Der umstrittene Beschluss des Bundestages über den sogenannten Israel-bezogenen Antisemitismus, der Aktivitäten, denen eine Nähe zur palästinensischen Boykott-Desinvestition-Sanktionen-Bewegung (BDS) unterstellt werden kann, dem Antisemitismus-Vorwurf aussetzt, treibt immer neue Blüten. Zuletzt wurde jüdisch-israelischen Student*innen an der Kunsthochschule Weißensee in Berlin für ihr Projekt „Unlearning Zionism“ die öffentliche Unterstützung entzogen und der Auftritt auf der Website der Kunsthochschule gestrichen.
Geschichte und ihre Interpretation unterliegen immer der politischen Instrumentalisierung. Im Angesicht dessen hat sich in Deutschland eine Debatten- und Wissenschaftskultur um einen erinnerungspolitischen Diskurs seit den 1980er Jahren entwickelt, die sich so gut es ging von dieser Instrumentalisierung fernhielt. Die jüdischen Museen, das Fritz-Bauer-Institut, das Zentrum für Antisemitismusforschung in Berlin, all die Einrichtungen zur Erforschung und Darstellung der nationalsozialistischen Verbrechen haben genauso die Grundlage dafür gelegt wie zahlreiche Wissenschaftler*innen, darunter Aleida Assmann, Michael Brumlik, Michal Bodemann, Susan Neiman. Die lange Liste lässt sich heute um eine jüngere Generation erweitern, die auch die eigene Einwanderungs- und Migrationserfahrung u.a. aus Israel und nicht zuletzt die spezielle Erfahrungsversion einer transgenerationalen jüdischen DDR-Biografie einbringt.
Und trotz des aufgeheizten und polarisierten Klimas, trotz geforderter Auftrittsverbote wie gegen Achille Mbembe oder Streichung von Zuschüssen finden Veranstaltungen wie die Podiumsdiskussion kürzlich im HAU (Hebbel am Ufer) in Berlin statt, bei der sich drei prominente Jüd*innen, die auch eine israelische Staatsbürgerschaft besitzen, für einen radikalen Universalismus stark machen: Eva Illouz, Susan Neiman und Omri Boehm. Letzterer hat gerade in seinem jüngsten Buch einen binationalen Einheitsstaat vorgeschlagen, zu dessen Grundlage allerdings eine Form des politischen Vergessens von Holocaust und Nakba gehören müsse, also ein Ende gegenseitiger Aufrechnung von Leiderfahrungen, die die jeweils verhärtete Position legitimiert. Der Vorschlag ist für die Zukunft vernünftig, lässt aber die gegenwärtige Asymmetrie zwischen jüdischen Israelis und Palästinenser*innen außer Acht.
Denn nach wie vor gibt es keine Gleichberechtigung in der Debatte. Und dazu hat der Bundestagsbeschluss auf unsägliche Weise beigetragen. Er ist nichts weiter als ein Maulkorb für unterschiedliche palästinensische Stimmen, die in die gleichmachende Ecke des Antisemitismus-Vorwurfs gesetzt und zur Stummheit verdammt werden. Der palästinensische Filmemacher Elia Suleiman erzählt davon im Film „Vom Gießen des Zitronenbaums“, indem er sich schweigend der Welt gegenüberstellt. Wer sich die „School of unlearning Zionism“ im Internet angesehen hat, konnte sich ein Bild davon machen, wie sich hochangesehene kluge palästinensische Intellektuelle für den Mut bedanken, dass man sie anhört. Das ist erschütternd.
Wenn es also so ist, dass die deutschen Verbrechen Geschichte geworden sind und insoweit ihre Interpretation für jeden Zweck – gut oder schlecht – instrumentalisierbar sind, soweit sogar, dass nun die Deutschen die höchsten Richter*innen darüber spielen, wer Antisemit*in ist und wer nicht, dann hilft dagegen umgekehrt nur ein reflektiertes Verständnis von Universalismus. Universalismus geht nur ohne Asymmetrie. Es bedarf also der Reparatur und der Reparation. Das betrifft die reichen Länder und ihre Bevölkerungen gegenüber denen, die sie jahrhundertlang ausgebeutet haben, genauso wie Israel gegenüber den Palästinenser*innen. Und dann ließe sich auch der Gedanke von Omri Boehm noch einmal weiterdenken: Dass zum Universalismus auch das Vergessen gehört, zumindest in der Politik. Aber vergessen kann man nur, wenn man sich zuvor erinnert. Dabei muss Europa sich, wie der indische Historiker Dipesh Chakrabarty forderte, provinzialisieren, einschließlich der in Europa begangenen Verbrechen. Die Deutungshoheit und Interpretation der universalistischen Werte muss die Weltprovinz Europa aufgeben, um sie allen zu überlassen.
An einer derartigen Idee des Universalismus gilt es zu arbeiten, zu streiten, Erfahrungen des Scheiterns zu reflektieren und alle Stimmen zuzulassen, soweit sie sich eben um ihn bemühen. Der BDS-Beschluss des Bundestages hat ohne Zweifel einen großen Schaden angerichtet. Aber er ist in erster Linie ein fadenscheiniges politisches Instrument im Verhältnis zu einer israelischen Politikerklasse, die ja vielleicht auch nicht ewig bleibt. Nach Trumps Abwahl, rufen die Demonstrant*innen in Israel, muss nun auch Nethanyahu fallen. Schauen wir mal.