Europas Grenzen

Brennpunkt Moria

12.05.2021   Lesezeit: 8 min

Das Flüchtlingslager ist im September 2020 in Flammen aufgegangen. Hat das etwas verändert? Über die Suche nach Worten, Aufmerksamkeitsökonomien und das Lagersystem – Fragen an Ramona Lenz.

Wie hast Du die Nacht vom 8. auf den 9. September 2020 erlebt?

Ich habe abends beim Zubettgehen von dem Feuer im Lager erfahren und bin dann die ganze Nacht über von unseren Partner:innen vor Ort auf dem Laufenden gehalten worden. Wir kooperieren dort mit der griechischen Organisation Stand by me Lesvos und den selbstorganisierten Flüchtlingen des Moria Corona Awareness Team sowie der Moria Academia, die seit Anfang 2020 Corona-Aufklärung, Müllentsorgung, Bildungsarbeit und vieles mehr im Lager selbst in die Hand genommen haben. In der Brandnacht haben mir betroffene Flüchtlinge geschildert, was um sie herum geschieht. Sie haben versucht, Worte für ihre Angst und ihre Wut zu finden, die mich erreichen und über mich auch andere Menschen in Europa. Das alles in der verzweifelten Hoffnung, es ändere sich endlich etwas.

Wie hat medico unmittelbar reagieren können?

Wir haben in den frühen Morgenstunden eine Pressemitteilung verfasst, der übliche Weg, den wir als Menschenrechtsorganisation nach einem solchen Ereignis gehen: die Gelegenheit nutzen, in der sich die mediale Aufmerksamkeit auf die Flüchtlinge in Moria richtet, die Situation mit Eindrücken vor Ort schildern, Probleme und Verantwortliche benennen, politische Forderungen erheben, die über den Moment hinausgehen. Da wir auf Lesbos – und nicht nur dort – selbstorganisierte Flüchtlinge und lokale Initiativen unterstützen und ein Teil unserer Partner:innen im Lager selbst lebt, hatten wir Informationen aus erster Hand. Wir haben auch sofort Spendengelder eingesetzt, um die Flüchtlinge in und um Moria herum mit dem zu unterstützen, was akut gebraucht wurde.

Du sagst, die Menschen aus dem Lager hätten gehofft, der Brand könnte etwas ändern. Du auch?

Bereits am nächsten Tag wurde ich in Radiointerviews gefragt, ob der Brand ein Fanal sein könne, das die Situation der Flüchtlinge grundlegend verbessert. Nach so vielen Jahren Moria, in denen wir uns oft gefragt haben, was eigentlich noch geschehen muss, damit die Zuständigen tatsächlich Verantwortung übernehmen und die Menschen in diesem und den anderen Lagern auf den griechischen Inseln zu ihrem Recht kommen, war meine Hoffnung jedoch von Anfang an gering. Und wenn ich heute die Umstände im neuen Lager sehe, das nach dem Brand auf verseuchtem Grund errichtet wurde, bestätigt sich meine Skepsis: Moria II ist für viele noch schlimmer als das alte Lager. Inzwischen sind sogar die beiden einigermaßen menschenwürdigen Unterkünfte auf Lesbos – Pikpa vor einigen Monaten und das alte Kara Tepe vor kurzem –, in denen besonders vulnerable Menschen Zuflucht gefunden hatten, geräumt worden. Menschen mit Behinderung, chronisch Kranke, schwangere Frauen, Hochbetagte und Trauernde, sie alle wurden in den frühen Morgenstunden abgeholt und in das neue Elendslager gebracht, aus dem kaum noch unabhängig berichtet werden kann. Auch immer mehr anerkannte Flüchtlinge harren hier aus, weil sie keinen anderen Ort haben.

Über die Verhältnisse in Moria ist jahrelang ausführlich berichtet worden. Wie schätzt du diese starke Fokussierung ein: positiv, weil sie die öffentliche Aufmerksamkeit hochgehalten hat, oder eher problematisch, weil sie andere Orte, Lager, Grenzen, Fluchtrouten aus dem Blickfeld drängt?

