Das historische Gedächtnis Europas und die ihm zugehörige Erinnerungskultur zeichnen sich durch das Ausbleiben historischer Gerechtigkeit für die erlittene Ausgrenzung und Unterdrückung aus, die mit dem Anbruch der Moderne begann und noch heute das Schicksal vieler Millionen Menschen prägt. Im Zentrum dieser Geschichte steht das Verbrechen des Kolonialismus, unter dem die Länder und Regionen des Globalen Südens leben und leiden – unter seinem langen Schatten ebenso wie unter seiner Aktualität.
Kaum ein Land symbolisiert das in der deutschen Debatte besser als Namibia. „Wiedergutmachung“ im Wortsinn ist unmöglich, sehr wohl aber steht ein ernsthafter Versuch aus, ein durch die Gewalt des Kolonialismus gestörtes Verhältnis zu reparieren. Bei allem überschwänglichen Nationalstolz auf die eigene Erinnerungskultur ist die Geschichte des deutschen Kolonialismus in der zeitgenössischen deutschen Historiografie eine Randnotiz. Nicht einmal ein rudimentäres Grundwissen über den ersten deutschen Völkermord kann als selbstverständlich vorausgesetzt werden.
Dabei begehen wir in diesem Jahr den 120. Jahrestag der Ereignisse, die den ersten Völkermord des 20. Jahrhunderts auslösten. Er traf die Völker der Ovaherero und Nama in einem Gebiet, das Deutschland als „Südwestafrika“ – das heutige Namibia – kolonisiert hatte. Im Rahmen des europäischen „Wettlaufs um Afrika“ errichtete das Kaiserreich Kolonien, die das heutige Togo, Kamerun, Tansania, Ruanda, Burundi und Namibia umfassten.
Der erste Genozid des 20. Jahrhunderts
Die Region im Südwesten des Kontinents galt als Inbegriff dessen, was der deutsche Geograf Friedrich Ratzel 1897 als „Lebensraum“ bezeichnete: ein Raum, der gemäß der sozialdarwinistischen Ideologie des „survival of the fittest“ beansprucht wurde, um das eigene Volk zu erhalten. Damit die deutsche Besiedlung möglich wurde, mussten die einheimischen Völker aus dem Weg geräumt werden. Zunächst erfolgte die Landnahme stückweise durch erzwungene Schutz- und Kaufverträge, Drohungen, Bestechungen und Massaker. Allmählich entstand Südwestafrika als ein Geflecht von Farmen, Missionsstationen, Mineral- und Diamantenminen sowie Militärfestungen. Für Ratzel war es ein Ort, an dem die „deutsche Rasse“ ihren Charakter festigen sollte, während die ansässige Bevölkerung als „Untermenschen“ betrachtet wurden, die nach Belieben ausgebeutet, vertrieben oder ausgerottet werden konnten.
Am 12. Januar 1904 kam es zu einem Aufstand der Ovaherero unter der Führung von Samuel Maharero. Mehr als hundert Soldaten und Siedler, zumeist Bauern und Missionare, wurden in den folgenden Tagen getötet. Die sogenannte kaiserliche „Schutztruppe“ musste sich zurückziehen. Gedemütigt begann Deutschland, Vergeltung für diese Akte antikolonialen Widerstands zu planen. Im Juni 1904 traf General Lothar von Trotha, ein Kolonialoffizier, der sich durch seine Mitwirkung bei der brutalen Niederschlagung des Boxeraufstands in China einen Namen gemacht hatte, in Südwestafrika ein. Er schwor, „die aufständischen Stämme in Strömen von Blut“ zu vernichten.
Im August 1904 suchten schätzungsweise dreißigtausend Ovaherero Zuflucht am Fuße des Bergplateaus von Waterberg. Die Schutztruppe schnitt ihnen den Fluchtweg nach Westen ab und zwang Männer, Frauen und Kinder so in die Kalahari-Wüste, wo sie gejagt und erschossen wurden. Am 2. Oktober erließ Trotha vor seinen Truppen den berüchtigten Vernichtungsbefehl: „Innerhalb der deutschen Grenze wird jeder Herero mit oder ohne Gewehr, mit oder ohne Vieh erschossen, ich nehme keine Weiber und Kinder mehr auf, treibe sie zu ihrem Volk zurück, oder lasse auf sie schießen.“ So kam es. In den folgenden Monaten wurden viele Ovaherero erschossen, andere starben, nachdem sie von deutschen Truppen vergiftetes Wasser aus Brunnen getrunken hatten. Und eine große Zahl verdurstete und verhungerte in der Wüste, in die sie getrieben worden waren.
