Corona und Migration

An das Sterben gewöhnt

28.04.2021   Lesezeit: 8 min

Während Europa sich nur um sich selbst kümmert, weichen subsaharische Migrant:innen immer öfter auf die gefährliche Atlantikroute aus. Von Emmanuel Mbolela.

Wieder sind die Notaufnahmen der Krankenhäuser in vielen Ländern überfüllt, jeden Tag sterben tausende Menschen an Covid-19. Viele sterben und werden begraben, ohne dass ihre Angehörigen dabei sein können. Eine Situation, die es in Westeuropa seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs nicht mehr gegeben hat. Deshalb zögern einige europäische Staatschefs nicht zu behaupten, man befände sich „im Krieg mit einem unsichtbaren Feind“. Und wie im Krieg reagieren auch viele Männer und Frauen. Einige Tage vor Inkrafttreten der ersten Eindämmungsmaßnahmen leerten sie die Supermarktregale, um sich eine Reserve an Grundnahrungsmitteln zuzulegen, und stritten um die letzten Toilettenpapierpackungen. Manche verließen große Städte wie Paris, weil sie sich auf dem Land sicherer fühlten.

Corona ist kein Virus des Südens

Die Lektion, die das Corona-Virus uns erteilte, ist, dass die Menschheit so vernetzt ist, dass niemand vor Ansteckung sicher ist. Das Virus kann alle erreichen, jederzeit und überall. Es ist nicht mehr möglich – wie bei Ebola, AIDS, Tuberkulose oder Cholera – zu denken, dass nur arme Länder davon betroffen sind. Corona hat gezeigt, dass eine Epidemie nicht nur aus dem Süden kommen kann, wie lange angenommen wurde, sondern dass sie auch aus dem Norden oder Osten auftauchen und in Rekordzeit sämtliche Ecken der Welt erreichen kann, die Reichen wie die Armen, die Mächtigen wie die Schwachen. Wir haben gesehen, dass selbst Regierende der Supermächte Deutschland, England, USA und Frankreich davor nicht sicher sind und genauso in Quarantäne müssen wie einfache Bürger:innen in armen Ländern Afrikas oder Asiens.

Eine weitere Lektion, die Corona lehrt, ist die vom Egoismus der reichen Länder. Ihre Regierungen haben hunderte von Millionen oder sogar Milliarden Euro oder Dollar freigegeben, um ihre Unternehmen zu unterstützen und Bankrotte zu vermeiden, die wahrscheinlich Massenarbeitslosigkeit verursachen würden. Hatten sie kurz zuvor noch Trumps „America first“-Politik kritisiert, zögerten sie nun nicht, dieses Modell bei der Impfstoffbereitstellung in Bezug auf ihre eigenen Länder zu reproduzieren. Der erklärte Wille, den Impfstoff gegen Covid-19 zum Allgemeingut der Menschheit zu machen, kam nicht über eine Absichtserklärung hinaus.

Gewalt gegen Migrant:innen im Schatten der Pandemie

Für die Migrant:innen hat Covid-19 der langen Liste ihres Elends nur ein neues Kapitel des Leidens hinzugefügt. Die europäischen Staats- und Regierungschefs, die Tag und Nacht für den Einsatz von lebensrettenden Impfstoffen gegen Covid-19 in ihren Ländern kämpfen, sehen gleichzeitig weiter tatenlos dabei zu, wie Migrant:innen aufgrund der Abschottungsmaßnahmen an Europas Grenzen sterben. Während die ganze Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit auf Covid-19 gerichtet ist, nutzt die Europäische Union außerdem die Gelegenheit, undokumentierte Migrant:innen wieder loszuwerden. Gleichzeitig übt sie starken Druck auf die nordafrikanischen Länder aus, mit denen sie Grenzkontrollabkommen geschlossen hat, um mit allen Mitteln den Zugang von Migrant:innen zur EU zu verhindern. Die nordafrikanischen Länder, die sich von diesen Abkommen politische und finanzielle Vorteile erhoffen, verschärfen ständig die Gewalt gegen Migrant:innen. Auch Marokko, wo die Gewalt gegen subsaharische Migrant:innen im Zuge der Pandemie nicht nur in Großstädten wie Rabat stark zugenommen hat. Im Norden des Landes werden die Migrant:innen aus ihren Behelfsunterkünften vertrieben und ihre Zelte und Habseligkeiten verbrannt. Es kommt immer wieder zu Kontrollen und Verhaftungen mit anschließender Abschiebung in gefährliche Wüstengebiete im Süden.