Hinsichtlich der Aufmerksamkeitsökonomie ist Moria ein besonderer Fall. Das hat sicher nicht zuletzt mit der geographischen Nähe und der Infrastruktur auf der Urlaubsinsel Lesbos zu tun, die sich wie kaum ein anderer Ort für eine „Stippvisite im Elend“ anbietet. Selbst Nachbarinseln wie Samos oder Chios, auf denen die Situation kaum besser ist, können da nicht mithalten. Dass über die Jahre aber weder politisch noch juristisch und auch nicht mithilfe der vergleichsweise umfangreichen Berichterstattung und der Vielzahl von Akteur:innen aus Hilfsorganisationen grundlegend etwas an der Situation in Moria verbessert werden konnte, macht dennoch stutzig. Wir haben deshalb Ende 2020 eine Studie in Auftrag gegeben, die sich kritisch mit dem Moria-Komplex befasst – und zwar nicht nur mit dem Scheitern von Politik und Rechtsprechung, sondern auch mit dem Scheitern der Hilfe. Maximilian Pichl, der Verfasser, kommt darin zu dem Schluss, dass ein Teil der humanitären Hilfe das strukturelle Unrecht des Lagersystems eher stabilisiert statt auf seine Abschaffung hinzuwirken. Shirin Tinnesand, eine Kollegin von unserer Partnerorganisation Stand by me Lesvos, spricht sogar von einer „Goldmine“, weil sich so viele internationale Hilfsorganisationen und Freiwillige, die zum Teil für ihren Einsatz nicht wenig Geld zahlen, auf der Urlaubsinsel tummeln.

Die EU, Menschenrechte und Grenzen: Zwei Studien

Damit Migrant:innen erst gar nicht Europas Außengrenzen erreichen, setzt die EU auch in Herkunfts- und Transitregionen zunehmend auf die Förderung von Rückführungen. Mitte 2020, pünktlich zum Beginn der deutschen EU-Ratspräsidentschaft, publizierte medico international mit Brot für die Welt die von der Migrationsforscherin Jill Alpes durchgeführte Studie „Notfallrückführungen der IOM aus Libyen und Niger“. Sie weist nach, dass die EU im Zuge solcher Programme an den Außengrenzen und in Libyen, Niger und Algerien Menschenrechtsverletzungen in Kauf nimmt. Um politische Verantwortung(slosigkeit) geht es auch in der 2020 von medico beauftragten und im Frühjahr 2021 – fünf Jahre nach dem EU-Türkei-Abkommen – veröffentlichten Studie „Moria-Komplex“: Mit dem Aufbau sogenannter Hotspots an den EU-Außengrenzen ist Autor Maximilian Pichl zufolge ein Lager-System entstanden,in dem systematisch Geflüchtete entrechtet und Menschenrechte verletzt werden.

Mehr unter www.medico.de/migration

Du hast eben die „Suche nach Worten“ erwähnt, die „Europa erreichen“ können. Auch du hast oft über Moria geschrieben und öffentlich gesprochen. Stößt Aufklärung an eine Grenze, wenn alles bekannt ist, dies aber folgenlos bleibt? Ist Moria gar „auserzählt“?

Ein großer Teil meiner Arbeit wie auch der meiner Kolleg:innen besteht darin, Worte zu finden. Worte, die andere bewegen, am besten dazu bewegen, etwas zu ändern am Unrecht, das wir beschreiben und gegen das wir als Hilfsorganisation antreten. Wenn sich aber über Jahre hinweg nichts zum Besseren ändert, gehen mir die Worte manchmal aus. Dann frage ich mich durchaus, ob etwas „auserzählt“ ist in dem Sinne, dass Worte nichts ausrichten werden. Gerade bei Moria ging mir das schon oft so. Wahrscheinlich kann kaum jemand in Deutschland behaupten, sie oder er wisse nichts vom Unrecht und Elend, dem die Menschen dort ausgeliefert sind. Dennoch ist längst nicht alles aufgeklärt, was den Moria-Komplex so persistent macht. Die Studie von Maximilian Pichl bringt da einiges zutage, was selbst Fachleute nicht wussten. Sachliche Aufklärung ist und bleibt enorm wichtig, auch wenn man damit weniger Leute erreicht als mit effekthascherischer Empörungsbewirtschaftung. Viel wichtiger als die Beschreibung des Elends ist es, die politischen Verantwortlichkeiten und Zusammenhänge zu beleuchten, die weit über Moria hinausgehen.

