Afghanistan – mit Sicherheit in die Katastrophe?

19.09.2007   Lesezeit: 9 min

Die Idee des "guten Krieges" ist ein blutiger Irrtum – Kernpunkte eines Strategiewechsels. Der Rundschreiben-Kommentar.

Sechs Jahre nach der Bombardierung Afghanistans ist das Land am Hindukusch wieder das, was es auf leidvolle Weise schon einmal gewesen ist: ein Pufferstaat. War es Ende des 19. Jahrhunderts noch das Britische Empire, das Afghanistan als Trennung zum zaristischen Russland nutzte, sind es heute die hegemonialen Interessen des von den USA geführten Westens, die Afghanistan zu einem Puffer zwischen dem aufstrebenden China, den instabilen asiatischen Republiken der ehemaligen Sowjetunion, den reichen Ölländern und dem politischen Islamismus gemacht haben.

Die afghanische Bevölkerung zählt dabei nur am Rande. Sie ist ebenso unbedeutend wie die wirtschaftliche Entwicklung des Landes. Afghanistan, so der Ökonom Marc Herold von der University of New Hampshire, sei insofern der Prototyp eines "Neo-Kolonialstaates". Im Gegensatz zu den früheren Kolonien, in denen die Kolonialherren wenigstens noch den Versuch einer wirtschaftlichen Entwicklung unternahmen, ziele das Interesse der heutigen Besatzer allein auf die Sicherung eines leeren, von feindlichen Kräften befreiten Raumes. Darüber hinaus aber sei Afghanistan völlig uninteressant.

Harte Worte angesichts all der geleisteten Wiederaufbauhilfe und eines Krieges, der doch im Namen der Menschenrechte geführt worden ist. Die Fakten aber sprechen für sich. Der Krieg gegen den Terror hat Afghanistan nicht sicherer gemacht. Die Frauen wurden nicht befreit. Von sozialer Entwicklung keine Spur. Neben dem Krieg und dem eskalierenden Leid der Zivilbevölkerung sind es vor allem massive soziale und wirtschaftliche Probleme, die die Bewohner Afghanistans heute plagen. Das "neue" neoliberale Wirtschaftsmodell, das die internationalen Berater dem Land verordnet haben, hat die Arbeitslosigkeit auf ein nie gekanntes Ausmaß katapultiert. 50-70% der erwerbsfähigen Bevölkerung sind heute ohne geregeltes Einkommen. Reihenweise mussten Handwerksbetriebe und kleinere Unternehmen schließen, als die Märkte Afghanistans für billige Produkte aus dem Ausland geöffnet wurden. Zigtausende Kinder überleben heute nur, indem sie Abfall durchwühlen, Schuhe putzen oder auf den Straßen betteln.

Die Debatte über den Krieg in Afghanistan hat den Blick für die sozialen Nöte der Afghanen verstellt. Expertenstäbe erwägen sicherheitspolitische Strategien, nicht aber tragfähige Wirtschaftskonzepte. In der globalisierten Wirtschaft spielen die Menschen in Afghanistan ohnehin keine Rolle. Weder als Konsumenten noch als Produzenten sind sie gefragt. Afghanistan ist nicht der Ort, der lukrative Export- und Anlagegeschäfte erwarten lässt – zumindest nicht auf legale Weise. Außer ein paar Trockenfrüchten und Teppichen hat Afghanistan nur eines zu bieten: Opium.

Die rasante Ausweitung des Drogenanbaus aber ist nicht allein der kriminellen Energie und dem skrupellosen Bereicherungsinteresse mafioser Kriegsherren, Politiker und Geschäftemacher geschuldet. Sie ist vor allem Ausdruck der wachsenden Verarmung der Menschen. Solange Drogen den Zugang zu Land, Einkommen und Krediten sichern, ist der Mohnanbau im Kern eine völlig rationale Überlebensstrategie. Gemessen am Drogengeschäft nimmt sich die internationale Hilfe zunehmend mickrig aus. Im letzten Jahr war sie nur noch halb so groß wie der Erlös aus der Opiumproduktion. Für die meisten Afghanen aber macht das ohnehin keinen Unterschied, diente doch das Gros der bereitgestellten Mittel mehr der Legitimation des Krieges als dem Wiederaufbau. Um rasche Erfolge vorweisen zu können, haben die USA das Land mit Straßen, Schulen und Gesundheitsstationen regelrecht zugepflastert. Von einer nachhaltigen Entwicklung und der maßgeblichen Beteiligung der Bevölkerung an Planung und Ausführung des Wiederaufbaus keine Rede. Mitunter haben internationale Bauunternehmen mit ausländischen Arbeitskräften Straßen aus dem Boden gestampft, die schon im Augenblick der Einweihung wieder zu bröckeln begannen.

