Marta Sánchez Soler, schwarz gekleidet und mit Sonnenbrille vor den Augen, sitzt rauchend in einem Café im historischen Zentrum von Mexiko-Stadt. Der elegante Eindruck , den die fast 70-jährige Grand Dame der mexikanischen Solidaritätsbewegung mit den Migrantinnen und Migranten vermittelt, ist schwer vereinbar mit der brutalen Realität, mit der sie sich tagtäglich auseinandersetzt: Als Präsidentin des medico-Partners Movimiento Migrante Mesoamericano (M3) engagiert sie sich seit vielen Jahren für die Menschen, die sich vor allem von Zentralamerika aus auf den Weg Richtung Norden machen – ein Weg, der immer langwieriger und gefährlicher wird.
„Mit dem Krieg gegen die Drogenkartelle ist die Migration dem organisierten Verbrechen übergeben worden“, urteilt sie scharf und knapp. Im Dezember 2006 rief die mexikanische Regierung unter Felipe Calderón den „Krieg gegen die Kartelle“ aus, der das Land inzwischen in die schrecklichsten aller vorstellbaren Abgründe katapultiert hat. Ein Jahrzehnt später lässt sich über die Zahl der Toten nur streiten, Schätzungen von 200.000 scheinen realistisch. 2006 war aber auch das Jahr, in dem Entführungen, Erpressungen, Morde und Vergewaltigungen von und an Migranten exponentiell angestiegen sind. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
An den Verbrechen sind mexikanische kriminelle Gruppen ebenso beteiligt wie guatemaltekische oder salvadorianische Mara-Banden und staatliche Sicherheitskräfte. Aufgeklärt wird quasi keines. „Bis wohin reicht die Kette der Korruption?“, fragt Marta und verweist auf staatliche Verstrickungen in die kriminellen Machenschaften bis in höchste Regierungsebenen. Hinzu kommt: „Auch die Schmuggler haben sich gewandelt.“ Stammten sie einst aus den migrantischen Communites und sahen ihre Tätigkeit auch als Dienst an der Gemeinschaft an, gehören heute viele entweder den Kartellen an oder sie zahlen diesen Schutzgelder.
Der widersprüchliche Krieg des Staates gegen das organisierte Verbrechen, der Konflikt zwischen den Kartellen sowie die Ausbeutung der weitgehend recht- und schutzlosen Migrantinnen und Migranten haben dazu geführt, dass, so Schätzungen vom M3, das sich dabei auf einen Bericht der mexikanischen Nationalen Menschenrechtskommission (CNDH) stützt, jährlich an die 20.000 Menschen aus Zentralamerika auf dem Weg durch Mexiko spurlos verschwinden.
Angesichts von Gewalt und Repressionen suchen sich die Menschen neue, vermeintlich aussichtsreiche Routen durch das Land. Zwar ist „La Bestia“, der berüchtigte Güterzug gen Norden, weiterhin stark frequentiert. Doch immer mehr ziehen auf unbekannten Wegen durch Wälder und Gebirge. „Dadurch werden sie noch unsichtbarer“, betont Marta. Und gefährdeter. Denn hier werden sie auch noch von lokalen Banden bedroht.
Der Husten Trump
In Mexiko gibt es ein Sprichwort: Wenn der nördliche Nachbar Husten hat, bekommt das eigene Land eine Grippe. Der aktuelle Husten heißt Donald Trump. Einen Tag nach dessen Wahlsieg titelte das Boulevardblatt El Gráfico mit großen gelben Lettern „FUUUCK!“. Und in der Wahlnacht rutschte die mexikanische Währung auf ein Rekordtief. Binnen Stunden verlor der Peso gegenüber dem US-Dollar um 13 Prozentpunkte an Wert. Im Februar wurden dann Ausschnitte aus einem Telefongespräch zwischen dem mexikanischen Staatspräsidenten Enrique Peña Nieto und seinem US-amerikanischen Amtskollegen geleakt. Trump drohte darin – halb im Scherz, halb Ernst – die Armee zu schicken, falls Mexiko mit seinem Gewalt- und Drogenproblem nicht zurechtkommt.
Für Verstimmung haben auch seine Ankündigungen gesorgt, die 3.180 Kilometer lange Grenze zwischen den Vereinigten Staaten und Mexiko mit einer meterhohen Mauer absichern und bis zu drei Millionen Illegalisierte in ihre Herkunftsländer abschieben zu wollen. In der Empörung über Trump wird jedoch allzu leicht übersehen, dass mehr als ein Drittel der Grenze bereits durch einen hohen Wall gesichert ist – ein Wall, der vor mehr als zwei Jahrzehnten unter dem demokratischen US-Präsidenten Bill Clinton initiiert worden war.