Die traditionellen Führer der Nama und Ovaherero datieren den Beginn des Völkermords nicht auf den Angriff in Waterberg, sondern auf einen wenig bekannten Überfall elf Jahre zuvor. Am 12. April 1893 griff ein Kontingent der Schutztruppe die Nama-Siedlung Nâ‡gâs – auf Deutsch Hornkranz – an. Es war der Sitz von „Captain“ Hendrik Witbooi vom Witbooi-Nama-Volk, der alle deutschen „Schutzangebote“ abgelehnt und sich in den Augen der deutschen Kolonisten damit der Rebellion schuldig gemacht hatte. Die Deutschen kamen zu dem Schluss, dass die einzige Möglichkeit, den „rebellischen Eingeborenen“ Einhalt zu gebieten, darin bestand, sie auszurotten. Also zerstörten sie die Siedlung und ermordeten Frauen, Kinder und alte Menschen. In den folgenden Jahren leisteten die Nama-Stämme unter der Führung von Witbooi und Jacobus Morenga weiter Widerstand gegen die deutsche Herrschaft, und am 22. April 1905 erließ Trotha den zweiten Vernichtungsbefehl, diesmal gegen die Nama.
Die überlebenden Nama und Ovaherero wurden in Konzentrationslager geschickt, wo sie als Sklavenarbeiter:innen für den Bau von Straßen, Eisenbahnen, Farmen und Verwaltungsposten der Kolonie eingesetzt wurden. Mehr als die Hälfte der Gefangenen starb binnen eines Jahres. Das wohl tödlichste Lager befand sich auf Shark Island, einer windigen und exponierten Halbinsel in der Nähe der südatlantischen Hafenstadt Lüderitz. Die Gefangenen waren dort eisiger Kälte schutzlos ausgeliefert, wurden ausgehungert, geschlagen, vergewaltigt und hingerichtet. Frauen wurden gezwungen, die von Leichen abgetrennten Köpfe – teils ihrer eigenen Verwandten – abzukochen und das Fleisch mit Glasscherben abzukratzen. Die Schädel wurden für rassistische Forschungen an Universitäten und in anthropologische Sammlungen nach Deutschland geschickt, wo die meisten heute noch lagern.
Unabgegolten
Bis zum Ende des deutschen Feldzugs im Jahr 1908 waren über 65.000 Ovaherero, mehr als zwei Drittel der Bevölkerung, und 10.000 Nama getötet worden. Jahrzehntelang wurde über diese genozidalen Verbrechen geschwiegen. Es ist dem jahrelangen Kampf namibischer und deutscher zivilgesellschaftlicher Gruppen zu verdanken, dass mehr und mehr Licht auf diesen blinden Fleck deutscher Geschichte fällt. 2015 erklärte sich die deutsche Regierung bereit, ihre „moralische Verantwortung für die Kolonialisierung Namibias“ anzuerkennen und sich „für die historischen Entwicklungen, die zwischen 1904 und 1908 zu völkermörderischen Zuständen geführt haben“, zu entschuldigen. Die Worte waren wohl gewählt. Eine moralische Verantwortung ist keine juristische Verantwortung und völkermörderische Zustände sind kein Völkermord.
Die Ereignisse von 1904 bis 1908, so die Argumentation, könnten nur aus heutiger Sicht als Genozid angesehen werden. Sie stützte sich auf eine juristische Spitzfindigkeit, die in Fällen von Völkermord und Sklaverei seit langem infrage gestellt wird: den Grundsatz, dass eine Rechtsfrage auf der Grundlage der zum Zeitpunkt der Tat geltenden Gesetze beurteilt werden muss. Deutschland argumentierte also, dass die UN-Völkermordkonvention erst 1948 in Kraft getreten sei und daher nicht auf den Völkermord in Südwestafrika angewendet werden könne, der vorher stattgefunden hatte. Ein ähnliches Argument wurde von Eichmann bei seinem Prozess in Jerusalem vorgebracht: Da Hitlers Befehle im Dritten Reich „Gesetzeskraft“ besaßen, habe er nach den damaligen Gesetzen gehandelt.
