Nie wieder Moria! Das hört man nicht nur von der Seebrücke-Bewegung, die unermüdlich für die Aufnahme von Flüchtlingen aus dem Mittelmeer und aus griechischen Hotspots in Deutschland eintritt, sondern auch aus Brüssel. Kurz nachdem das berüchtigte Flüchtlingslager auf Lesbos abgebrannt war, verkündete die EU-Kommission die Grundzüge ihres neuen Asyl- und Migrationspaktes. So etwas wie Moria solle es nie wieder geben, hieß es.
Tausende von Menschen waren über Jahre hinweg unter desolaten Bedingungen in Moria untergebracht – und die EU hat es hingenommen. Sie hat es hingenommen, dass die griechische Regierung die Millionen aus Brüssel nicht für eine angemessene Versorgung von Flüchtlingen einsetzte – und nicht nur das: Sie hat auf die abschreckende Wirkung des vielfach beschriebenen und skandalisierten Elendslagers gesetzt.
Nun, nachdem das Lager ohne Zutun der EU nicht mehr existiert, ist es nicht nur scheinheilig zu sagen, man wolle keine neuen Morias mehr. Es ist schlicht gelogen. Eine Lüge in die Gesichter der Menschen, die seit Jahren im Elend des Lagers lebten und es schließlich abfackelten, weil das Leben dort durch das Coronavirus noch unerträglicher geworden war. Anstatt die Menschen vor der Pandemie zu schützen, verhängte man Ausgangssperren über die Hotspots, die auch dann noch fortdauerten als alle anderen in Griechenland sich längst wieder frei bewegen durften. Stay at home muss für Menschen ohne Zuhause wie Hohn klingen. Nun leben die meisten der Flüchtlinge und Migrant_innen aus Moria in einem neu errichteten Lager wenige Kilometer entfernt. Gelockt hat man sie mit dem Versprechen, hier werde es ihnen besser gehen. Doch die Bedingungen dort sind mindestens genauso elend wie in Moria. Die Lügen der EU sind damit aber noch nicht zu Ende.
Vieles von dem, was die EU in ihrem neuen Asyl- und Migrationspakt als Paradigmenwechsel ankündigt, ist alter Wein in neuen Schläuchen. Ist Moria hoch 10! Im alten wie im neuen Moria-Lager sowie in den Hotspots auf den anderen griechischen Inseln wird seit Jahren die möglichst restriktive Gestalt des europäischen Grenzregimes erprobt, auf Kosten der Menschenrechte. Maximale Abschottung, Internierung ohne Straftatbestand und möglichst schnelle Rückführung ohne gründliche Prüfung des Asylantrags – all das wurde in den letzten Jahren in der Ägäis und auf den griechischen Inseln praktiziert. Und all das sieht auch der neue Asyl- und Migrationspakt der EU vor. Damit wird kein Wandel in der Flüchtlingspolitik vollzogen, sondern Europa wendet sich weiter von den Menschen ab, die an seinen Außengrenzen Zuflucht suchen. Solidarität kommt in dem Pakt dementsprechend nur zwischen Staaten vor – und zwar in Form von so genannten „Abschiebepatenschaften“, mit denen sich aufnahmeunwillige Länder freikaufen können. Statt Flüchtlinge aufzunehmen, unterstützen sie andere EU-Länder bei Abschiebungen. Kann man den Begriff der Solidarität mehr missbrauchen?
Der neue EU-Flüchtlings- und Migrationspakt, der eine Unterbringung in geschlossenen Lagern während laufender Verfahren, eine Aufwertung der an Pushbacks beteiligten Grenzschutzagentur Frontex sowie eine verstärkte Zusammenarbeit mit Drittländern ohne hinreichenden Flüchtlingsschutz vorsieht, wird Menschenrechtsverletzungen nicht verhindern, sondern weiter ermöglichen.
Dieser fortgesetzten Entsolidarisierung mit Menschen auf der Flucht müssen wir weiter die Aufnahmebereitschaft deutscher Städte und Kommunen entgegenhalten. Doch damit dürfen wir uns nicht begnügen. Die gelegentlich als humanitäres Spektakel inszenierte Aufnahme einiger weniger besonders schutzbedürftiger Flüchtlinge, bevorzugt kranker Kinder, in Deutschland darf uns nicht drüber hinwegtäuschen, dass die EU und die Bundesregierung gleichzeitig die Entrechtung der Menschen an den Außengrenzen weiter vorantreiben. Nur wer nachweisen kann, besonders schutzbedürftig zu sein, hat eine Chance. Maßstab für den Umgang mit Flüchtlingen und Migrant_innen in Europa müssen jedoch wieder die Rechte dieser Menschen werden – und nicht länger ihre Vulnerabilität.