann dieses Gebiet nach den neuen Vorschriften jederzeit erweitert und die Gültigkeit dieser Vorschriften verlängert werden. Humanitäre Organisationen, die Presse, Aktivist*innen und Mediziner*innen dürfen die Zone nach wie vor nicht betreten.

Die neuen gesetzlichen Bestimmungen, die der Presse theoretisch einen größeren Zugang zu der Zone ermöglichen, ähneln in der Praxis der Organisation von Propaganda-"Touren", die nur unter der vollen Kontrolle von Beamt*innen stattfinden können. Wir beobachten mit Besorgnis die Normalisierung dieser Art von Maßnahmen, die für autoritäre Regime und diktatorische Länder charakteristisch sind, in denen das Fehlen von Meinungs- und Pressefreiheit die Norm ist. Die Unfähigkeit, Informationen zuverlässig zu überprüfen, bedeutet einen Verstoß gegen die Grundprinzipien demokratischer Länder. Das derzeitige Vorgehen der Behörden fördert die Verbreitung von Desinformationen und schafft Möglichkeiten, die Angst der Öffentlichkeit zu manipulieren und gleichzeitig schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen zu verschleiern.

Darüber hinaus gibt das Gesetz den Grenzschutzbeamten neue Befugnisse und neue Mittel zur direkten Gewaltausübung (die Beamten werden beispielsweise autorisiert sein, Laubbläser mit betäubenden Substanzen einzusetzen).

Das Urteil des Obersten Gerichtshofs

Am 18. Januar 2022 wurde ein wegweisendes Urteil gefällt. Der Oberste Gerichtshof entschied, dass der Entzug der Möglichkeit, sich im Grenzgebiet aufzuhalten, gegen die polnische Verfassung verstößt und eine unzulässige Einschränkung der Bürgerrechte bedeutet. Daher ist eine solche Einschränkung als rechtswidrig zu betrachten, und niemand kann für einen Verstoß gegen dieses Verbot bestraft werden. Der Oberste Gerichtshof stellt ferner fest, dass es ebenfalls rechtswidrig ist, die Tätigkeit des Polnischen Roten Kreuzes einzuschränken, indem man ihm verbietet, in irgendeinem Teil des Hoheitsgebiets der Republik Polen humanitäre Hilfe zu leisten.

Das Urteil betraf drei Journalist*innen, die für das deutsch-französische Fernsehen ARTE und die französische Presseagentur AFP arbeiten. Sie wurden im September festgenommen: Drei Personen wurden in Handschellen abgeführt, über Nacht auf dem Polizeirevier festgehalten und dann zum Gericht in Sokółka gebracht, weil der Verdacht bestand, dass sie sich in dem Gebiet aufhielten, in dem der Ausnahmezustand herrscht. Während der Festnahme wurden ihnen ihre Ausrüstung, Dokumente und Telefone abgenommen.

In den letzten fünf Monaten haben wir viele Informationen über Versuche der Arbeitsbehinderung und Gewaltanwendung gegen einzelne Journalist*innen, die im Grenzgebiet ihrer beruflichen Tätigkeit nachgehen, erhalten. Wir betonen noch einmal, dass die Politik, die Medien aus dem Notstandsgebiet herauszuhalten, dazu führt, dass die Öffentlichkeit nur Nachrichten erhält, die von den belarussischen Agenturen oder der polnischen Regierung kontrolliert werden. Das Polnische Rote Kreuz ist eine der Organisationen, deren Aufgabe es ist, einzugreifen und das Leben und die Gesundheit der Menschen zu retten. Trotzdem haben weder der polnische noch der internationale Zweig beschlossen, sich zu beteiligen.

Bewachte Haftzentren für Menschen auf der Flucht

Grupa Granica recherchiert auch die Situation in den bewachten Haftanstalten für Menschen auf der Flucht. Die schlechten Bedingungen und das Fehlen effizienter Verfahren führten in den letzten Monaten zu zahlreichen Protesten, einschließlich Hungerstreiks und Selbstmordversuchen. Das bisher am meisten kritisierte Haftzentrum ist das TOSC Wędrzyn. Die Bedingungen dort wurden von den Flüchtenden selbst und unter anderem von einem Vertreter des Nationalen Mechanismus zur Verhütung von Folter sowie Mitgliedern von Nichtregierungsorganisationen als "unmenschlich" bezeichnet.

Die am häufigsten berichteten Probleme in Haftanstalten sind:

  • Überbelegung und schlechte Lebensbedingungen, Rauch in den Zimmern.
  • Mangel an ausreichender medizinischer und psychologischer Betreuung.
  • Einschränkung der Grundrechte auf Informationen in einer Sprache, die die Menschen auf der Flucht verstehen.
  • Das Gefühl der völligen Abhängigkeit, Einschüchterung, Disziplinierung, Entmenschlichung - die Menschen werden mit Nummern bezeichnet.
  • Eingeschränkter Zugang zum Internet, der den Kontakt zu Verwandten und Anwält*innen verhindert.
  • Stress und zusätzliche Traumatisierung, u. a. durch Schüsse und Explosionen. Das TSOC in Węgrzyn befindet sich auf einem aktiven Truppenübungsplatz. Viele der dort internierten Menschen kommen aus Ländern, die von bewaffneten Konflikten betroffen sind, und ihre Unterbringung an einem solchen Ort verstärkt das Kriegstrauma.
  • Geringe Essensrationen.
  • Langes Warten auf die Mahlzeiten - die Insassen müssen vor der Kantine warten, in der Kälte und oft auch im Regen. Es sei daran erinnert, dass viele Insassen weder Schuhe noch warme Kleidung haben.
  • Mangel an angemessenen Bedingungen und Privatsphäre. Die Migrant*innen schlafen in Etagenbetten in überfüllten Räumen, in denen es außer Tischen und Hockern keine weiteren Einrichtungsgegenstände gibt.