Rehabilitation und Reparation
Noch ungeheuerlicher ist eine andere juristische Volte: Laut der Haager Konvention von 1889 galt die Massentötung von Zivilist:innen im Rahmen eines Krieges als illegal – also auch Anfang des 20. Jahrhunderts. Da sich das Völkerrecht jedoch auf Kriege zwischen „zivilisierten Völkern“ beziehe, falle koloniale Gewalt gegen eine indigene Bevölkerung nicht unter diesen Tatbestand. Deutschland argumentierte also, dass die in Südwestafrika begangenen Verbrechen nicht nach modernen Rechtsstandards, sondern nach den rassistischen Gesetzen der Kolonialzeit beurteilt werden müssten.
Die Strategie der Bundesregierung, einen „historischen Völkermord“ nicht abzustreiten, sehr wohl aber dessen Justiziabilität, hat Methode. Denn damit entledigt sich Deutschland auch jeglicher Verpflichtung zur Zahlung von Reparationen oder zur Erleichterung der Wiedergutmachung. Als Zeichen des guten Willens kündigte Berlin stattdessen ein Abkommen an, über einen Zeitraum von dreißig Jahren 1,1 Milliarden Euro Entwicklungshilfe zu leisten. Dies hielten die deutsche und die namibische Regierung 2021 in einer Gemeinsamen Erklärung fest. Entwicklung also, das alte Zauberwort und Versprechen des Westens.
Einst waren die Ovaherero und Nama reich an Land, Vieh und Kultur gewesen. Die Kolonialisierung hat diesen Wohlstand ruiniert und „Entwicklungsbedarf“ erzeugt. medico-Partnerin Sima Luipert von der Nama Traditional Leaders Association (NTLA) drückt es so aus: „Entwicklung ist die größte Lüge des Nordens. Es ist die vermeintliche Großzügigkeit einer Zivilisation, die auf unserer Unterdrückung beruht.“ Einige Gemeinschaften antworteten auf das deutsche Angebot mit der Forderung, Deutschland solle ihre einstigen Ländereien von den Nachkommen deutscher Siedler kaufen und sie zurückgeben.
Unabgegolten sind die Genozide in Südwestafrika auch in der sich selbst immer wieder zelebrierenden und andere belehrenden deutschen Gedenkkultur. Tatsächlich liegt immer noch ein Mantel des Schweigens und Vergessens über eben dieser Geschichte. Sie wurde weder hinreichend erforscht noch wird sie umfassend gelehrt oder auch erzählt. Ob in Wissenschaft, Kunst oder Politik: Die Verbrechen in Südwestafrika sind weit weg und lange her. Auch in Namibia selbst sind die Genozide längst nicht aufgearbeitet. Das angestammte Land der Opfer blieb nicht nur während der südafrikanischen Apartheidherrschaft im Besitz deutscher Siedler, darunter ehemalige Offiziere, die am Völkermord beteiligt waren. Auch 34 Jahre nach der Unabhängigkeit besitzen rund 4.500 Europäer:innen 70 Prozent der landwirtschaftlichen Flächen.
In der Geschichtsschreibung der SWAPO-geführten Regierung steht der eigene Kampf gegen die Apartheid überdeutlich im Vordergrund; die kolonialen Verbrechen Deutschlands interessieren kaum. Dazu passt, dass die betroffenen Gebiete bis heute unter Vernachlässigung leiden. Und dazu passt auch, dass es kaum Formen oder Stätten der Erinnerung gibt. Zeugnisse der kolonialen Herrschaft von einst verfallen. So ist Shark Island ein bei Tourist:innen beliebtes Ausflugsziel mit einem staatlich betriebenen Campingplatz, das viele in völliger Unkenntnis dessen besuchen, was hier einst geschah. Sie werden aber auch durch nichts daran erinnert.
Es ist eine zynische Wendung, dass die Halbinsel nun Standort eines großen deutschen Energieprojekts werden soll: Wo einst die Lager waren, soll ein Dock entstehen, über das in Namibia produzierter flüssiger Wasserstoff zu Europas energiehungriger Industrie transportiert werden soll. Mehr Greenwashing einer dunklen Geschichte geht kaum.
Die Nachkommen der Opfer des Völkermordes haben sich stets gewehrt: Sie gründeten in den ihnen zugewiesenen, beengten „Homelands“ Städte, die die Namen ihrer angestammten Heimatorte tragen, und haben ihre Forderungen nach Wiedergutmachung durch Deutschland und dem Recht auf Rückkehr auf ihr Land aufrechterhalten. Sie haben sich auch dagegen gewehrt, dass die deutsch-namibischen Verhandlungen über den Völkermord nahezu ohne die Beteiligung ihrer Vertreter geführt wurden. Ein auf die erwähnte deutsch-namibische Erklärung aufbauendes Abkommen zwischen den beiden amtierenden Regierungen in Namibia und Deutschland stieß auf ihren erbitterten Widerstand und wurde auch deshalb vom namibischen Parlament bislang nicht gebilligt.
