Griechenland

Einen Schritt vor den nächsten setzen

22.09.2022   Lesezeit: 11 min

Rechtsberatung für Geflüchtete und Engagement gegen die Kriminalisierung. Ein Gespräch mit der Anwältin Lorraine Leete.

Seit 2016 bietet das Legal Center Lesbos Geflüchteten, die über den Seeweg aus der Türkei nach Lesbos kommen, kostenlose und individuelle Rechtsberatung an und geht gegen die Kriminalisierung vor. Eine kräftezehrendes abarbeiten am aktuellen Grenzregime. Seit kurzem wird ihre Arbeit durch medico international unterstützt. Ein Gespräch mit der Anwältin Lorraine Leete.

medico: Danke, dass du dir Zeit für das Gespräch nimmst. Das „Legal Center Lesbos“ arbeitet auf Lesbos, um die Rechte von Asylsuchenden zu verteidigen. Woraus besteht eure tägliche Arbeit?

Lorraine Leete: Wir sind ein Team von Anwält:innen, die Migrant:innen durch direkte Beratung, Rechtsvertretung, aber auch durch Dokumentationen, Berichte und eigene Klagen darin unterstützen, gegen systematische Verletzungen ihrer Rechte vorzugehen.

Über die letzten sechs Jahre hat sich unsere Arbeit immer wieder verändert und an die unterschiedlichen Situationen hier auf der Insel aber auch an die verschiedenen Ebenen der europäischen Politik angepasst. Von Anfang an haben wir zwei Schwerpunkte: erstens, den Migrant:innen, die hier aus der Türkei ankommen, rechtliche Beratung anzubieten. Für diejenigen, die es schaffen aus der Türkei hierherzukommen, ist das Asylverfahren der einzig legale Weg der Migration. Unser zweiter Schwerpunkt ist von Anfang an die Dokumentation, das Anprangern und das Eintreten gegen die inhärent gewalttätige Grenzpolitik, von denen die Asylverfahren ein Teil sind. Wir hatten also von Anfang an das politische Ziel, ein Rechtszentrum zu eröffnen, das sich gegen die Schließung der Grenzen und für die Rechte der Migrant:innen einsetzt.

Seit März 2020 sind illegale Pushbacks von Asylsuchenden Alltag auf den griechischen Inseln geworden, nicht nur auf Lesbos. Das „Legal Center Lesbos“ hat das in mehreren ausführlichen Berichten dokumentiert und kämpft auch auf einer rechtlichen Ebene gegen die Pushbacks. Ihr habt erst kürzlich eine gebündelte Klage gegen diese Praxis beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt. Worum geht es bei diesen Fällen und was hofft ihr damit zu erreichen?

Wir haben fünf separate Fälle gegen Griechenland eingereicht und vertreten Menschen, die gewaltsam von Griechenland in die Türkei zurückgepusht wurden. Zwei dieser Fälle gingen mittlerweile in die zweite Instanz. Das Gericht hat anerkannt, dass es ausreichend Beweise und auch Argumente gibt, den Fall weiter zu verfolgen und die griechische Regierung musste bereits auf die Fakten und Anschuldigungen reagieren, die wir erhoben haben. In einem der Fälle vertreten wir elf Menschen, die im Oktober 2020 Teil eines massiven Pushbacks südlich von Kreta waren. Das Schiff befand sich in diesem Fall in einer Notlage. Die Menschen kontaktierten die griechische Küstenwache, weil sie in einen Sturm geraten waren. Ihnen wurde jedoch nicht geholfen, sondern im Gegenteil, sie wurden von mehreren Schiffen der griechischen Küstenwache angegriffen, zum Umkehren gezwungen und zur 200 Kilometer entfernten türkischen Küste zurück transportiert. Dort wurden sie auf Rettungsinseln ohne Motor zurückgelassen, bis sie schließlich von der türkischen Küstenwache aufgenommen wurden. Diese Menschen wurden gewaltsam angegriffen, obwohl man ihnen versichert hatte, dass sie gerettet werden würden. Man drohte ihnen, sie zu töten, wenn sie erneut versuchten, nach Griechenland zu kommen, man hielt sie an Bord von Schiffen der Küstenwache fest, schlug sie und nahm ihnen all ihr Hab und Gut. Ich denke, es ist wichtig, diese Details hervorzuheben, denn es ist nicht so, dass die Menschen einfach über die Grenze zurückgepusht werden, sondern dass sie dabei auch noch misshandelt werden.