Der Bau der Mauer entlang der Grenze zwischen Polen und Belarus

Der Bau der Mauer entlang der polnisch-belarusischen Grenze begann am 25. Januar 2022 und soll mehrere Monate dauern. Die Mauer soll aus Stahl bestehen und mit Stacheldraht überspannt werden.

Der Bau der Mauer würde nicht nur die Menschen auf der Flucht betreffen und bedrohen, die vor Gewalt, Krieg, Verfolgung, Armut und Unterdrückung fliehen. Er würde auch die lokalen Dörfer, Städte und Einwohner*innen betreffen (letztere haben eine Petition gegen die Mauer gestartet). Sie würde auch das Fällen von Bäumen in geschützten Gebieten, den Betrieb von schwerem Gerät rund um die Uhr, Luftverschmutzung und Lärmbelästigung sowie irreversible Schäden an natürlichen und geschützten Gebieten und Lebensräumen, einschließlich des wertvollen Białowieża-Naturwaldes (UNESCO-Kulturerbe) und Natura-2000-Gebiets, mit sich bringen und die Ökokorridore geschützter Tierarten blockieren.

Die Grupa Granica lehnt die Mauer aus humanitären und politischen Gründen, aber auch wegen der enormen Kosten ab. In Zeiten rasant steigender Inflation, weit verbreiteter hoher Preise und der Coronavirus-Pandemie beschließt die Regierung, eine gigantische Summe von bis zu 1,6 Milliarden PLN für eine "Investition" auszugeben, die zum Scheitern verurteilt ist. Zum Scheitern verurteilt, weil keine Mauer je die Migration von Menschen gestoppt hat, die vor Krieg, Armut, Gewalt, Verfolgung oder Folter fliehen.

Die Summe von 1,6 Milliarden Zloty ist mehr als zehnmal so hoch wie das für 2022 geplante Budget des polnischen Ausländeramtes (es soll 160 Millionen Zloty betragen), das in Polen unter anderem für die Durchführung von Verfahren zum internationalen Schutz und die Verwaltung von Flüchtlingszentren zuständig ist. Anstatt Mauern zu bauen, sollte die Regierung öffentliche Mittel für den Aufbau von Institutionen, Ämtern und Organisationen bereitstellen, die über die notwendigen Ressourcen und Kompetenzen verfügen, um eine Migrationspolitik umzusetzen, die die Rechte, die Würde und die Sicherheit von Migrant*innen an die erste Stelle setzt.

Die Forderungen der Grupa Granica

Insbesondere nach dem jüngsten Urteil des Obersten Gerichtshofs rufen wir internationale humanitäre Organisationen und die Medien auf, die Situation zu beobachten und einzugreifen. Der Pseudo-Ausnahmestaat an der Grenze gewährleistet nicht die Sicherheit seiner Bewohner*innen, beeinträchtigt die Freiheit der Medien und infolge seiner Einführung kommt es auch zu zahlreichen Menschenrechtsverletzungen.

Durch die Maßnahmen der polnischen Regierung wird die Last der humanitären Hilfe auf die Schultern der Anwohner*innen des Grenzgebiets, von Aktivist*innen und sozialen Organisationen verlagert, die bisher nicht an der Rettung von Menschenleben beteiligt waren. Wir setzen uns für eine Migrationspolitik ein, die den Schutz des Lebens und der Würde von Migrant*innen gewährleistet.

Wir rufen die polnischen und europäischen Behörden dazu auf,

  • die Gewalt an der Grenze zu beenden, insbesondere appellieren wir an die polnischen Behörden, illegale Abschiebungen aus Polen in die Hände der gewalttätigen belarussischen Beamt*innen und Wachleute zu stoppen
  • die Regeln und Verfahren für die Suche nach internationalem Schutz und Asyl zu beachten
  • die Einreiseverbote in das Grenzgebiet aufzuheben und den freien Zugang für alle humanitären Organisationen, Medien und Beobachter*innen in das Gebiet zu garantieren
  • den Bau der Mauer zu stoppen und das Budget stattdessen in die Integration und vorübergehende Unterbringung der Migrant*innen zu investieren. Anstatt eine Mauer zu bauen, schlagen wir eine Sicherheitspolitik vor, die auf der Achtung der Menschenrechte und der Würde der Menschen und des Ökosystems des Białowieża-Naturwaldes basiert.
  • die Unterbringung von Migranten in bewachten Haftanstalten nur als letztes Mittel in Betracht zu ziehen. Stattdessen müssen alternative und menschlichere Unterbringungsmöglichkeiten geschaffen werden, einschließlich der vorübergehenden Unterbringung in den Wohnungen in ganz Polen.
  • Stoppen Sie die Kriminalisierung der Migration und die Kriminalisierung der humanitären Hilfe durch Drohpropaganda und falsche Behauptungen. Alle Beamt*innen und Strafverfolgungsbehörden müssen sich an die demokratischen Regeln halten und die Gewalt gegen Migrant*innen und Freiwillige der humanitären Hilfe unterlassen. Sie müssen auch aufhören, öffentlich den Diskurs zu (re)produzieren, der Verleumdung und Hass gegen Migrant*innen und diejenigen, die ihnen humanitäre Hilfe leisten, schürt.

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