Mehr Grenzkontrollen bedeuten mehr Gefahren

Immer noch wird auf Versicherheitlichung im Umgang mit Migration gesetzt, obwohl der Ansatz längst gescheitert ist, was die Abschreckung angeht. Er führt stattdessen zu einer Zunahme menschlicher Tragödien, die sich täglich auf dem Meer und in der Wüste abspielen. Mit anderen Worten: Die Verstärkung der Grenzkontrollen führt nicht zu weniger Migration, sondern zur Umgehung bekannter Migrationsrouten. Sie schreckt Migrant:innen nicht ab, sondern zwingt sie, auf gefährlichere Routen auszuweichen. Das ist derzeit mit der Wiederaufnahme der Kanaren-Route zu beobachten. Der Weg über den Atlantik in Richtung Kanarische Inseln ist weit und gefährlich. Schon vor rund fünfzehn Jahren kam es auf dieser Route zu vielen Todesfälle.

Da andere Wege – beispielsweise durch die Verstärkung der Kontrollen im Norden Marokkos sowie durch Mobilitätseinschränkungen im Zusammenhang mit Covid-19 – inzwischen blockiert sind, weichen mehr und mehr Menschen nun trotzdem wieder auf die Kanaren-Route aus. Aus Angst vor Verhaftung und Abschiebung verlassen die Migrant:innen zunehmend die nördlichen Städte Marokkos und machen sich auf den Weg nach Dakhla, um die Reise zu den Kanarischen Inseln anzutreten. Andere, die bereits in ihren subsaharischen Herkunftsländern von der Unmöglichkeit einer Überfahrt über das Mittelmeer vom Norden Marokkos aus erfahren haben, brechen direkt Richtung Senegal auf, um von dort aus mit Fischerbooten den Atlantik in Richtung Kanaren zu überqueren.

„Meist hören wir nie wieder von ihnen“

Seit Beginn der Corona-Pandemie sind wir bei ARCOM sprachlos über die vielen Frauen, die nach einem Aufenthalt in einer unserer Zufluchtswohnungen mit ihren Kindern nach Dakhla aufbrechen, um von dort aus die Reise über den Atlantik anzutreten. Bevor sie aufbrechen, erhalten sie meist einen Anruf von Leuten, die an ihrer illegalen Reise verdienen. Diese Leute nutzen die Verstärkung der Grenzen aus, um Geschäfte auf dem Rücken der armen Menschen zu machen. Wir sehen dann, wie die Frauen unsere Herbergen eilig verlassen, um den tranquillo zu erreichen, den geheimen Ort, an dem das Fahrzeug der Schmuggler sie abholt und an die Atlantikküste bringt. Meistens hören wir nie wieder von ihnen. Das ist sehr besorgniserregend, wenn man weiß, dass die spanische NGO Caminando Frontera allein im Jahr 2020 2.170 Migrant:innen zählte, die ihr Leben verloren bei dem Versuch, Spanien auf diesem Weg zu erreichen. Sie sterben vor den Toren Europas unter den passiven und mitschuldigen Blicken der europäischen Regierungen. Man hat sich an ihr Sterben gewöhnt. Es ruft keine Emotionen mehr hervor. Europa ist mehr mit restriktiven Maßnahmen beschäftigt, um Migrant:innen wieder loszuwerden oder an der Einreise zu hindern, als mit der Rettung von Menschenleben.