Natürlich gab und gibt es auch viele ernst gemeinte Wiederaufbaubemühungen. Sie alle leiden darunter, dass ein kohärentes Gesamtkonzept fehlt. Unbestritten ist es ein Erfolg, wenn heute wieder mehr Kinder zur Schule gehen können, doch ist völlig unklar, ob sie jemals einen Job finden werden. Nicht das Vertrauen in soziale Perspektiven beherrscht das Land, sondern ein immer undurchsichtiger werdendes Gestrüpp aus Korruption, Vetternwirtschaft und Rechtsfreiheit, mit dem es die neue, von außen eingesetzte Führungsclique des Landes verstanden hat, sich den Löwenanteil der Hilfsgelder selbst unter den Nagel zu reißen. Vor den Botschaften der Anrainerstaaten bilden sich derweil wieder Schlangen enttäuschter Afghaninnen und Afghanen. Es ist Zeit zu gehen, sagen sie: Zeit, dem Teufelskreis aus Armut, Drogenwirtschaft und Willkür den Rücken zu kehren.

Frieden ist nie das Ergebnis militärischer Auseinandersetzungen. Frieden basiert auf Vertrauen, und genau das haben die Menschen in Afghanistan in den letzten Jahren verloren. Kinder, die den Schutztruppen anfangs noch zugewinkt haben, schmeißen heute Steine. Niemand hatte den Taliban bei ihrer Vertreibung nachgeweint, doch sind es die enttäuschten Hoffnungen und die vielen zivilen Kriegsopfer, die den Unterdrückern von damals heute wieder in die Hände spielen.

Wenn Afghanistan mehr als ein nur billig zu sichernder Pufferstaat werden soll, dann gilt es vor allem, das Vertrauen der Menschen zurückzugewinnen. Mit dem Beharren auf einem Militäreinsatz, der offenkundig gescheitert ist, wird das nicht gelingen. Es ist höchste Zeit zu erkennen, dass die Idee des "guten Krieges" ein blutiger Irrtum ist.

Strategiewechsel

medico hatte mit einem Aufruf, der von Intellektuellen, Wissenschaftlern und Künstlern aus aller Welt, darunter zahlreichen Nobelpreisträgern, unterzeichnet wurde, im Jahr 2001 bereits vor dieser Idee gewarnt. Der Aufruf wandte sich an den Bundestag, gegen eine Beteiligung an dem Militäreinsatz zu stimmen. Weil politische Veränderungen "von unten" kommen müssen, forderten wir gemeinsam mit unseren afghanischen Partnern stattdessen eine entschlossene politische Auseinandersetzung mit den Taliban, so wie auch das widerwärtige Apartheidregime Südafrikas nicht militärisch, sondern politisch in die Knie gezwungen wurde.

An nachhaltigen Veränderungen war den US-geführten Interventionsmächten jedoch nicht gelegen. Es ging um Vergeltung, und dies verlangte einen raschen Sieg über die Taliban. Um selbst keine größeren Verluste in Kauf nehmen zu müssen, machte man gemeinsame Sache mit jenen Warlords und Mujaheddinführern, die Afghanistan in den Jahren des Bürgerkrieges in Schutt und Asche gelegt hatten. Die Niederschlagung der Taliban gelang: Der Teufel wurde mit dem Beelzebub ausgetrieben.

In dieser Situation war es nur zu verständlich, dass unsere Partner, die gerade noch vehement gegen die Bombardierung opponiert hatten, nun die Entsendung von internationalen Schutztruppen verlangten. Damit verbanden sie die Hoffung, den Warlords Einhalt zu gebieten, um an der Idee der Entmilitarisierung des Landes festhalten zu können. Während wir aus deutscher Perspektive weiterhin gegen die Entsendung von Bundeswehrsoldaten waren, beschwerten sich unsere Partner über das viel zu kleine Kontingent. 3.000 deutsche Soldaten erschienen ihnen nicht ausreichend genug, um wirkungsvoll für Schutz – und damit auch für die Entwaffnung und Auflösung jener privaten Milizen zu sorgen, mit denen die Warlords ihre Macht sichern. Das Ergebnis ist bekannt: Auf Druck der USA saßen nicht die Vertreter der afghanischen Zivilgesellschaft am Verhandlungstisch der großen Afghanistan-Konferenz auf dem Bonner Petersberg, sondern eben die Warlords. Versuche, die Milizen zu entwaffnen, misslangen. Sie dienten im Wesentlichen als Verschrottungshilfe für unbrauchbare, veraltete Waffen. Das Protokoll einer ursprünglichen Fehlentwicklung.

Was aber ist jetzt zu tun, wo aufgeklärte demokratische Initiativen, die es in Afghanistan durchaus gibt, zwischen religiösem Fundamentalismus und neoliberaler Gleichgültigkeit zerrieben werden? Was würde passieren, wenn die Soldaten plötzlich abgezogen werden?

