Migration

Wenn Frauen fliehen

30.03.2020   Lesezeit: 8 min

medico-Partnerorganisation in Marokko bietet Frauen und Kindern aus Subsahara-Afrika Zuflucht.

Von Ramona Lenz

Von Ramona Lenz

Gormenh* kommt aus dem westafrikanischen Guinea, einem der Länder, aus denen eine visa- freie Einreise nach Marokko möglich ist. Nach dem Verkauf ihres kleinen Friseursalons hatte sie genügend Geld zusammen, um ein Flugticket nach Casablanca zu bezahlen. Zu diesem Zeitpunkt war sie im achten Monat schwanger. Ihren Mann und ihre neunjährige Tochter musste sie zurücklassen. Für weitere Flugtickets reichte das Geld nicht. Außerdem hatte die Neunjährige keine Papiere, die für die schnelle legale Flucht nach Marokko nötig gewesen wären. Denn was auf den ersten Blick wie eine in Ruhe geplante Migration aussehen mag, war nichts anderes als eine panische Flucht, um die körperliche Unversehrtheit ihrer beiden Kinder zu schützen.

Nachdem Gormenhs Mutter erfahren hatte, dass das Kind in Gormenhs Bauch wieder ein Mädchen war, hatte sie angekündigt, den Säugling gleich nach der Geburt zusammen mit der großen Enkeltochter zu beschneiden. Weibliche Genitalverstümmelung ist in Guinea sehr verbreitet. Um ihren beiden Kindern diese körperliche und seelische Grausamkeit zu ersparen, beschloss Gormenh zu fliehen. Nach Rücksprache mit ihrem Mann buchte sie einen Flug nach Marokko für sich und das ungeborene Kind und versteckte die große Tochter bei einer Frau im Norden des Landes, die man ihr empfohlen hatte. Da Gormenh Analphabetin ist, lernte sie die Adresse auswendig, um das Mädchen später wiederzufinden. „Es vergeht keine Sekunde, in der ich nicht an sie denke“, erzählt sie mit starrem Blick, während sie das wenige Monate alte Baby in ihrem Arm mechanisch wiegt.

Geflüchtete helfen Geflüchteten

In der marokkanischen Hauptstadt Rabat ist Gormenh mit ihrer erst wenige Wochen alten Tochter in einer der vier Wohnungen untergekommen, die die medico-Partnerorganisation ARCOM für subsaharische Frauen und ihre Kinder angemietet hat. ARCOM ist eine Selbstorganisation kongolesischer Flüchtlinge in Marokko, die sich seit ihrer Gründung 2005 für die Rechte von Migrant*innen einsetzt, unabhängig von deren Herkunft. Die Gründung von ARCOM war eine Reaktion auf die Aufrüstung der Grenzzäune um die spanischen Enklaven Ceuta und Melilla, in deren Folge der geplante Transit durch Marokko für viele Menschen aus Subsahara Afrika und anderen Ländern zum unfreiwilligen Daueraufenthalt wurde. „Wir haben Zufluchtshäuser geschaffen, weil viele der geflüchteten Frauen aus Ländern südlich der Sahara von Gewalt betroffen sind und ausgebeutet werden. Ihnen musste sofort geholfen werden“, erklärt Gründer Emmanuel Mbolela, der selbst aus dem Kongo geflohen ist und nun zwischen Holland und Marokko pendelt. Seine Flucht hat er in dem Buch „Mein Weg vom Kongo nach Europa“ verarbeitet. In den von ARCOM angemieteten und betreuten Wohnungen in Rabat können die Frauen und Kinder für einige Monate unterkommen. 26 Frauen und 20 Kinder aus Ländern wie Elfenbeinküste, Guinea, Kamerun, Mali und Liberia werden dort derzeit versorgt, darunter auch viele Babys, das jüngste gerade mal zwei Tage alt. Sie erhalten eine kostenlose Mahlzeit pro Tag sowie Unterstützung bei Arzt- und Behördenbesuchen, bei der Jobsuche und in Form von Alphabetisierungs- und Sprachkursen, die ARCOM auch für Marokkaner*innen geöffnet hat, um die Akzeptanz und Integration in der Nachbarschaft zu fördern.
 