Grenzsicherung ist keine Lösung

Es sei daran erinnert, dass im Jahr 2006 nach der Ankunft von etwa 30.000 Migrant:innen auf den Kanarischen Inseln Stimmen laut wurden, die eine Lösung finden wollten. In Rabat wurde eine Konferenz zum Thema Migration und Entwicklung organisiert, an der Vertreter:innen aus Ländern Afrikas und Europas teilnahmen. Am Ende dieser Konferenz wurden verschiedene Maßnahmen beschlossen, die von der Entwicklung von Auswanderungsländern über die Humanisierung der Migration bis hin zur Sicherung der europäischen Grenze reichten. Seltsamerweise wird heute der Sicherheitsansatz von der EU priorisiert und Hunderte Millionen Euro werden nicht für die Entwicklung der Herkunftsländer der Migrant:innen, sondern für die Sicherung der Grenzen ausgegeben.

Die Folge ist, dass 15 Jahre später die Atlantikroute zu den Kanarischen Inseln wieder an Bedeutung gewonnen hat. Für das Jahr 2020 berichten die Internationale Organisation für Migration (IOM) und das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen (UNHCR), dass 21.028 Migrant:innen auf den Inseln ankamen. Hinzu gezählt werden müssen die, die bei der Überquerung des Atlantiks ihr Leben verloren.

Was Covid-19 noch alles anrichtet

Es ist bekannt, dass die meisten Migrant:innen aus verarmten Ländern kommen, die teilweise durch Kriege verwüstet wurden, an denen reichen Länder maßgeblich beteiligt sind mit dem einzigen Ziel, sie unter Kontrolle zu halten, um internationale Transaktionen zu erleichtern. Die aktuelle Gesundheitssituation zeigt, dass Covid-19 in Afrika zwar bislang mit weniger Heftigkeit menschlichen Schaden angerichtet hat als in Europa, aber die Pandemie verstärkt die strukturellen Probleme, die seit Jahrhunderten an den Volkswirtschaften dieser Länder nagen. Diese Situation, die sich weiter verschlechtert, wird noch mehr Migration verursachen.

Ohne Zukunftsaussichten im eigenen Land gehen viele verständlicherweise weg in der Hoffnung, anderswo ein besseres Leben zu finden. Wer diese Menschen unter dem Vorwand sterben lässt, nicht alles Elend der Welt aufnehmen zu können, sollte auch darauf verzichten, Waren und Kapital aus den Herkunftsländern der Migrant:innen abzuziehen.

Vom Leben mit Knöpfen

Letztlich lehrt uns diese Pandemie, dass Menschen angesichts von existentieller Bedrohung und Ungewissheit jede noch so verzweifelte Maßnahme ergreifen, um ihr Überleben zu sichern. Das gilt für Menschen, die fliehen müssen oder sich zur Migration entscheiden nicht weniger als für Menschen, die aus Angst vor einer Pandemie Supermarktregale leeren. Für die Generationen, die in den letzten Jahrzehnten in den reichen Gegenden der Welt aufgewachsen sind und an ein Leben mit Knöpfen gewöhnt sind, war das eine neue Erfahrung. Sie sind es gewohnt, morgens aufzustehen, auf die Toilette zu gehen – und einen Knopf zu drücken. Wenn sie duschen wollen – drücken sie einen Knopf. Wenn sie heißes Wasser zum Waschen brauchen – drücken sie einen Knopf. Wenn sie einen Tee oder Kaffee wollen – drücken sie einen Knopf. Selbst der Abfall verschwindet in manchen ihrer Häuser auf Knopfdruck.

Wer so lebt, tut sich schwer, Menschen zu verstehen, die als „illegale Migrant:innen“ bezeichnet werden. Zu verstehen, was sie dazu treibt, ihre Länder zu verlassen und große Risiken und Widrigkeiten auf sich zu nehmen, um anderswo in Sicherheit leben zu können. Es ist höchste Zeit, dass die Leben von Flüchtlingen und Migrant:innen genauso wertgeschätzt werden wie die Leben derjenigen, die in Europa vor einer Corona-Infektion geschützt werden.

Übersetzt aus dem Französischen von Radwa Khaled-Ibrahim und Ramona Lenz.


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