Moria-Komplex

Politik der Auslagerung

17.03.2021   Lesezeit: 8 min

Das Lager- und Entrechtungssystem hat eine neue Qualität erreicht. Eine Bilanz nach 5 Jahren "EU-Türkei-Deal". Von Maximilian Pichl.

Am 20. März 2021 jährt sich zum fünften Mal das Inkrafttreten des EU-Türkei-Abkommens, das - zwei Tage zuvor, am 18. März 2016- beschlossen wurde. Die EU und die europäischen Mitgliedstaaten verfolgten mit diesem Abkommen das Ziel, die Überfahrten von Geflüchteten über die Ägäis zu unterbinden. Zur gleichen Zeit entstanden auf den griechischen Inseln Lagerkomplexe, die schnell überfüllt waren und in denen bis heute menschenunwürdige Zustände herrschen, was häufig als humanitäre Katastrophe bezeichnet wird. Folglich kam es auf den Inseln zu einer für europäische Verhältnisse beispiellosen humanitären Intervention, von internationalen Organisationen wie dem UNHCR bis zu zahllosen privaten Hilfsorganisationen. Doch Moria und die übrigen Lager auf den griechischen Inseln sind nicht das Ergebnis einer quasi von außen kommenden, unvorhergesehenen Katastrophe, sondern von einer Politik der Auslagerung, die die europäische Migrationskontrollpolitik seit nunmehr 30 Jahren kennzeichnet. Und auch nach dem Niederbrennen des alten Lagers bei Moria auf Lesbos im vergangenen Jahr besteht der Moria-Komplex fort.

Ein unsolidarisches Aufnahmesystem

Seit 30 Jahren verfolgen die europäischen Innenministerien in der Migrationskontrollpolitik ein Ziel: Auf dem Papier soll das individuelle Asylrecht, das unter anderem in Art. 18 der EU-Grundrechtecharta normiert ist, erhalten bleiben. Aber faktisch sollen Geflüchtete keinen Zugang zu einem vollwertigen Asylverfahren erhalten. Auch die Politik der Auslagerung reicht zurück zu den Ursprüngen des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems. Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre verhandelten die EU-Mitgliedstaaten über europäische Asylregeln. Konflikte entstanden rund um die sogenannte Dublin-Verordnung. In ihr ist bis heute geregelt, wo Asylsuchende in der EU ihr Asylverfahren durchlaufen müssen. Ein EU-Mitgliedstaat wird unter anderem verantwortlich für das Asylverfahren, wenn er nicht verhindert, dass eine Asylsuchende oder ein Asylsuchender illegal europäisches Territorium betritt. Schon bei der ursprünglichen Beschlussfassung über die Dublin-Verordnung kritisierten die Regierungen von Italien und Griechenland vehement dieses unsolidarische Aufnahmesystem, mussten aber letzten Endes unter dem Druck der zentraleuropäischen und in der EU dominanten Staaten den Regeln zustimmen. Die Befürworter*innen einer rigorosen Grenzabschottung aus Staaten wie Frankreich, Großbritannien und Deutschland setzten sich durch.

Die Außengrenzenstaaten versuchen seither, die Verantwortung der Flüchtlingsaufnahme, die Zentraleuropa ihnen alleine aufbürdet, durch bilaterale Abkommen an außereuropäische Drittstaaten weiterzuschieben. Auf Griechenland hatte die Politik der Auslagerung massive Auswirkungen. Weil die Grenzabkommen im Mittelmeer, z.B. zwischen Italien und Libyen, zeitweilig funktionierten, verlagerten sich die Fluchtrouten von Geflüchteten zum Ende der 2000er-Jahre hin immer stärker nach Griechenland, einem traditionellen Auswanderungsland, das weder über ein Asylgesetz noch ein funktionsfähiges Aufnahmesystem verfügte. Geflüchtete wurden bei ihrer Ankunft zum Teil willkürlich inhaftiert und menschenunwürdigen Aufnahmebedingungen ausgesetzt. Schon damals stand die Insel Lesbos im Fokus. Im dortigen Lager Pagani gab es besonders schwere Vorfälle von unmenschlicher Behandlung, auch gegenüber minderjährigen Geflüchteten. Die griechische Regierung schloss das Lager Ende 2009 nach einem Hungerstreik von Geflüchteten und gestiegenem öffentlichem Druck. Auch in den folgenden Jahren war Griechenland ein Hauptankunftsland für Geflüchtete, die nach Europa flohen, ohne dass sich die Aufnahmebedingungen nennenswert verbessert hätten. Die griechische Regierung reagierte auf die Ankünfte zunehmend mit Repressionen in Form von brutalen Push-Backs, zunächst vor allem in der Evros-Region. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte und später auch der Europäische Gerichtshof beurteilten im Jahr 2011 Rückführungen von Asylsuchenden nach Griechenland im Rahmen der Dubliner-Verordnung als europa- und völkerrechtswidrig.