Außerdem ist es wichtig zu benennen was es bedeutet, wenn die Menschen zurück in der Türkei sind. In diesem Fall waren mehrere der Geflüchteten gezwungen nach Syrien zurückzukehren, wo ihnen Verfolgung droht. Sie hatten einfach nicht die Mittel in der Türkei zu bleiben. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat in diesem Fall das erste Mal anerkannt – und das ist wichtig für alle Geflüchteten –, dass den Menschen dieser Pushback tatsächlich so passiert ist, denn der griechische Staat bestreitet konsequent, dass diese überhaupt stattfinden. Eine öffentliche gerichtliche Anerkennung, dass Griechenland Pushbacks durchführt, ist deshalb auch politisch wesentlich. Aber auch auf individualrechtlicher Ebene ist dies wichtig: wenn Griechenland die Rechte von Menschen verletzt, sind sie berechtigt eine finanzielle Entschädigung zu erhalten. Natürlich kann Geld niemanden zurückbringen und es ist nur schwer zu beziffern wie viel Geld man bekommen sollte, wenn man gefoltert und gezwungen wird in das Land zurückzukehren aus dem man fliehen musste. Aber immerhin ist es eine monetäre Entschädigung. Erst letzten Monat gab es einen Fall, der gegen Griechenland entschieden wurde, wegen eines Schiffsunglücks, das nach Ansicht der Kläger:innen von der griechischen Küstenwache verursacht wurde und bei dem mehrere Menschen ums Leben kamen. Über fünf Jahre später ist Griechenland jetzt für diesen Angriff verurteilt worden. Ich denke, auch wenn es kleine Schritte sind, tragen solche Entscheidungen dazu bei, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Ihr beschreibt eure Arbeit mit einem starken Fokus auf juristische Auseinandersetzungen. Vielleicht ist die Frage etwas provokant, aber macht es überhaupt Sinn auf einer solchen Ebene zu kämpfen, wenn viele Entscheidungen der Gerichte einfach ignoriert werden?

Für uns ist zentral, dass die Entscheidungen des Gerichts in einem politischen Kontext getroffen werden. Natürlich ist es für unsere Klient:innen wichtig eine individuelle Anerkennung zu bekommen, eine Entschädigung für das, was sie verloren haben. Aber ich denke, dass Gerichtsverfahren auch zu einer allgemeinen Rechenschaftspflicht beitragen, selbst wenn sie jetzt nicht direkt zu einer Änderung der Politik führen. Ich denke, die vielen verschiedenen Ebenen addieren sich und zusammen mit den Aktionen sozialer Bewegungen und anderer Akteur:innen können sie zu einer Veränderung führen.

Viele Geflüchtete, die es nach Lesbos schaffen, werden des Menschenhandels beschuldigt und oft zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Das „Legal Center“ hat viele dieser Menschen vor Gericht verteidigt. Kannst du über deine Erfahrungen mit solchen Fällen berichten?

Wir haben einige dieser Fälle begleitet, in dem Wissen, dass die Angeklagten meist schuldig gesprochen werden. Die Politik Menschen anzuklagen und zu kriminalisieren, denen man unterstellt, dass sie das Boot aus der Türkei gesteuert haben, ist Teil einer allgemeinen Abschreckungspolitik. Ergänzt wird sie von den schrecklichen Bedingungen in den Lagern, der Einsperrung auf den Inseln und der Inhaftierungspolitik die bereits in der Vergangenheit betrieben wurde. Auch die Art und Weise der Asylverfahren sind Bestandteil davon, denn sie sind mit zahlreichen Verfahrensproblemen behaftet, die den Zugang zum Asyl in vielen Schritten blockieren. Die Kriminalisierung als Schleuser ist also nur ein Aspekt der Grenzsicherung und der Aufrechterhaltung der Festung Europa und des Versuchs Menschen von der Einreise abzuhalten. Die Anti-Schleuser-Gesetzgebung ist in Griechenland dabei sehr weit gefasst. Allein der auf Hören-Sagen beruhende Vorwurf, das Boot zwischen der Türkei und Griechenland gesteuert zu haben, reicht häufig für eine Verurteilung. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie selbst Geflüchtete sind oder ob sie das Steuer übernommen haben, um andere Menschen an Bord zu retten. Allein die Tatsache, dass sie das Boot gesteuert haben, reicht aus, um verurteilt zu werden. Aber diese Menschen sind keine Schleuser. Die Prozesse werden einfach als Strafmaßnahme dagegen eingesetzt, dass Menschen hierher kommen.

