435 Kilometer. So weit ist die mexikanisch-guatemaltekische Grenze von der Stadt Juchitán im Bundesstaat Oaxaca entfernt. 435 Kilometer haben der 30-jährige Jaime und seine 22-jährige Frau Marlene bereits mit ihren kleinen Kindern Isaia und Naomi auf mexikanischem Boden zurückgelegt. Ihr Ziel sind die USA, die noch immer 2.500 Kilometer entfernt sind. Zusammen mit sechs anderen Erwachsenen und einem weiteren Kind haben sie vor einigen Wochen in Usulután in El Salvador alles stehen und liegen gelassen, um sich der Karawane der Menschen aus Honduras anzuschließen, die Mitte Oktober 2018 in San Pedro Sula gestartet war. Inzwischen umfasst sie rund 7.000 Menschen, zwei weitere große Gruppen folgen. Nach Stationen in Chiapas und kleineren Orten in Oaxaca ist die Karawane am 30. Oktober in Juchitán de Zaragoza angekommen. Schon bevor ich in die Propellermaschine steige, die zwei Mal täglich von Mexiko-Stadt nach Juchitán fliegt, werde ich von einem Kollegen gewarnt, der in Oaxaca lebt: Die Stadt ist eine der gefährlichsten Mexikos, die Mordrate ist fast 80-mal so hoch wie in Deutschland und übertrifft selbst die Zahlen in den mittelamerikanischen Ländern, aus denen die Menschen der Karawane flüchten. Die Gewalt mag in Juchitán allgegenwärtig sein, sichtbar ist sie auf den ersten Blick nicht. Vor allem nicht in dem improvisierten Camp, das die Stadtverwaltung auf dem Gelände des nie fertiggestellten neuen Busbahnhofs errichtet hat. Tausende Menschen nutzen hier jeden sich bietenden Schatten. Vor der sengenden Sonne und Temperaturen bis zu 35 Grad suchen die Menschen Schutz, wo immer er sich bietet: unter selbst gebastelten Tarps aus Plane, unter viele Meter langen Zeltbahnen, in den Durchgängen des Bus-Terminals. Da sind Familien, händchenhaltende Paare, Gruppen und allein Reisende. Bei fast allen sind die Schuhe längst abgenutzt und die Füße mit Blasen übersät.
Friseursalon im Lkw
Zum ersten Mal seit ihrem Aufbruch werden die Menschen hier improvisiert, aber professionell versorgt. Es gibt eine Ambulanz und eine Apotheke, die Stadtverwaltung liefert Wasser für die Duschen und um das Wenige, das die Menschen mit sich haben, zu waschen. Immer wieder bilden sich lange Schlangen vor Pick-Ups, von denen Essen oder Hygieneartikel verteilt werden. Fast immer ist es eine lange aus jungen Männern und eine kürzere aus Frauen und Kindern. Auch wenn es manchmal nur um ein kleines Sandwich geht, diszipliniert warten sie auf die Ausgabe, rufen immer wieder „¡fila!“ („Stell dich in die Reihe!“), wenn jemand vorzudrängeln versucht. Einige junge Männer spielen Fußball, andere Karten. Die Kinder werden von einer NGO mit Hula-Hoop-Reifen versorgt. Im Laderaum eines LKW ist ein Friseursalon eingerichtet.
Der 24-jährige Yesman aus Honduras sitzt in einem Durchgang des Bus-Terminals. Sein Ziel, wie das Ziel aller hier, sind die USA, ganz gleich, wo dort. Yesman, der sich den Witz nicht nehmen lässt, seinen Namen ins Spanische zu übersetzen („Si, Señor“) erzählt, dass er von den Maras – die berüchtigten mittelamerikanischen Banden – in San Pedro Sula bedroht worden ist, nachdem sie ihn als Späher anwerben wollten. Hals über Kopf ließ er seine Frau und seinen dreijährigen Sohn zurück. Hinzu kommt, dass sein Einkommen nach einem langen Arbeitstag an einer Kartonmaschine einfach nicht zum Leben für eine Familie gereicht habe. Auf die Karawane ist er über die Medien aufmerksam geworden. Wer den Aufruf zum gemeinsamen Aufbruch gestartet hat, bleibt im Dunkeln. Spekulationen gibt es viele: Bis hin zu der These, dass die CIA dahintersteckt, um Trump Futter für den Midterm-Wahlkampf zu geben. Doch selbst wenn: Die Verdichtung der massenhaften Migration aus Mittelamerika zu einer großen Karawane schafft eine Öffentlichkeit für die Lage in den Ländern des „Triángulo Norte“ Honduras, Guatemala und El Salvador, wie sie selten geworden ist.
