Auf Kosten der Patienten

18.08.2006   Lesezeit: 5 min

TRIPS und die Transformation der indischen Generika-Industrie. Von Sudip Chaudhuri.

Über 30 Jahre gab es in Indien keinen Patentschutz auf Medikamente. Daraus entwickelt hat sich eine Erfolgsstory für indische Pharmaprodukte, die auch den Patienten zugute kam. Die Preise waren erschwinglich. Nun gilt in Indien das TRIPS-Abkommen und damit der Patentschutz für Medikamente. Das hat einen indischen Pharmaunternehmer zu dem makabren Ausspruch verleitet: "Wir werden diese Veränderung überleben, unsere Patienten aber vielleicht nicht."

Die indische pharmazeutische Industrie hat eine sehr wichtige Rolle bei der Versorgung der Welt mit qualitativ guten und preiswerten Medikamenten gespielt. Sie exportierte selbst auf den größten und meistregulierten Markt der Welt: in die USA. Bekanntlich sind die Preise für anti-retrovirale Medikamente zur Bekämpfung von HIV/AIDS in dem Moment in den Keller gegangen, als Indien in den Wettbewerb eintrat. Möglich war dies vor allem deshalb, weil Indien den Produkt-Patentschutz für Pharmazeutika bereits 1972 per Gesetz beseitigt hatte. Seit dem 1. Januar 2005, mit dem Inkrafttreten des internationalen Abkommens zum Schutz geistigen Eigentums, des sogenannten TRIPS-Abkommens der Welthandelsorganistion (WTO), gibt es auch in Indien wieder einen solchen Patentschutz.

Die Folge des vorangegangenen Booms war, dass sowohl die Konsumenten als auch die Industrie profitierten, und zwar auf Kosten der Multinationalen Konzerne. Weil es keine Produkt-Patente gab, führte der Wettbewerb zu niedrigen Medikamenten-Preisen und zu hohen Wachstumsraten. Wiewohl die größeren Unternehmen die Hauptnutznießer waren, gab es auch positive Trends bei den kleinen und mittleren Unternehmen. Jetzt hat sich die Situation verändert. Die indischen Unternehmen können keine Produkte mehr herstellen, die unter die Patente der multinationalen Konzerne fallen. Die Konsumenten sind der Gnade der Preisstrategen in den multinationalen Konzernen ausgeliefert. Wenn nicht entsprechende Zwangslizenzen verhängt und Preiskontrollmechanismen etabliert werden, werden die Preise steigen, das ist schon abzusehen. Man geht davon aus, dass einige technologisch und finanziell schwächere indische Unternehmen nicht die Kraft besitzen, die neue Situation durchzustehen, und deshalb schließen müssen. Verlierer dieser neuen Situation sind die Kunden und die schwächeren Unternehmen. Aber die großen und dynamischeren Betriebe sind geradezu euphorisch über ihre künftigen Wachstumsaussichten und besorgen sich schon Geld für neue Projekte.

Was die Produktion neuer Medikamente anbetrifft, so haben indische Unternehmen eigentlich nur zwei Möglichkeiten. Sie können sie theoretisch mithilfe von Zwangslizenzierungen produzieren oder gemeinsam mit den multinationalen Konzernen neue Medikamente entwickeln, herstellen und vermarkten. Damit verändert sich ihr Verhältnis zu den Multis grundlegend. Waren sie früher Konkurrenten, so sind die meisten indischen Unternehmen heute sehr an der Zusammenarbeit mit den Multis interessiert. Die größeren indischen Unternehmen haben bereits internationale Partner, mit denen sie gemeinsam importierte Produkte vermarkten und die Erforschung und Entwicklung neuer Medikamente betreiben. Dabei werden nicht nur kleine, sondern auch große Unternehmen zu Subunternehmen der Multis werden.

Einige indische Unternehmen setzen große Hoffnungen in die Zusammenarbeit mit den internationalen Konzernen. Letztere werden sicher versuchen, von den niedrigen Kosten und der Infrastruktur Indiens zu profitieren. Bislang jedoch findet "Outsourcing" an indische Unternehmen nur in bescheidenem Maße statt. Indiens Aussichten hängen also sehr stark davon ab, welche Rolle die Kosten bei der Entscheidung zur Standortverlagerung spielen und wie stark die Opposition in den entwickelten Ländern gegen den damit einhergehenden Arbeitsplatzverlust sein wird.

Die Forschung und Entwicklung neuer Medikamente initiiert zu haben, war eine der herausragenden Verdienste der indischen Generika-Produktion in den vergangenen Jahren. Allerdings sind sie nicht am gesamten Entwicklungsprozess neuer Medikamente beteiligt. Denn in der Regel verfügen sie nicht über alle dafür nötigen Kenntnisse und Finanzmittel. Aus diesem Grund haben indische Unternehmen neue Moleküle entwickelt und ihre Lizenz in einem frühen Stadium der klinischen Entwicklung an die großen internationalen Pharmakonzerne verkauft. Das hat dazu geführt, dass sich auch die indischen Firmen nicht mit den Krankheiten der Dritten Welt, die von den Pharmamultis vernachlässigt werden, beschäftigen, sondern auch ihr Augenmerk auf global "profitable" Krankheiten richten. So wurden bislang noch keine neuen Medikamente in Indien komplett entwickelt. Es gab einige Rückschläge. Man sagt, dass der größte Generika-Produzent, die Firma Ranbaxy, die Erforschung und Entwicklung von neuen Medikamenten ganz eingestellt habe. Andere sind da optimistischer. Die Ausgaben für Forschung und Entwicklung werden weitestgehend über Gewinne aus dem Generika-Export refinanziert. Der eigentliche Erfolg der pharmazeutischen Industrie aber lag im Export von Generika. Die meisten der Hersteller sind nach wie vor optimistisch. Sie gehen davon aus, dass ein wachsender Export auf die Märkte der reichen Länder sie mehr als entschädigen wird für die Gewinnausfälle auf dem indischen Markt, die durch die neue Produktpatent-Regelung entstanden sind. In unseren Untersuchungen gehen wir jedoch nicht davon aus, dass die Exportaussichten so hervorragend sein werden, wie angenommen. Der Konkurrenzkampf auf dem Generika-Markt wird immer härter und die Gewinnmargen werden bereits kleiner.

Zu befürchten ist, dass wir einen umgekehrten Prozess wie 1972 erleben werden. Damals hat man die positiven Folgen der Beseitigung von Produktpatenten anfangs auch nicht sofort spüren können. Es hat fast zwei Jahrzehnte gedauert, bis die indischen Generika-Produzenten die Vorteile daraus nutzen konnten und sich auf die bekannte Weise etablierten. Zu fürchten ist, dass auch heute die Folgen des wieder eingeführten Patentschutzes nicht gleich sichtbar werden. In ihrer Euphorie über die vergangene Wachstumsperiode sind die indischen Unternehmen offenbar nicht in der Lage, die negativen Folgen von geringer werdenden Handlungsmöglichkeiten auf dem heimischen Markt zu sehen.

Sudip Chaudhuri ist Wirtschaftsprofessor am indischen Institut für Management in Kalkutta und Autor der Studie: The WTO and India's Pharmaceuticals Industry: Patent Protection, TRIPS and Developing Countries, Oxford University Press, 2005.


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