Forensic Architecture und medico arbeiten mit den betroffenen Gemeinden zusammen, um jene Teile der eigenen Geschichte sichtbar und hörbar zu machen, die im kollektiven Gedächtnis wenig Platz haben. In einer von medico unterstützten transnationalen Kooperation mit der Ovaherero Traditional Authority (OTA) und der NTLA haben Forensic Architecture und ihre Berliner Schwestergruppe Forensis Archivfotos und Zeugnisse traditioneller mündlicher Überlieferung in 3D-Modelle von Orten der Gräueltaten, zerstörten Dörfern und Massengräbern integriert. Ihre Ergebnisse sind der Beginn einer Reihe digitaler Beweise zur Rekonstruktion des Völkermords.
Ein Weltgedächtnis
Die Anerkennung des Genozids sowie Erinnerungs- und Reparationsarbeit würden nicht nur längst fällige historische Gerechtigkeit gegenüber den Nama und Ovaherero walten lassen. Sie könnten das Ende der deutschen Kolonialismus-Amnesie einläuten, auch in Bezug auf die Grausamkeiten gegenüber dem Volk der San in Namibia oder die hunderttausenden Opfer der Niederwerfung des Maji-Maji-Aufstands in Deutsch-Ostafrika (1905-1907), dem heutigen Tansania, sowie über den afrikanischen Kontinent hinaus.
Nicht weniger als ein vertieftes Verständnis und eine erweiterte Selbstreflexion deutscher Geschichte sind gefordert. Die Verquickungen und die Schuld, die sich aus den offensichtlichen Verflechtungen zwischen den Verbrechen der Shoah und dem Genozid in Namibia ergeben, sind vielfältig: Viele der Schlüsselelemente des nationalsozialistischen Systems – die systematische Ausrottung von Völkern, die als rassisch minderwertig angesehen wurden, rassistische und eugenische Theorien und Praktiken, das Konzept des Lebensraums, der Transport von Menschen in Viehtransportern zur Zwangsarbeit in Konzentrationslagern – waren ein halbes Jahrhundert vor der Shoah in Südwestafrika angewandt worden. Bereits 1951 argumentierte Hannah Arendt, dass der europäische Imperialismus eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung des nationalsozialistischen Totalitarismus und der damit verbundenen Völkermorde spielte. Und Aimé Césaire bezeichnete den europäischen Faschismus als die Heimkehr kolonialer Gewalt.
Doch es geht heute mitnichten nur um die Wiedergutmachung historischer Schuld, sondern um einen Aufbruch in eine andere Zukunft. Black Lives Matter und zahlreiche andere Bewegungen weltweit tragen dazu bei, die Gewaltgeschichte des Kolonialismus ins Selbstverständnis des Westens zu integrieren – im Stadtbild, an den Universitäten, im Alltag oder in den Medien. Es mag utopisch klingen, aber das könnte konstitutiv sein für ein gleichberechtigtes „Weltgedächtnis“ (Charlotte Wiedemann), durch das wir lernen, nicht nur Geschichte von Frankfurt oder Windhoek aus gemeinsam zu interpretieren und zu erzählen, sondern auch gemeinsam zu handeln und der Gegenwart fortwährender asymmetrischer, vom Kolonialismus nach wie vor geprägter Macht- und Herrschaftsverhältnisse entgegenzutreten. Unsere Partner von NTLA und OTA sind dazu bereit: „Wir erheben keinen Anspruch auf Singularität, sondern streben vielmehr nach globaler Gerechtigkeit, Solidarität und universeller Freiheit.“
medico unterstützt derzeit die „Nama Traditional Leaders Association“ (NTLA), unter anderem bei der Ausrichtung des Genocide Memorial Walk in der Lüderitzbucht. Als Teil einer selbstorganisierten Erinnerungskultur, die die Erinnerung an den Genozid und dessen Auswirkungen wachhält, kommen hier regelmäßig Nama und Ovaherero aus verschiedenen Regionen Namibias zusammen. Dieses Jahr präsentierte dort außerdem Forensic Architecture erste Ergebnisse einer Genozid-Recherche. Auf einer weiteren Zusammenkunft wurde ein Austausch über das deutsch-namibische Wasserstoffvorhaben organisiert.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!