Verdopplung der Migration
In Juchitán haben die Menschen das erste Mal seit dem Übertritt der mexikanischen Grenze einen vollen Tag Auszeit. Die meisten nutzen ihn zur Erholung von den Strapazen der langen Fußmärsche. Wer wirklich Langeweile hat, kann sich bei den ebenfalls gelangweilt herumsitzenden Leuten des Grupo Beta, den good cops der Migrationspolizei, über die Möglichkeiten der Rückreise ins Herkunftsland informieren. In manchen Artikeln war zu lesen, dass bereits bis zu 2.000 Menschen davon Gebrauch gemacht haben. Aber Edgar Corzo, Beauftragter für Migration bei der mexikanischen Men schenrechtskommission CNDH, meint, es seien eher nur 500 umgekehrt, weil sie selbst oder ihre Kinder nicht mehr durchgehalten haben. Corzo sieht die große Mehrheit als extrem entschlossen. Sie könnten einfach nicht zurück, zu groß sei das Elend, zu real die Bedrohung. Sogar Amputierte, Menschen im Rollstuhl und Schwangere machten sich auf den beschwerlichen Weg. Karawane? Marta Sánchez Soler von der medico-Partnerorganisation Movimiento Migrante Mesoamericano (M3) nennt es einen Exodus. 2017 haben laut UNHCR 294.000 Menschen aus Guatemala, Honduras und El Salvador in den benachbarten Ländern und den USA eine Anerkennung als Flüchtling beantragt, doppelt so viele wie im Vorjahr – und 16-mal so viele wie noch 2011.
„Ich steckte in einer Sackgasse“, erzählt Jaime. Weil er im salvadorianischen Militär gelernt habe, wollten die Maras ihn zwingen, ihre Leute an der Waffe auszubilden. „Vor die Wahl gestellt zwischen der Todesstrafe wegen Landesverrats und dem sicheren Tod, wenn ich mich geweigert hätte, entschieden wir uns für die Flucht“, sagt er. Die ökonomische Situation der Familie – Jaime verdiente in der Herstellung von Baumaterialien knapp zehn Dollar pro Tag – erleichterte die Entscheidung. Jetzt sind Jaime und Marlene mit ihren Kindern und Freunden unterwegs. In einem Buggy und einem Rucksack stecken vor allem Kinderkleidung und eine Erste-Hilfe-Tasche. Stolz erzählt Jaime, dass er sowas wie der Sanitäter ihrer kleinen Gruppe ist. Die Medikamente haben sie gemeinsam gekauft. Jaimes Geschichte ähnelt der von Yesman – und der vieler anderer. Immer wieder nennen die Menschen die gleichen zwei Gründe, die sie zum Aufbruch bewogen haben: die Perspektivlosigkeit aufgrund der ausweglosen ökonomischen Situation in Mittelamerika und die Bedrohung durch die extrem gewalttätigen Gangs. Wie sollte man hier unterscheiden können zwischen denen, die aufgrund von Verfolgung fliehen, und jenen, die wegen der Perspektivlosigkeit migrieren?
Die Gruppe bietet Schutz
Auch die 58-jährige Gloria Argentina aus dem honduranischen San Pedro Sula hat sich mit ihrem Mann und ihrer 14-jährigen Tochter spontan der Karawane angeschlossen: „In den Nachrichten haben wir davon gehört. Den ganzen Tag über haben wir überlegt, ob wir es wagen sollen. Abends sind wir schließlich in den Bus gestiegen und der Karawane hinterhergefahren.“ Seitdem die Maras vor einigen Jahren versucht hatten, ihren Sohn zu rekrutieren und er in die USA geflohen ist, sei die Familie als intern Vertriebene in Honduras von einer Stadt zur nächsten gezogen. „Wir hatten immer Angst“, sagt Gloria Argentina. Zur Polizei seien sie nicht gegangen, man wisse schließlich, dass viele dort mit den Banden zusammenarbeiten. Auch bei ihr kommt die ökonomische Ausweglosigkeit hinzu: „Unser Land bietet keine Zukunft. Das ändert sich nicht, selbst wenn eine Regierung gute Intentionen hat.“ Der Karawane hat sich Gloria Argentina deshalb angeschlossen, weil die Reise so sicherer ist als allein. Die Alternative hat sie noch vor Augen: Ihr Sohn wurde auf seiner Reise von einem „coyote“, einem Schmuggler, ausgesetzt und dann von einer Schlange gebissen. Von der gemeinsamen Reise in der Karawane versprechen sich alle das gleiche: Schutz und gegenseitige Hilfe.