Wöchentlich Zehntausende

Die Niederschlagung der Aufstände, die im Westen „Arabischer Frühling“ genannt werden, die weltweite Eskalation in Kriegs- und Krisenregionen und die Reduzierung der Mittel für die materielle Versorgung von Flüchtlingscamps in benachbarten Regionen durch die internationale Gemeinschaft, sorgten ab 2014/15 für eine beispiellose Zunahme der Flüchtlingsbewegungen nach Europa. Über die Türkei flohen wöchentlich zehntausende Menschen auf die griechischen Inseln in der Ägäis. Die griechische Regierung unter der linken Partei Syriza stellte für kurze Zeit die Push-Back-Operationen der Vorgängerregierungen ein. Auf diese Weise gelang es noch mehr Menschen, die Inseln zu erreichen und von dort nach Zentraleuropa weiter zu fliehen.

Dass auf den griechischen Inseln seit 2016 Lager zur Festsetzung und Inhaftierung von Schutzsuchenden entstanden, reiht sich ein in eine jahrzehntelange Politik der Auslagerung von Migrationskontrollen, bei der Griechenland stets als Stellvertreter für die Interessen der zentraleuropäischen Mitgliedstaaten herhalten musste. Bilaterale Abkommen, Hotspots und Abschiebehaftanstalten, wie sie auf Chios, Kos, Lesbos und Samos auf Drängen der EU installiert wurden, waren keine prinzipiell neuen Instrumente der Migrationskontrollpolitik. Und doch hat das Lager- und Entrechtungssystem des „Moria-Komplexes“ eine neue Qualität angenommen.

Aus Registrierungszentren werden Gefängnisse

Die EU und die Mitgliedstaaten reagierten auf die Flüchtlingsbewegungen von 2015 mit dem Versuch, die offensichtlich gescheiterte Politik der Auslagerung zu wiederholen. Donald Tusk, der damalige EU-Ratspräsident sagte, die „Tage der irregulären Einwanderung“ seien vorbei. Mit der Türkei als wichtigstem Transitland wurde eine Vereinbarung gefunden, die die Rückführung von Geflüchteten in die Türkei vorsah, im Gegenzug sollten im Rahmen eines 1:1-Mechanismus ausschließlich syrische Geflüchtete in der EU aufgenommen werden. Durch den „EU-Türkei-Deal“ und den europäischen Hotspot-Ansatz wandelten sich die griechischen Registrierungszentren auf den Inseln in Gefängnisse.

Lager, wie sie daraufhin auf den griechischen Inseln entstanden sind, existierten (und existieren) bereits in ähnlicher Form in außereuropäischen Drittstaaten wie Mauretanien oder Tunesien. Bisher war es der EU gelungen, sie vom europäischen Territorium fernzuhalten. In neokolonialer Ignoranz interessierte sich die europäische Öffentlichkeit kaum für die geographisch weit entfernten Lager. Der Hotspot-Ansatz war ein Versuch, vor allem der zentraleuropäischen Staaten, mit dem Problem umzugehen, dass sich die Politik der Auslagerung offensichtlich als nicht effektiv und stabil erwiesen hatte. Anstatt Flüchtlinge in den Drittstaaten in Lagern zu kasernieren, sollten sie nun an den europäischen Außengrenzen aufgehalten werden. Es macht allerdings einen Unterschied, ob ein solches Lager im Globalen Süden existiert oder in Europa, das ein europäisches Flüchtlingsrecht mit entsprechenden Aufnahmestandards und Verfahrensrechten etabliert hat. Deshalb werden die Hotspots auf den griechischen Inseln von der Politik gerade nicht wie Lager auf einem europäischen Territorium behandelt, sondern wie die Lager außerhalb der EU. Würde sich die EU wirklich an den selbstgesetzten Menschenrechten orientieren, dürfte sie ein solches Lagersystem nicht aufrechterhalten oder dulden.

