Am 24. August vor zehn Jahren wurden in San Fernando im mexikanischen Bundesstaat Tamaulipas die Leichen von 72 Menschen gefunden. Wenige Tage vorher waren die 58 Männer und 14 Frauen aus Brasilien, Nicaragua, Ecuador, Honduras, Guatemala, El Salvador und Indien auf ihrem Weg zur US-Grenze dem Zeta-Kartell in die Hände gefallen. Wie abertausende andere Migrant*innen bis heute waren auch sie leichte Beute für die Kartelle im Drogenkrieg. Migrant*innen in Mexiko werden ausgebeutet, versklavt, erpresst, prostituiert, verstümmelt und ermordet. Ein nicht enden wollendes Blutbad.
Die 72 weigerten sich, mit dem Kartell zu kollaborieren und noch einmal für die Fahrt an die Grenze zu zahlen. Daraufhin verbanden die Entführer ihren Opfern die Augen, zwangen sie auf den Boden und erschossen sie. Der 18jährige Luis Freddy aus Ecuador konnte mit einer Schussverletzung im Nacken flüchten, weil die Mörder ihn für tot gehalten hatten. „Alle sind tot“, sagte er, als er um 7 Uhr morgens einen 22 Kilometer entfernten Militärposten erreichte. Er starb im Krankenhaus an seinen Verletzungen. Das ausrückende Militär tötete drei Kartell-Mitglieder, ein Soldat starb. Zwei Tage später verschwanden ein Polizist und ein Staatsanwalt, die mit dem Fall betraut waren. Ihre enthaupteten Leichen wurden in der Nähe des Tatorts entdeckt. Die Identität eines später gefundenen weiteren Überlebenden wurde aus Angst um sein Leben geheim gehalten. In den acht Monaten, die auf das Massaker von San Fernando folgten, wurden in 47 weiteren Massengräbern die Leichen von 196 Menschen gefunden – nur in diesem Ort.
Dass Migrant*innen derart leichte Beute für das organisierte Verbrechen sind, hat auch mit der Kriminalisierung der Migration in Mexiko zu tun und das wiederum mit dem starken Druck der USA, die Durchreise von Menschen auf der Flucht vor Gewalt und Armut zu verunmöglichen. Die Kriminalisierung zwingt die Menschen in die Unsichtbarkeit und damit in die Gewalt des organisierten Verbrechens. „Mit dem Krieg gegen die Drogenkartelle ist die Migration dem organisierten Verbrechen übergeben worden“, sagt Marta Sánchez Soler von der mexikanischen medico-Partnerorganisation Movimiento Migrante Mesoamericano. Im Dezember 2006 hatte die mexikanische Regierung unter Felipe Calderón den „Krieg gegen die Kartelle“ ausgerufen, der das Land in den Abgrund katapultiert hat. Heute scheinen Schätzungen von 200.000 Opfern realistisch. Auch die Zahl der Verschwundenen geht in die Zehntausende. Entführungen, Erpressungen, Morde und Vergewaltigungen von und an Migrant*innen sind seit 2006 exponentiell angestiegen, sie sind leichte Opfer für die Kartelle. Die Nationale Menschenrechtskommission CNDH geht von an die 20.000 Menschen aus Zentralamerika aus, die auf ihrem Weg durch Mexiko jedes Jahr spurlos verschwinden. Das Movimiento Migrante Mesoamericano, das medico seit langem unterstützt, hilft Angehörigen bei der schwierigen Suche und organisiert dazu jedes Jahr eine Karawane der Mütter verschwundener Migrant*innen durch Mexiko.
Im Süden Mexikos unterstützt medico international seit vielen Jahren die Herberge „La 72“, benannt nach den Opfern des Massakers von San Fernando. Hier finden Menschen eine Unterkunft, psychosoziale Beratung und Unterstützung bei der Planung ihres weiteren Weges – Richtung Norden oder mit der Stellung eines Asylantrags in Mexiko. Das Erinnern an die Opfer der Gewalt gegen Migrant*innen ist in der „72“ ebenso präsent wie ihre Selbstermächtigung, das Recht auf ein besseres Leben in die eigenen Hände zu nehmen.
Das Video wird erst nach dem Anklicken geladen. Dazu baut ihr Browser eine direkte Verbindung zu Youtube-Servern auf. Mehr Informationen erhalten Sie in unserer Datenschutzerklärung.