Dass das funktioniert, bestätigt Marcelino Nolasco vom Menschenrechtszentrum von Tepayec: „Die große Gruppe wird von der Migra, der Polizei zur Bekämpfung der sogenannten illegalen Einwanderung, in Ruhe gelassen. Gefährdet sind die Eiligen, die dem Tross vorausgehen, und diejenigen, die aufgrund von Verletzungen, Behinderungen oder Kindern zu langsam sind.“ Um letztere kümmert sich Marcelino mit einer Gruppe aus verschiedenen sozialen Organisationen, die die Karawane in Oaxaca begleiten. Die Aktivistinnen und Aktivisten verfassen zudem tägliche Berichte und konfrontieren die Behörden mit Forderungen. Wenn gerade keine größere Karawane den Isthmus – also die schmalste Stelle Mexikos – durchquert, klärt Marcelinos Organisation hier über die Menschenrechte auf und verteidigt das Territorium gegen Megaprojekte. Seit fast zwanzig Jahren bedeutet das auf der Pazifikseite des Isthmus, gegen Konzerne zu kämpfen, die die starken Winde in der Region für riesige Windkraftparks nutzen. „Nichts davon kommt uns zugute“, sagt Marcelino. „Die Gemeinden können nicht wachsen, weil sie von den Parks umgeben sind, der ausgetrocknete Boden taugt nicht mehr für die Landwirtschaft und der Strom ist ohnehin nur Exportgut.“
„Solidarität hat auf dem Isthmus Tradition. Jetzt kommt sie den Migrantinnen und Migranten zugute.“
Nach den verheerenden Erdbeben vom September 2017 sind in Juchitán noch immer viele Ruinen zu sehen. Auch in San Dionisio del Mar, vierzig Kilometer von Juchitán auf einer Landzunge in der Lagune gelegen, wurden die Men schen systematisch beim Wiederaufbau benachteiligt. Die Gemeinde ist bekannt für ihren jahrelangen Widerstand gegen die Windkraftparks. Zusammen mit medico Schweiz unterstützt medico international in beiden Städten den selbstorganisierten Wiederaufbau der lokalen Komitees. „Die Solidarität hat hier Tradition“, sagt Marcelino. „Jetzt kommt sie den 13r EportagE Migrantinnen und Migranten zugute.“ Tatsächlich äußern im Camp der Karawane auf Nachfrage alle ihre Dankbarkeit für Geld, Wasser und Essen, das sie geschenkt bekommen. Ob sie denn daran glauben, die USA tatsächlich erreichen zu können? Fast alle antworten mit einem unbezwingbaren Optimismus und einem fast schon sturen Glauben daran, dass Gott ihr Schicksal lenken werde. Am schönsten fasst es Jaime zusammen: „Wir hören, was Trump uns an den Kopf wirft“, sagt er, „aber da stehen wir drüber. Denn das letzte Wort hat Gott.“
Droht die Zersplitterung?
Am 2. November 2018 versprach der Gouverneur von Veracruz den Migrierenden Busse, die sie ins 550 Kilometer entfernte Mexiko-City oder an einen „anderen Ort ihrer Wahl“ bringen würden. Der Druck der mexikanischen Zentralregierung scheint jedoch so groß gewesen zu sein, dass das Angebot zurückgenommen wurde. Stattdessen sollten die Busse die Menschen nun in den Süden von Veracruz fahren. Süden? Undenkbar für die, die nur nach Norden wollen. Es passierte, was passieren musste: Nach dem gemeinsamen Aufbruch der nunmehr über zehntausend Menschen am nächsten Morgen zersplitterte die Gruppe schnell – und das in einer der gefährlichsten Regionen des Landes. Jetzt ermittelt die Staatsanwaltschaft wegen drei verschwundenen LKW mit knapp 100 Menschen an Bord, die höchstwahrscheinlich an das organisierte Verbrechen übergeben wurden.
Am Tag zuvor hatte Edgar, Vertreter einer Menschenrechtsorganisation aus Veracruz, gesagt, er halte es für gar keine gute Idee, dass die Karawane den Weg durch Veracruz eingeschlagen habe. Die Kartelle würden selbst ganze Gruppen von Migrierenden entführen, um von Verwandten Lösegeld zu erpressen oder sie für den Drogenkrieg zu zwangsrekrutieren. Auch Raubüberfälle auf die durchreisenden Menschen seien an der Tagesordnung. Erst Anfang September wurde in Veracruz ein Massengrab mit über 170 Toten entdeckt, die dem Krieg der Kartelle zum Opfer gefallen sind. In ganz Mexiko wurden in den letzten zehn Jahren über 1.300 solcher Gräber gefunden.
Inzwischen hat ein Teil der großen Karawane die US-Grenze in Tijuana erreicht, die Menschen suchen nun nach Gelegenheiten zum Grenzübertritt. Und die nächsten Gruppen aus Mittelamerika sind bereits auf dem Weg oder formieren sich. Der Exodus kennt keine Grenzen.
Seit 2010 unterstützt medico international die Arbeit der Migranten-Herberge „La 72“ in Tenosique, nahe der guatemaltekischen Grenze. Ebenso lange fördern wir die Arbeit des Movimiento Migrante Mesoamericano, das Mütter verschwundener Migrantinnen und Migranten bei der Suche nach ihren Angehörigen unterstützt und das Thema in Mexiko sichtbar macht. Die Grundlage der Zusammenarbeit mit dem M3 und der „72“ ist ein politisches Verständnis von Hilfe, das sich in dem Anspruch der Inrechtsetzung von zur Illegalität Gezwungenen ausdrückt.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2018. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!