Während der Rest Europas zur Normalität zurückkehrt, ist die Normalität in Europas größtem Flüchtlingslager Moria auf der griechischen Insel Lesbos unverändert düster: Unter unmenschlichen Verhältnissen leben hier noch immer um die 20.000 Geflüchtete, etwa acht Mal so viele wie eigentlich im Camp Platz haben. Die ohnehin unzureichende hygienische, sanitäre und medizinische Versorgung hat sich durch die Corona-Maßnahmen noch zusätzlich verschlechtert: Der kürzlich noch einmal verlängerte Lockdown bedeutet nicht nur, dass die Menschen das Lager auch in den kommenden drei Wochen nicht verlassen dürfen. Auch die Arbeit der Hilfsorganisationen vor Ort und ihre Zusammenarbeit mit dem überlasteten staatlichen Gesundheitssystem sind durch die Einschränkungen noch erheblich erschwert worden.
Doch auch unter diesen widrigen Umständen verliert die medico-Partnerorganisation Stand by me Lesvos das Ziel der Geflüchteten nicht aus den Augen, das Lager irgendwann verlassen und ein unabhängiges Leben in den Aufnahmegesellschaften führen zu können. Grundlagen dafür schafft die Organisation jetzt – und die Freiwilligen verbessern nebenbei die soziale Situation im Lager.
Aus der Not geboren
Stand by me Lesvos wurde 2017 von einheimischen Ehrenamtlichen – vor allem Lehrer*innen und Kleinunternehmer*innen – auf Lesbos gegründet. Doch ohne die aktive Mitarbeit der geflüchteten Freiwilligen wäre ihre Arbeit undenkbar. Gemeinsam ist es ihr Anliegen, der anhaltend desolaten Situation in Moria etwas entgegenzusetzen. Um die Gefahr eines Covid-19-Ausbruchs in Moria bestmöglich einzudämmen, gründete eine Gruppe von Geflüchteten das Moria Corona Awareness Team, das mit medico-Unterstützung wertvolle Informations- und Präventionsarbeit im Lager leistet. Denn ein Ausbruch des Virus hätte verheerende Folgen.
Ein weiteres von medico unterstütztes Projekt ist die Academia von Stand by me Lesvos: ein sicherer Ort in unmittelbarer Nähe zum Camp für informelle Erwachsenenbildung und insbesondere die Stärkung von Frauen. In der Academia arbeiten lokale Bevölkerung, Geflüchtete und internationale Freiwillige zusammen, um Englisch- und Griechischkurse anzubieten und Bewohner*innen des Camps zu Trainer*innen in Erster Hilfe und Konfliktbearbeitung auszubilden. Außerdem bietet eine selbstorganisierte Gruppe von Geflüchteten in den Räumen der Academia oder auch in kleineren Camp-Schulen Sprachkurse an.
Verbesserung der Situation in Moria
Neben den sprachlichen Kompetenzen, die den Geflüchteten in der Academia vermittelt werden, sorgen die etwa 600 Teilnehmer*innen des Programms (je 200 Kinder, Frauen und Männer) als Multiplikator*innen in ihren Familien und sozialen Zusammenhängen auch indirekt für eine Verbesserung des sozialen Gefüges in Moria: Die sehr unterschiedlichen Hintergründe der dort lebenden Menschen, gepaart mit ihrer psychisch und physisch überaus herausfordernden Lebensrealität führen immer wieder zu Spannungen zwischen den verschiedenen Gruppen. Die positive Erfahrung des gemeinsamen Lernens wirkt diesen entgegen.
Das Programm von Stand by me Lesvos läuft vielversprechend an: Die Plätze in den Trainingsseminaren sind unter den Bewohner*innen Morias sehr begehrt, viele streben an, selbst Sprachlehrer*in zu werden, um später die eigene Existenz auch außerhalb des Camps sichern zu können.
Maja Klostermann