Eigentlich haben Flüchtlinge und Asylsuchende aus der Genfer Flüchtlingskonvention und der EU-Aufnahmerichtlinie ein ganzes Bündel von Rechten, die den Zuständen auf den Inseln und den Lagern entgegenstehen. Das Problem ist: Es ist kaum möglich, sie juristisch durchzusetzen. Damit Rechte wirksam werden können, müssen sie eingefordert werden; und dafür braucht es Ressourcen und einen Zugang zu Rechtsverfahren. Die griechischen Behörden zeigen sich aber geschickt darin, Verfahren von grundsätzlicher Bedeutung vor den Gerichten frühzeitig zu verhindern und die Umsetzung erfolgreicher Klagen zu blockieren. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat im Januar 2021 tatsächlich ein Verfahren von acht Geflüchteten aus Lagern auf vier Inseln zugelassen und Fragen an die griechische Regierung übersandt. Auch wenn dies einen juristischen Zwischenerfolg darstellt, ist es durch dieses Verfahren weiterhin nicht möglich, die EU selbst für die Zustände auf den Inseln verantwortlich zu machen – Griechenland würde einmal mehr als Stellvertreter abgestraft werden. Und selbst wenn der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über die Zustände in den Lagern zu urteilen hätte, wäre eine Entscheidung wohl erst in drei Jahren zu erwarten. Das Urteil würde dann eine Situation betreffen, die nicht mehr existiert, Bedingungen in Lagern anprangern, die es nicht mehr gibt.

Der eigentliche Kontrollverlust

Fünf Jahre nach dem „EU-Türkei-Deal“ und der Einführung der Hotspots lässt sich konstatieren: Die Politik der Auslagerung hat auf den griechischen Inseln eine Unzuständigkeitsstruktur und eine systematische Verantwortungslosigkeit der politischen Akteur*innen hervorgebracht. Verantwortlichkeiten müssen jedoch klar benannt werden: die Verantwortung der EU, die auf den Inseln den Hotspot-Ansatz durchgesetzt hat und dort mit der Europäischen Asylbehörde und Frontex direkt aktiv ist; die Verantwortung der deutschen Bundesregierung und anderer zentraleuropäischer Mitgliedstaaten, die den „EU-Türkei-Deal“ wesentlich vorangetrieben haben und legale Wege für Geflüchtete von den Inseln versperren; die Verantwortung der griechischen Regierung, die das Lager als Zuständige betreibt und nichts an den unmenschlichen Zuständen ändert; und schließlich die Verantwortung einiger privater Hilfsorganisationen, die durch ein fragwürdiges Engagement das Lagersystem stützen anstatt es zu kritisieren und an seiner Überwindung mitzuwirken.

Man muss letzten Endes nicht einmal eine menschenrechtsbasierte Argumentation bemühen, um festzustellen, dass das Lagersystem und der Deal nie funktioniert haben. Auch aus Sicht von Akteur*innen, die ein Interesse an Ordnung, Kontrolle und einer guten Verwaltung haben, sind der „EU-Türkei-Deal“ und die EU-Hotspots ein einziger Fehlschlag. Während quer durch alle politischen Parteien der „Sommer der Migration“ mit einem angeblichen Kontrollverlust gleichgesetzt wird, und der Satz „2015 darf sich nicht wiederholen“ zu einem zentralen politischen Mantra avancierte, stellt die Politik der Auslagerung mit ihren verheerenden Folgen auf den griechischen Inseln den eigentlichen Kontrollverlust dar. Das Narrativ, es handele sich bei den Zuständen auf Moria um eine „humanitäre Katastrophe“ verdeckt, dass der „Moria-Komplex“ Ergebnis politischer Entscheidungen und Kalküls ist, und versperrt die Möglichkeit, die Rechte von Geflüchteten ins Zentrum der gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu stellen.

Der Text enthält Auszüge aus der Studie „Der Moria-Komplex: Verantwortungslosigkeit, Unzuständigkeit und Entrechtung fünf Jahre nach dem „EU-Türkei-Deal“ und der Einführung des Hotspot-Systems“, die der Autor im Auftrag von medico durchgeführt hat. Die vollständige Studie findet sich hier: www.medico.de/moria

Maximilian Pichl

Maximilian Pichl, Rechts- und Politikwissenschaftler, arbeitet als Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Goethe-Universität Frankfurt/M.


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