Migration

Auf der Sklavenroute

20.11.2019   Lesezeit: 7 min

Immer mehr Migrierende aus Afrika wählen die Route über den Atlantik. Doch auf dem Weg Richtung USA entpuppt sich Mexiko als Falle.

„Das ist unser Tapachula“, seufzt Defesa, während sie zwischen Zelten umhergeht und das Abendessen vorbereitet. Zusammen mit 1.200 Menschen harrt die junge Angolanerin seit Anfang September 2019 in einem aus der nackten Not errichteten Zeltlager am Stadtrand aus. Eigentlich wollte sie längst in den USA sein. Doch nun steckt sie mit rund 3.000 anderen Geflüchteten aus afrikanischen Ländern in Tapachula fest, der kleinen mexikanischen Stadt mit dem schlechten Ruf, rund 20 Kilometer entfernt von der Grenze zu Guatemala. Menschen aus Angola, Togo oder Kongo. Charles stammt aus Ghana. In seiner Niedergeschlagenheit spricht er leise. „Wir werden nicht so behandelt, als seien wir Menschen.“ Charles hat sein Zuhause verlassen, nachdem sein homosexueller Bruder ermordet worden war. Zwei Monate war er unterwegs, alleine einen Monat hat er in einer Gruppe für den gefährlichsten Abschnitt gebraucht, die Grenze zwischen Kolumbien und Panama. „Viele afrikanische Körper sind im Dschungel geblieben.“ Wilde Tiere, Krankheiten, das organisierte Verbrechen. „Wir wussten, was auf uns wartet. Aber wir sind gezwungen, unsere Länder zu verlassen.“

Was aber lässt die Menschen ausgerechnet den weiten Weg über den Atlantik wählen? Die Route nach Europa sei zu gefährlich geworden, meinen viele. Und zu teuer. Deshalb haben sie sich für Mittelamerika entschieden, in der Hoffnung, sich bis in die USA durchschlagen zu können. Es ist, als würde die Zeit rückwärtslaufen: Im 21. Jahrhundert folgen Menschen aus Afrika der einstigen Sklavenroute nach Amerika. Mit dem Flieger sind sie nach Brasilien oder Ecuador gekommen, die einzigen Länder, für die sie kein Visum brauchen. Von dort geht es weiter gen Norden. Im mexikanischen Südosten aber hat ihr Weg ein abruptes Ende genommen.

Ein folternder Raum

Direkt hinter den Zelten verläuft die Mauer der Migrationsstation Siglo XXI. Das „21. Jahrhundert“ offenbart sich als elender Ort, als Lager, überfüllt, dreckig, unmenschlich. Das Zentrum gegen Straflosigkeit und Folter CCTI aus Mexiko-Stadt nannte die Station jüngst einen „folternden Raum“, der systematisch die UN-Folterkonvention von Istanbul verletzt und in den Migrant*innen hinein gezwungen werden: Wer von der Migrationsbehörde INM oder dem Militär ohne gültige Papiere aufgegriffen wird, wird hierher verfrachtet und muss mindestens drei Wochen durchstehen. Bis vor Kurzem bestand die Möglichkeit, nach der Haft ein spezielles Ausreisedokument zu beantragen. Wenn die Nationalität der Person nicht festgestellt werden konnte oder kein Abschiebeabkommen mit dem Heimatland existiert, musste man Mexiko zwar innerhalb von 20 Tagen verlassen – offen blieb allerdings, über welche Grenze wohin. Das war eine Chance für all jene, die in das, wie sie es nennen, Land der Schwarzen wollen, die USA. Doch im Juli wurde auch dieses bürokratische Schlupfloch geschlossen. Wer heute in Tapachula strandet, ist um wenige Wochen zu spät gekommen. Daher bevölkern die Menschen die Zeltstadt. Aus Protest. Aus Verzweiflung. Aus Alternativlosigkeit.

An Orten wie Tapachula materialisiert sich, was in Washington bestimmt wurde. El Norte duldet keine weiteren Migrationsbewegungen aus dem Süden. Unter Druck und Drohungen von US-Präsident Donald Trump ordnet sein mexikanischer Amtskollege Andrés Manuel López Obrador seit Juni 2019 die Migrationspolitik seines Landes neu. Dazu gehören die Abschaffung eben jenes Ausreisedokuments und die Entsendung von 10.000 Soldat*innen der Nationalgarde in den Grenzbundesstaat Chiapas. Die Geflüchteten stecken in einer Sackgasse, die transatlantischen aus Afrika ebenso wie die Abertausenden Mittelamerikaner*innen. Zurück wollen sie nicht. Vorwärts können sie nicht. Also harren sie aus – sofern sie nicht abgeschoben werden.

El Norte macht Druck

Es sind etliche, die sich der Abschiebung nicht haben entziehen können. Von den 122.556 Migrant*innen aus Mittelamerika, die von den Migrationsbehörden zwischen Januar und August 2019 im Zuge ihres irregulären Grenzübertritts erfasst wurden, sind 93.073 deportiert. worden, allein nach Honduras über 50.000. Ab April nahmen die Festnahmen schlagartig zu – just in jenen Tagen, in denen Donald Trump Mexiko mit horrenden Handelszöllen drohte. Während die USA auch Afrikaner*innen verstärkt abschieben, ist Mexiko zurückhaltender. Ein Grund: Bislang gibt es keine Rückführungsabkommen mit den jeweiligen Herkunftsländern. Das aber kann sich bald ändern.