Fragen, die wir mit unseren Partnern immer wieder diskutiert haben. Nicht auf alles haben wir eine Antwort gefunden, doch steht für uns außer Frage, dass nicht die Ausweitung des Militäreinsatzes erforderlich ist, sondern ein glaubwürdiger Prozess der Entmilitarisierung. Deshalb sind der Bundestag und die Bundesregierung aufgefordert, einen überzeugenden Zeitplan für einen Abzug der Soldaten vorzulegen. Gerade diejenigen, die es gut mit Afghanistan meinen, müssen erkennen, dass die Zeit für faule Kompromisse vorbei ist. Weder darf es weitere Zugeständnisse an eine offenkundig irregeleitete US-Politik geben, noch sollte das Bemühen um soziale Entwicklung weiter von militärischen Interessen überlagert werden. Denn unter der militärischen Dominanz leidet nicht zuletzt die Wiederaufbauhilfe, auch die unserer Partner, von denen drei Mitarbeiter Anfang August von den Taliban ermordet wurden. Weil die Grenze zwischen dem Militärischen und dem Humanitären verwischt, weil Hilfe mehr und mehr zum legitimatorischen Anhängsel von Sicherheitspolitik wird, sind auch die Wiederaufbauhelfer ins Fadenkreuz der Kampfhandlungen geraten.

Erster Schritt zur Entmilitarisierung Afghanistans ist die Einstellung der "Operation Enduring Freedom" (OEF). Der Bundestag ist aufgefordert, im November gegen eine Verlängerung des OEF-Mandates zu votieren. Die Verlängerung des Mandats der Internationalen Schutztruppen (ISAF), über das der Bundestag schon im Oktober entscheidet, bedarf auf gleich mehrfache Weise der Konditionierung. Unbedingt muss die weitere Beteiligung deutscher Soldaten an den Schutztruppen daran gebunden sein, dass das ISAF-Mandat auf defensive Aufgaben beschränkt wird, dass auch die anderen beteiligten Länder ihre Kriegshandlungen einstellen, dass das ISAF-Kommando wieder der UN unterstellt wird und im November dann tatsächlich der Ausstieg aus OEF beschlossen wird. Mit der Zurückdrängung des Militärischen wird es auch möglich werden, deutlich mehr Mittel dem Wideraufbau und der sozialen Entwicklung zur Verfügung zu stellen. Gegenwärtig werden aus dem Bundeshaushalt mehr als 450 Mio.€ für den Militäreinsatz in Afghanistan ausgegeben, aber nur ein Viertel der Summe für zivile Projekte.

Die Wiederankurbelung der Wirtschaft, die Schaffung von Gerechtigkeit und der Aufbau einer funktionierenden Staatlichkeit aber brauchen viel mehr Geld. Frieden und Entwicklung müssen "von unten" kommen, und dazu bedarf es der Unterstützung vor allem lokaler Dorfstrukturen und des ländlichen Raumes. Notwendig ist die Förderung von Wirtschaftskreisläufen, die Existenzsicherung jenseits der Drogenökonomie zulassen. Die Menschen in Afghanistan müssen spüren, dass am Hindukusch ihre und nicht die Interessen Deutschlands verteidigt werden. Meist sind es ungelöste Konflikte, Streitereien über Wassernutzungsrechte beispielsweise oder unklare Eigentumsfragen, die sich aufschaukeln und schließlich von Warlords, korrupten Provinzpolitikern, kriminellen Banden oder den wieder erstarkten Taliban genutzt werden, um die eigene Macht auszuweiten.

Das Bemühen um Gerechtigkeit darf nicht auf die lange Bank geschoben werden. Das Motto: Peace first, Justice later!, mit dem die afghanische Regierung und die internationalen Berater sich aus der Affäre zu ziehen versuchen, muss scheitern. Wer das Bedürfnis nach Gerechtigkeit ignoriert, sät Straffreiheit und Gewalt. Nur über die Aufarbeitung der kriegerischen Vergangenheit des Landes kann das Vertrauen der Menschen zurückgewonnen werden. Für die Millionen von Kriegsopfern ist es nicht hinnehmbar, dass heute notorische Kriegsverbrecher wieder wichtige politische Ämter bekleiden. Statt des skandalösen Amnestie-Gesetzes, mit dem sich die Warlords Anfang des Jahres selbst amnestiert haben, bedarf es eines Versöhnungsprozesses, der von den Opfern selbst ausgehen muss. Die notwendigen Vorarbeiten hat die unabhängige afghanische Menschenrechtskommission längst geleistet.

Die Mitglieder des deutschen Bundestages sind aufgefordert, für ein aufgeklärtes soziales Experiment zu stimmen, statt mit Sicherheit den Weg in die Katastrophe fortzusetzen.


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