Würdet ihr das als Teil einer größeren Kampagne betrachten, um Migrant:innen zu kriminalisieren?

Kriminalisierung beobachten wir nicht nur in diesen Fällen, sondern sehen sie auch in der kollektiven Bestrafung von migrantischen Gruppen, die sich gemeinsam gegen repressive staatliche Maßnahmen organisieren. Die eingeschränkte Bewegungsfreiheit außerhalb der Lager oder die pauschalen Ablehnungen im Asylverfahren haben zu vielen organisierten Protesten geführt: die Migrant:innen wehren sich gegen die Gewalt des Staates, der sie sich ausgesetzt sehen. Was dann in diesen Fällen passiert, ist, dass Menschen zufällig rausgegriffen und verhaftet werden, weil davon ausgegangen wird, sie hätten die Proteste oder Aufstände ausgelöst. Unseren Beobachtungen nach gibt es in quasi in keinen dieser Fälle dafür konkrete Beweise. Es handelt sich hierbei um Abschreckungsmaßnahmen: willkürliche Bestrafung, um Menschen davon abzuhalten sich dieser Politik zu widersetzen. Dass die zweitgrößte Gruppe, die in griechischen Gefängnissen sitzt, Menschen sind, denen Menschenhandel vorgeworfen wird, macht diesen Zusammenhang deutlich.

Im Juni war Mary Lawlor, UN-Sonderberichterstatterin für zehn Tage in Griechenland. Sie war auch auf Lesbos. In ihrem Abschlussbericht übernahm Lawlor euren Appell, die griechische Gesetzeslage und Anti-Schleuserei-Paragraphen auf eine Linie mit den UN-Protokollen zu bringen. Worin besteht der Unterschied?

Das UN-Protokoll über Schlepperei sagt ganz klar, dass es sich um Schleusung handelt, wenn man Menschen über Grenzen transportiert, um einen materiellen Gewinn zu erzielen. Es gibt eine Ausnahme für Migrant:innen und eine Ausnahme für Personen, die humanitäre Hilfe leisten. All dies fehlt in den griechischen Rechtsvorschriften, was die Verfolgung von Geflüchteten selbst ermöglicht, die nur versuchen sich in Sicherheit zu bringen. Und es hat auch zur Verfolgung von Menschenrechtsaktivist:innen und humanitären Helfer:innen beigetragen, die sich für die Migrant:innen einsetzen, nachdem diese die Grenzen bereits überquert haben. Diese werden  dann auf der Grundlage des griechischen Schmuggel-Gesetzes angeklagt.

Seit 2020 haben sich deswegen viele Unterstützungsstrukturen von der Insel zurückgezogen. In einem Bericht, den ihr an Lawlor geschickt habt, schreibt ihr: "Wir arbeiten weiterhin unter ständiger Bedrohung der Kriminalisierung und Strafverfolgung, in einem Klima, in dem viele humanitäre und Menschenrechtsakteure:innen angesichts des Risikos von Verhaftung und Strafverfolgung nicht eingreifen" Steht ihr auch selbst im Fokus staatlicher Repression? Wie geht ihr damit um?