Das schließt an meine vorhergehende Fragen an: Über Moria lässt sich auch ein größeres Bild der Migrationspolitik zeichnen.

Ja. Für uns ist das Interesse an Moria immer auch Gelegenheit, auf die Situation von Flüchtlingen an anderen Orten zu verweisen, die deutlich weniger Aufmerksamkeit bekommen, aber aufgrund derselben Politik in einer ebenso ausweglosen Lage sind. Was als EU-Türkei-Deal bekannt geworden ist und zur Etablierung des Hotspotsystems auf den griechischen Inseln beigetragen hat, ist auch in Bezug auf Abkommen mit afrikanischen Ländern zu beobachten, die die EU in ihre Politik des vorgelagerten Grenzschutzes einbindet. Länder Nordafrikas und der Sahelzone sind ebenso wie die Türkei zu Türstehern Europas geworden, die uns das Elend der Welt vom Leib halten sollen und dabei das Leid von Menschen auf der Flucht vergrößern. An vielen Orten der Welt werden Lagerstrukturen zur Aufbewahrung der Unerwünschten auf Dauer gestellt, sei es in Bangladesch, Kenia oder im Libanon. Moria ist nur die Spitze des Eisbergs.

Obwohl die Verhältnisse wie eingefroren wirken, verändern sich Mittel und Wege der Migrierenden ebenso wie Strategien der Abschottung. Welche Verschiebungen in der europäischen Migrationspolitik in den letzten Jahren hältst du für zentral?

Es hat viele Gesetzesverschärfungen gegeben, die für Flüchtlinge eine Anerkennung in Europa erschweren. Dazu gehören in Deutschland die Asylpakete I und II und das Geordnete-Rückkehr-Gesetz, das als Hau-Ab-Gesetz treffender beschrieben ist. Auch in Griechenland wurde mit Inkrafttreten eines neuen Asylgesetzes Anfang 2020 die Lage für Flüchtlinge unsicherer. Die Stoßrichtung ist dieselbe: Die Anerkennung von erhöhter Schutzbedürftigkeit wird erschwert, die Unterbringung in „besonderen Aufnahmeeinrichtungen“ ausgeweitet und Abschiebungen werden erleichtert. Auch die EU wendet sich mit ihrem im September 2020 vorgestellten Asyl-und Migrationspakt weiter von denen ab, die in Europa Schutz und Teilhabe suchen, indem sie verstärkt auf grenznahe Internierung und Schnellverfahren setzt und damit letztlich das Modell Moria ausweitet und institutionalisiert. Während das Mandat der europäischen Grenzschutzagentur Frontex, der vorgeworfen wird, in brutale Pushbacks involviert zu sein, ausgeweitet wird, wird die kritische Zivilgesellschaft – seien es Journalist:innen, die unabhängig berichten wollen, oder Aktivist:innen, die Flüchtlinge unterstützen – in ihrer Arbeit stärker beschnitten. Umso erfreulicher ist es zu beobachten, dass nicht nur die Seebrücke-Bewegung in Deutschland, sondern auch das transnationale WatchTheMed-Alarmphone und viele andere unbeirrt an ihrer Kritik der EU-Politik und ihrer Solidarität mit Flüchtlingen festhalten.

Ramona Lenz ist seit vielen Jahren in der Öffentlichkeitsarbeit bei medico tätig, seit 2015 als Referentin für Flucht und Migration. Seit Anfang 2021 ist sie Sprecherin der medico-Stiftung.

Die Fragen stellte Christian Sälzer.


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