Die restriktivere Politik zeichnet sich auf den Fluchtrouten ab: Sie verschieben sich. Die Migrierenden nehmen noch unsichere und gefährlichere Wege über die Berge in Kauf. Unlängst berichtete die medico-Partnerorganisation La72, eine Migrant*innenherberge im Bundesstaat Tabasco, wieder einmal von Entführungsfällen. Das ist keine Seltenheit. Zeitgleich wird die Herberge selbst zunehmend zur Zielscheibe repressiver Maßnahmen. Immer häufiger kommen Polizei oder Militär vorbei, immer stärker wird ihre solidarische Arbeit diffamiert.

Das kollabierte Recht

Vorläufig haben aus Afrika Migrierte keine andere Option, als in Mexiko auszuharren. Unter dem Druck der USA ist aus dem einstigen Transitland eine Sackgasse geworden. Wer bleiben möchte, hat die Möglichkeit, einen Asylantrag zu stellen oder ein temporäres Visum aus humanitären Gründen zu beantragen. Die Aussichten für einen positiven Bescheid und den Status eines Geflüchteten sind gar nicht schlecht. Trotzdem weigern sich die meisten. Denn wird der Antrag gestattet, hat man das Recht verwirkt, in Zukunft einen Antrag in den USA zu stellen – das eigentliche Ziel wäre aufgegeben. „Vielen ist auch gar nicht klar, dass ihre Situation und die Lebensumstände hier alle Kriterien für die Bewilligung des Antrags erfüllen“, erklärt Kristin Halvorsen vom UN-Flüchtlingswerk. „Da sie niemals in einem Kontext ohne Gewalt gelebt haben, erscheint ihnen ihre Situation als normal“, so Halvorsen. Zu den zentralen Aufgaben des UNHCR gehört es daher, die Geflüchteten über ihre Rechte und Möglichkeiten aufzuklären. Es vermittelt sogar Arbeitsplätze in der mexikanischen Maquila-Industrie.

Unterminiert werden die formellen Rechte zudem durch die bürokratische Praxis. Vor Alma Delia Cruz Márquez liegt ein hoher Stapel Anträge. Die Leiterin des Büros Tapachula der staatlichen Asylbehörde COMAR ist überlastet. Und nicht nur sie, die komplette Bundesbehörde ist heillos überfordert. „Unser Budget beträgt 1,2 Millionen Euro. Wir bräuchten aber das Vierfache“, lässt die Beamtin durchblicken. Die Folge: Die Wartezeiten werden immer länger. Allein acht Wochen verstreichen, bis die COMAR einen Antrag aufgenommen hat. Laut Gesetz haben die Behörden danach 55 bis 100 Arbeitstage Zeit, die Anfrage zu beantworten. In der Regel dauert es länger. Wenn, was bei vielen afrikanischen Migrant*innen oft vorkommt, in Schreiben der Behörden Personen- und Ländernamen falsch geschrieben sind, vergeht noch viel mehr Zeit. Durch die mangelnde Ausstattung der Behörden passiert in den meisten Fällen jedoch gar nichts. Von 69 Anträgen von Afrikaner*innen wurden lediglich zwei bewilligt, bei den 12.381 Anträgen von Mittelamerikaner*innen sieht es nicht viel besser aus. Doch auch abgelehnt wurden noch nicht viele. Die meisten Anträge werden einfach nicht bearbeitet.

Cruz Márquez vermutet, dass die Masse der Anträge erst noch kommen wird: „Viele Leute im Camp wollen diesen Antrag nicht stellen. Aber irgendwann werden sie es tun, weil ihnen schlicht die Mittel fehlen, um noch länger durchzuhalten.“ Zwar unterstützt das UNHCR die Antragsteller*innen drei Monate lang jeweils mit rund 117 Euro, doch weder die Höhe noch die Dauer sind ausreichend. Die permanente Ohnmacht der Geflüchteten gegenüber einem undurchsichtigen Verwaltungsapparat zermürbt die Menschen. Bis zum Jahresende 2019 könnten die Anträge auf 80.000 steigen. Das wären vierzig Mal so viel wie noch vor fünf Jahren.

Über dem Camp in Tapachula brauen sich dunkle Wolken zusammen. Es ist Regenzeit. Blacky kehrt aus der Stadt zurück. In aller Frühe hat sich der Kongolese heute dorthin aufgemacht, um Arbeit zu suchen. Wieder einmal vergeblich. „Wir leiden. Wir haben kein Geld mehr,“ stößt er verbittert aus. Weil nicht alle ein Zelt haben, schlafen viele auf dem Boden unter freiem Himmel. Weil es auch nachts regnet, stellen sie sich unter einer Plane zusammen. Um nicht nass zu werden, versuchen die Menschen im Stehen zu schlafen. Die ersten Tropfen fallen. Hektisch suchen alle nach Schutz. Ein paar Hundert Meter weiter wird auf einem Tennisplatz der letzte Ball geschlagen. Das Viertel, in dem die Menschen verzweifelt ausharren und sich an die Hoffnung klammern, doch irgendwann und irgendwie in die USA gelangen zu können, heißt Las Vegas.
 

Seit 2010 unterstützt medico international die Arbeit der Migrantenherberge „La 72“ in Tenosique, nahe der guatemaltekischen Grenze. Ebenso lange fördern wir die Arbeit des Movimiento Migrante Mesoamericano, das Mütter verschwundener Migrantinnen und Migranten bei der Suche nach ihren Angehörigen unterstützt und das Thema in Mexiko sichtbar macht.

Spendenstichwort: Mexiko


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2019. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Timo Dorsch (Foto: medico)

Timo Dorsch ist medico-Pressereferent und für die Öffentlichkeitsarbeit zu Südamerika zuständig. 

Twitter: @TiD00r


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