Auch die Abschiebemaschinerie und restriktive Migrationsgesetze, auf die Trump zurückgreifen kann, sind unter George W. Bush Jr. und Barack Obama entwickelt worden. Gab es 1992 nur 4.193 Grenzpolizistinnen und -polizisten, sind es heute mehr als 20.000. Von 2009 bis 2015, also unter dem Friedensnobelpreisträger Obama, sind knapp 2,8 Millionen Menschen abgeschoben worden, die meisten von ihnen Mexikanerinnen und Mexikaner – mehr als jemals zuvor.
Die Aufmerksamkeit für Trump verdrängt jedoch auch die aktive Rolle, die Mexiko selbst in der Bekämpfung der Migration spielt. Im vergangenen Jahr wurden zum zweiten Mal in Folge mehr Menschen aus Mexiko nach Zentralamerika abgeschoben als aus den USA: 143.226 aus Mexiko, 77.608 aus den USA. Zurückzuführen ist diese Entwicklung auf das 2014 in Kraft getretene, von den USA mit angeschobene Programm „Frontera Sur“. Grenzkontrollen werden ins mexikanische Inland verlagert, um die Illegalisierten effektiver aufzugreifen und weit vor der US-mexikanischen Grenze aufzuhalten. Die USA hat damit die Grenze in Richtung Süden verschoben – eine Strategie, die aus Europa hinlänglich bekannt ist.
Diese Politik hat den Druck auf die Migrantinnen und Migranten erhöht. Abschreckende Wirkung hat sie allerdings nicht. Weiterhin passieren Hunderttausende Menschen aus Zentralamerika irregulär die mexikanische Südgrenze. Immer weniger aber schaffen es in die USA – oder versuchen es auch nur.
Da die Weiterreise zu gefährlich geworden ist, beantragt eine wachsende Zahl in Mexiko Asyl. So kommen verstärkt Trans- und Homosexuelle aus Honduras, Guatemala und El Salvador nach Mexiko-Stadt, um in der als gay-friendly geltenden Hauptstadt zu bleiben. Ein offener Umgang mit nicht-heterosexuellen Identitäten lässt sich auch auf der Migrationsroute beobachten. Anfang dieses Jahres hielt Fray Tomás González, Koordinator der von medico unterstützten Migrantenherberge La72 in Tenosique eine Messe, die die LGBT-Community ausdrücklich einschloss. In der Herberge selbst gibt es inzwischen einen eigenen Schlafsaal für LGBT.
Solidarität unter Druck
Es sind solch solidarische Strukturen und helfenden Hände, die dafür sorgen, dass die Menschen auf ihren Weg gen Norden nicht ganz auf sich allein gestellt sind. Hände wie die von Víctor Hugo Puebla. Im Norden der Hauptstadt arbeitet der junge Mann in einem kleinen Laden seiner Familie. Daneben engagiert er sich in Herbergen für Migranten in und um Mexiko-Stadt und weiß daher, was sich verändert hat. Dauerten die Wege der Menschen früher lediglich ein paar Wochen, sind es jetzt stockende Reisen, die sich über Monate oder sogar Jahre hinziehen können.“
Viele hängen im Transit fest und wissen nicht, wie es weitergehen soll. Die Organisation, für die er arbeitet, unterhielt auch eine Herberge in Huehuetoca im Bundesstaat Mexiko. Doch diese musste schließen. „Wegen den Drohungen und der Gewalt von kriminellen Gruppen und dem Schweigen der Regierung“, kommentiert er knapp. Die brenzligen Gebiete haben sich weit in den Süden ausgeweitet: „Mit der Migrationspolitik von Trump ist das sichtbarer geworden, aber wir, die wir in Kollektiven und Organisationen zum Thema Migration arbeiten, sehen all das schon seit Langem.“
Zurück ins Café zu Marta Sánchez. Auch sie erzählt von Veränderungen, allerdings von solchen, die ihren Ursprung in Europa haben. Auf ihrer Flucht aus Haiti, aus Kamerun, dem Kongo und sogar aus Syrien kommen die Menschen nach Mexiko. Denn als Europa im Jahr 2015 die Balkanroute schloss, fingen die Leute an, sich neue Routen zu suchen. Sie kommen mit dem Flugzeug oder Schiff und erhalten im Gegensatz zu ihren zentralamerikanischen Leidensgenossinnen und -genossen eine Art Transitvisum, das ihnen für 20 Tage einen legalen Status garantiert. „Es gibt hier in Mexiko inzwischen eine transkontinentale Migration“, schließt Marta Sánchez und drückt langsam ihre letzte Zigarette aus.
medico international fördert das Movimiento Migrante Mesoamericano seit 2011. Dank dieser Unterstützung konnte die Gruppe ihre Menschenrechtsarbeit ausweiten und die Öffentlichkeitsarbeit intensivieren. Jedes Jahr ist das M3 Gastgeber einer Karawane von Angehörigen verschwundener Migrantinnen und Migranten, die in Mexiko nach Spuren der Vermissten suchen. Außerdem fördert medico die Herberge La72 im Süden Mexikos.
Spendenstichwort: Mexiko
Dieser Artikel erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2017. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. <link material rundschreiben rundschreiben-bestellen>Jetzt abonnieren!