Wenige Stunden nach Auftauchen der ersten Meldungen auf Social Media, dass nicht-weiße Menschen bei ihrer Flucht aus der Ukraine beeinträchtigt und sogar gehindert wurden, kursierte ein Aufruf zur Unterstützung, um Betroffene an der polnischen Grenze abzuholen. Kurze Zeit später trafen sich rund vierzig Einzelpersonen, Aktivist:innen und Angehörige von zivilgesellschaftlichen Organisationen online: ein spontanes Netzwerk entsteht. Sie nennen sich das Tubman Netzwerk, benannt nach der afro-amerikanischen Abolitionistin Harriet Tubman, die über ihre Arbeit in der Underground Railroad die Flucht von versklavten Schwarzen aus dem Süden der USA ermöglichte.
Das Netzwerk organisierte in Windeseile Busse, nahm Kontakt zu Botschaften auf und mit Gruppen schwarzer und migrantischer Menschen in der Ukraine. In den kommenden Tagen fuhren immer wieder Buskonvois an die polnisch-ukrainische Grenze. Sie holten nicht nur Menschen ab, sondern ermöglichten sicheres Geleit – weil die Bedrohung im öffentlichen Raum durch organisierte Rechte in Polen real ist, weil die deutsche Polizei immer wieder Menschen aus den Zügen holt, denen sie absprach, aus der Ukraine zu fliehen. Die Buskonvois boten nicht nur Schutz, sondern auch persönlichen Kontakt und ermöglichten nach der Vereinzelung auf der Flucht eine geteilte Erfahrung und Kollektivität. Die Geschwindigkeit, mit der das alles geschah, ist beeindruckend, aber nicht zufällig. Sie ist Ergebnis davon, dass sich etliche Akteur:innen seit Jahren aus antirassistischer Arbeit und dem Bemühen migrantischer Selbstorganisierung in Deutschland kennen und vertrauen. Vernetzungen durch Organisationen wie EOTO (Each One can Teach One) oder Lampedusa in Hamburg, mit wellcome united, den seit dem Eintreffen syrischer Geflüchteter 2015 aktiven Unterstützungsstrukturen, aber auch durch die Black Lives Matter Proteste 2020 und Organisierungen nach dem rassistischen Mordanschlag vom 19. Februar in Hanau, sind spürbar dichter geworden.
Was zuerst nur als ad hoc-Hilfe für die Flucht gedacht war, entpuppte sich schnell als notwendigerweise langwierigerer Prozess. Denn obwohl gerade Millionen Menschen aus der Ukraine fliehen, sind Geflüchtete ohne ukrainischen Pass in Deutschland mit einer gänzlich anderen Rechtslage konfrontiert. Im Gegensatz zu Ukrainer:innen erhalten migrantische Studierende beispielsweise keinen geklärten Aufenthaltstitel. Sie dürfen nicht arbeiten, haben eine Wohnsitzauflage und sollen als Drittstaatangehörige einen Asylantrag stellen, von dem absehbar ist, dass er abgelehnt wird. Ihnen droht nach dem gewaltsamen Abbruch ihres Lebens in der Ukraine nicht nur das Ende ihres Studiums, sondern auch die Abschiebung in ihre Herkunftsländer.
Für Asmara Habtezion, Gründerin des seit 2014 bestehenden und nach Eritreas Hauptstadt benannten Vereins Asmara‘s World, der migrantische Selbsthilfe organisiert und als Teil des Tubman Netzwerkes von medico unterstützt wird, markiert das eine einschneidende Veränderung: Während im „Sommer der Migration“ 2015 die Grenzen zunächst umstandslos geöffnet und alle kommen konnten, werden Menschen jetzt nach äußerlichen Merkmalen ausgeschlossen und damit die Unterstellung transportiert, die ukrainische Gesellschaft hätte nur aus weißen Menschen mit ukrainischem Pass bestanden. Die über 40.000 migrantischen Studierenden im Land, bis zu 400.000 Rom:nja – viele ohne ukrainischen Pass – Tausende Arbeitsmigrant:innen aus Armenien, Aserbaidschan etc. werden nicht als Bestandteil der Gesellschaft betrachtet. Die Blindheit gegenüber dieser gesellschaftlichen Heterogenität wird zur permanenten Unterstellung an Menschen ohne ukrainischen Pass und/oder People of Colour, sich auf gewisse Weise unrechtmäßig an dem Ort aufzuhalten.