Ohne die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen wie ARCOM wären die Geflüchteten in Marokko weitgehend auf sich allein gestellt. Die Migrationspolitik Marokkos ist widersprüchlich. Auf der einen Seite gab es 2014/15 und 2017 zwei vom König initiierte so genannte Regularisierungswellen, bei denen Tausende von Migrant*innen einen legalen Aufenthaltsstatus, Anspruch auf Schulbildung und Gesundheitsversorgung sowie Zugang zum Arbeitsmarkt erhielten. Auf der anderen Seite sind Afrikaner*innen, die aus Ländern südlich der Sahara kommen, in Marokko nicht nur rassistischen Anfeindungen und tätlichen Übergriffen auf der Straße ausgesetzt. Wenn sie keine gültigen Papiere haben, sind sie zudem ständig in Gefahr, von der Polizei festgenommen und über die marokkanisch-algerische Grenze in die Wüste deportiert zu werden. Die Polizei zerstört immer wieder in brutaler Weise die provisorischen Lager in den Wäldern um Nador, wo viele auf eine Gelegenheit zum Grenzübertritt nach Europa warten. Die Menschen werden geschlagen, ihre Zelte niedergebrannt, Mobiltelefone, Geld, Papiere und andere Habseligkeiten zerstört oder konfisziert; einige Migrant*innen werden inhaftiert und andere in Bussen zur algerischen Grenze transportiert oder in der Sahara ausgesetzt. Möglichst weit weg von den spanischen Enklaven und der Küste.

Strategien und Lebensrealitäten

An dieser unmenschlichen Abschiebepraxis hat sich auch nichts geändert, nachdem Marokko 2014 als erstes nordafrikanisches Land eine „Nationale Migrations- und Asylstrategie“ auf den Weg brachte. Die Umsetzung dieser Strategie wird seit 2016 von der Deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) gefördert. Die GIZ ist ein deutsches Bundesunternehmen, dessen Hauptauftraggeber das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung ist. Sie erhält außerdem Unterstützung aus dem 2015 zur Bekämpfung irregulärer Migration eingerichteten Treuhandfonds der EU für Afrika (EUTF), der sich größtenteils aus Geldern der Entwicklungszusammenarbeit speist, die umgewidmet wurden. Oberstes Ziel des EUTF ist es, die Ankünfte irregulär reisender Migrant*innen aus Afrika in Europa zu reduzieren und die Zahl der Rückkehrer*innen zu erhöhen. Ein im Januar 2020 veröffentlichter Bericht von Oxfam zum EUTF trägt den Untertitel „Trapped between aid policy and migration politics“. Der Bericht ist der aktuellste Beleg dafür, dass die Genehmigung von Entwicklungsprojekten in Ländern wie Marokko an Fortschritte bei der Eindämmung irregulärer Migration und bei Verhandlungen über Rücknahmeabkommen gekoppelt ist. 55 Prozent der EUTF-Mittel für Nordafrika werden direkt für Projekte zur Migrationssteuerung eingesetzt, um Migrant*innen an der Überquerung des Mittelmeers zu hindern, berichtet die Organisation.
 