Bekannt ist vielen Menschen, dass die griechische Küstenwache Boote abfängt, sie daran hindert griechische Inseln zu erreichen und sie in die Türkei zurückdrängt. Aber auch wenn es Geflüchteten gelingt die griechischen Inseln zu erreichen, bedeutet das nicht automatisch, dass sie in Griechenland Asyl beantragen können. Wenn die Menschen auf den Inseln ankommen, sind sie immer noch dem Risiko ausgesetzt gejagt, angegriffen und zur griechischen Küstenwache zurückgebracht zu werden, die sie dann auf Rettungsinseln im offenen Meer aussetzt. Auf diesem Weg sind bereits mehrere Menschen ums Leben gekommen. Wenn Migrant:innen auf den Inseln ankommen, haben sie deswegen Angst aufgegriffen zu werden. Viele von ihnen sind schon mehrmals zurück gepusht worden. Nach ihrer Ankunft verstecken sie sich deswegen und versuchen zum Lager zu kommen, um sich dort zu registrieren. Das sind oft sehr gefährliche Situationen. Wenn sich also Menschen in dieser Situation an uns wenden um rechtlichen Beistand und ein Asylverfahren zu erhalten, dann werden wir als Anwält:innen aktiv.

Natürlich müssen wir die Risiken ständig neu bewerten, ohne wirklich zu wissen, welcher Art von Überwachung wir ausgesetzt sind, ohne wirklich zu wissen, ob Untersuchungen gegen uns laufen. Unsere Strategie bestand von Anfang an darin die Arbeit, die wir leisten, transparent zu gestalten. Wir sind eine juristische Organisation, Anwält:innen, die Menschen Rechtsbeistand leisten. Wir haben den Staaten, den Behörden und dem UNHCR gegenüber sehr deutlich gemacht, dass wir das nur tun, wenn sich Menschen an uns wenden und um Hilfe bitten. Wir gehen nicht über unsere Rolle als Anwält:innen hinaus. Das soll nicht heißen, dass es nicht immer noch ein Risiko gibt. Und wir wissen nicht, ob wir irgendwann in der Zukunft aufgrund der gleichen Anti-Schmuggel-Gesetzgebung für unsere Arbeit angeklagt werden. Aber es war für uns nie eine Frage ob, sondern nur wie wir als Anwält:innen reagieren können. Wenn sich Menschen in extrem gefährlichen Situationen, in denen sie entführt, angegriffen, ins Meer geworfen und getötet werden könnten, mit der Bitte um Rechtsbeistand an uns wenden, werden wir immer handeln um die Rechte dieser Menschen zu schützen.

Es gibt Berichte die schildern, dass Geflüchtete ertrunken sind, weil sie von der griechischen Küstenwache mit Handschellen ins Meer geworfen wurden.

Bisher gibt es keine direkten Zeugenaussagen von Menschen, die das miterlebt haben. Diese Praxis wird ganz bewusst auf eine Art und Weise durchgeführt, die jegliche Beweise beseitigt, oft von Personen, die nicht einmal Uniformen tragen oder anders erkenntlich sind. Den Betroffenen werden alle Habseligkeiten weggenommen, einschließlich ihrer Handys, die in der Regel das einzige Mittel sind um zu dokumentieren und konkrete Beweise für das zu erbringen, was mit ihnen geschieht. In den angesprochenen Extrem fällen in denen Menschen ins Meer geworfen werden, gibt es nur sehr selten Überlebende, die dies später bezeugen können. Es ist entsetzlich.

Was für Kämpfe kommen in der nächsten Zeit auf uns zu? Und wie kann man sie aus eurer Sicht am besten führen?

Man muss schon Optimist:in sein, um langfristig in diesem Bereich zu arbeiten. Und gleichzeitig auch als Realist:in die Hoffnung auf tatsächliche Veränderungsmöglichkeiten nicht aufgeben. Ich denke, dass mit der Massenzustromrichtlinie in Bezug auf ukrainische Geflüchtete jetzt der Moment gekommen ist, auf eine Veränderung auf breiter politischer Ebene zu drängen. Der ukrainische Fall zeigt, dass es einen Weg gibt, Migration zu legalisieren und zu regulieren, wenn der politische Wille vorhanden ist. Die Politik, die den Ukrainer:innen in ganz Europa einen vorübergehenden Schutzstatus gewährte, hat die Diskriminierung anderer Nationalitäten prägnant offengelegt. Dies ist ein wichtiger Moment, um auch für andere Personengruppen ähnliche Verfahren zu fordern. Ich habe nicht die Hoffnung, dass dies kurzfristig geschehen wird, aber ich denke, es ist wichtig, einen Schritt vor den nächsten zu setzen.

Das Interview führten Kerem Schamberger und Valeria Hänsel.

Lorraine Leete ist Anwältin und arbeitet im Lesbos Legal Center.


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