Die aktuell zu beobachtende Ungleichbehandlung der Geflüchteten aus der Ukraine ist damit nicht nur eine der Flucht und Migration, sie ist eine des grundsätzlichen Gesellschaftsverständnisses und wird so auch von denjenigen Menschen verstanden, die in Deutschland mit migrantischer oder postmigrantischer Biografie zu Fremden gemacht werden. So wird die Sorge genährt, in einer vergleichbaren Situation des Ausnahmezustandes in Deutschland ebenfalls von Hilfe ausgeschlossen und stattdessen die eigene Existenz rechtfertigen zu müssen. Asmara nennt das „Rassismus 2.0“.
Selbsthilfe und Selbstorganisierung wie im Tubman Netzwerk sind deswegen von zentraler Bedeutung. So auch in der Praxis von Asmara‘s World: Gründungsmitglieder kamen aus Bolivien, Eritrea, Nigeria, von den Kapverden, aus Senegal und Gambia. Mittlerweile stießen auch Menschen aus Afghanistan, Nicaragua, Polen und der Ukraine dazu. Gemein ist ihnen, dass sie wenig gemein haben: Sie stammen aus völlig unterschiedlichen Regionen der Welt, haben sehr unterschiedliche Erfahrungen hinter sich und sind mit unterschiedlichen Rechtsstatus und Möglichkeiten konfrontiert. In der Arbeit von Asmara‘s World geht es aber nicht um eine singuläre Betrachtung der Einzelfallprobleme, wenngleich diese natürlich entsprechend bearbeitet werden, sondern um eine Haltung übergreifender und gegenseitiger Solidarität. Im Kern geht es darum, Empathie und Solidarität für- und miteinander aufzubringen, weil alle trotz ihrer eigenen Erfahrungen feststellen, dass andere in zum Teil noch schwierigeren Situationen sind. In Asmaras World findet Unterstützung explizit nicht in und entlang bestimmter Herkunftscommunities statt, sondern durch und für alle. In der Unterschiedlichkeit lassen sich die Parallelen der Erfahrungen ausmachen und gemeinsam Druck für Veränderung mobilisieren.
Gründungserfahrung des Vereins 2015 war die Bildung von Komitees in Geflüchtetenunterkünften, bei denen über Herkunft, Religion oder Identität hinweg Menschen zusammenkamen und feststellen konnten, dass ihre gemeinsamen Probleme in der widrigen Infrastruktur, einer nicht funktionierenden Waschmaschine beispielsweise oder der schlechten Behandlung durch das Sicherheitspersonal bestehen.
Geflüchtete finden im Verein nicht nur Hilfe, sondern werden selbst anderen gegenüber zu Ratgeber:innen und Begleiter:innen. „Wir ermöglichen den Leuten, dass sich ihre Rolle verändern kann“, sagt Asmara Habtezion. Sei es durch gegenseitige Begleitung auf die Ausländerbehörde, Unterstützung bei Übersetzung und Sprachfragen, akuter Unterstützung bei Unfällen, Krankenversorgung oder Therapie.
Sinnbildlich dafür ist eine Szene, von der uns Asmara Habtezion berichtet: Ein junger Mann erzählt den neu ankommenden Studierenden aus der Ukraine, wie er als Minderjähriger aus Libyen geflohen ist, von Angehörigen, die sich noch immer in den dortigen Lagern befinden und darauf warten, von ihm freigekauft zu werden. Er muss seine Erlebnisse nicht im Detail ausbreiten, damit alle wissen durch welche Hölle er gegangen ist. Mittlerweile hat er in Deutschland eine Ausbildung abgeschlossen und ist als Vorstand bei Asmara‘s World aktiv. „Wir wissen, was ihr für Erfahrungen gemacht habt. Aber ihr seid jetzt hier. So wie ich. Ich habe Libyen überlebt und nun bin ich hier und ich bin stark.“
Für die aus der Ukraine evakuierten migrantischen Flüchtlinge geht es jetzt um Aufenthaltstitel, Unterbringung und die Möglichkeit des Spracherwerbs, der oft für eine Duldung für Studium und Ausbildung entscheidend ist. Bisher steht ihnen im Gegensatz zu Menschen mit ukrainischem Pass nichts von alldem einfach offen. Die Mühen der Ebene beginnen mit unabsehbarem Erfolg. Die Verbindungen migrantischer Selbsthilfestrukturen aber bleiben und verstetigen sich.
Karin Zennig & Radwa Khaled-Ibrahim