Die Frauen, die wir in den Unterkünften von ARCOM treffen, haben in ihren Herkunftsländern und auf der Flucht Unbeschreibliches erlebt. Sie berichten von körperlicher Gewalt, Zwangsehe und Krieg. Viele von ihnen, darunter auch Minderjährige, kommen schwanger in Marokko an, weil sie unterwegs vergewaltigt wurden. Manchen hat man die falsche Hoffnung gemacht, mit einem Baby bessere Chancen auf eine legale Einreise nach Europa zu haben. Auch Salimata* ist schwanger. Sie kommt aus dem westafrikanischen Mali, wohin Europa gerne deutlich mehr Menschen als bisher rückführen würde, obwohl die Bundeswehr gleichzeitig ihre militärischen Aktivitäten erhöhen will, weil die Sicherheitslage immer schlechter wird. Salimatas Dorf liegt im Norden Malis, der seit 2012 von einem immer unübersichtlicher werdenden Bürgerkrieg beherrscht wird. Nachdem ihr Vater – ein Dorfvorsteher – ermordet wurde, musste auch sie um ihr Leben fürchten und floh. Ihr Mann und ihre beiden kleinen Kinder tauchten in der malischen Hauptstadt Bamako unter. Salimata floh auf dem Landweg über Niger nach Libyen. Dort wurde sie zwei Mal inhaftiert und in Haft geschlagen, ausgepeitscht und vergewaltigt. Beidemal kaufte sie sich mit Geld von ihrer Familie in Mali frei. Schließlich fand sie Arbeit als Hausangestellte bei einer libyschen Familie, wurde aber auch von ihrer Arbeitgeberin misshandelt, sodass sie sich entschloss, über Algerien nach Marokko weiter zu fliehen. Sie ist wie die anderen Frauen froh, dass sie bei ARCOM Unterschlupf gefunden hat und bei der Geburt ihres Kindes begleitet wird. Perspektiven für ihre Zukunft kann sie kaum formulieren.
 

Christie Niamien steht den Frauen nach ihrer Ankunft bei ARCOM bei. Sie arbeitet seit 2016 für die Organisation. So gut sie kann, hilft sie bei allen Fragen, die das Leben in Marokko betreffen, und unterstützt die Frauen bei ihrer weiteren Lebensplanung. Christie kommt aus der Elfenbeinküste und ist selbst vor einigen Jahren bei dem Versuch gescheitert, das Mittelmeer auf einem Schlauchboot nach Europa zu überqueren. Sie hatte jedoch Glück und profitierte von der ersten Regularisierungswelle in Marok ko. Sich in Marokko eine Zukunft aufzubauen, ist jedoch auch für sie nicht leicht. Aufgrund ihrer Erfahrungen versteht sie die Not der Frauen nur zu gut. Zwar kann sie sie nur begrenzt unterstützen, und doch sind alle dankbar, dass sie da ist und hilft. Häufig muss Christie mit ansehen, dass Frauen die Unterkunft plötzlich verlassen und mit ihren Kindern in die Wälder um Nador oder an die Küste der Westsahara aufbrechen, weil sich eine Gelegenheit ergeben hat, die Überfahrt nach Europa zu wagen. Wohl wissend um die Gefahren: „Wir respektieren diese Entscheidung“, erklärt Christie. „Fast alle wollen weiter nach Europa, wenige versuchen es hier, so gut wie keine will zurück in ihr Herkunftsland. Wie viele tatsächlich in Europa ankommen, wissen wir leider nicht.“

*Name geändert

 

Auch wenn die von medico und dem transnationalen Netzwerk Afrique-Europe-Interact unterstützen Zufluchtswohnungen von ARCOM für Viele nur eine Etappe auf einer beschwerlichen Reise sind: An einem sicheren Ort willkommen und begleitet sein, sich ausruhen dürfen und Unterstützung erfahren, andere Frauen in einer ähnlichen Situation treffen, in Ruhe gebären können und Lernen dürfen – all das sind gerade in dem extrem gewaltvollen Kontext der Flucht von Frauen heilsame Erfahrungen.

Spendenstichwort: Flucht und Migration


Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 1/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Ramona Lenz (Foto: medico)

Ramona Lenz ist Sprecherin der Stiftung medico. Über viele Jahre war die Kulturanthropologin in der Öffentlichkeitsarbeit von medico international zuständig für das Thema Flucht und Migration.

Twitter: @LenzRamona


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