medico: Israel war 2023 ein Land in Aufruhr: Gegen den geplanten Justizputsch der rechten Koalitionsregierung von Premier Netanjahu gingen Hunderttausende auf die Straße. Dann kam der 7. Oktober. Was hat der Überfall der Hamas mit der israelischen Gesellschaft gemacht?
Hanno Hauenstein: Der Angriff hat eine große Wunde gerissen. Da ist die Trauer um die Opfer, da ist Sorge um die Geiseln und da ist eine tiefe Verunsicherung. Es ist eine Gesellschaft im Kriegsmodus, die sich in einem Kampf um die Existenz wähnt. Im öffentlichen Raum ist der Krieg omnipräsent, überall sieht man Schilder mit Parolen wie „Gemeinsam werden wir siegen“. Ich habe im Dezember das Gelände des Nova Music Festivals besucht, auf dem Menschen brutal ermordet worden sind. Dort ist eine Art improvisiertes Mahnmal entstanden und man spürt, wie frisch das Trauma ist. Gleichzeitig hört man im Hintergrund dieses Wummern von den Einschlägen der Bomben in Gaza, das tatsächlich nur wenige Kilometer entfernt ist. Ich habe mich gefragt: Wie ist hier Erinnerung und Trauer möglich, wenn sich andere Gewalt dort so unmittelbar fortsetzt?
Muriel Asseburg: Mit dem 7. Oktober sind die Traumata der israelischen Gesellschaft wiederaufgebrochen. Genau das sollte der Überfall bewirken: Es war ein gezielter Angriff auf das Sicherheitsgefühl Israels. Dazu passt, dass die Gräueltaten von den Tätern aufgezeichnet und übertragen wurden. Es ging darum, Horror zu erzeugen. Die Reaktion in Israel ist ein Rückzug ins Kollektiv, in ein bedrohtes Wir, das die militärische Antwort auch in sehr hohem Maße unterstützt.
Riad Othman: Unsere Kolleg:innen in Israel haben uns berichtet, welch tiefer Riss auch die progressiven Kräfte im Land durchzieht und wie groß die Enttäuschung über die geringe Anteilnahme von langjährigen Verbündeten ist, sei es in der globalen Linken, sei es von Palästinenser:innen. Man darf aber nicht übersehen, dass es in Israel immer noch Beispiele für die Zusammenarbeit zwischen jüdischen und arabischen Initiativen gibt, die sich gemeinsam für eine nicht militärische Lösung und einen friedlichen Ausgleich einsetzen. Aber solche Ansätze sind randständiger als jemals zuvor. Gleichzeitig gibt es die Kritik von Angehörigen der Opfer des 7. Oktobers und der Geiseln an deren politischer Indienstnahme: Sie wollen nicht, dass ihre Freunde oder Angehörige dazu benutzt werden, das Leid zu rechtfertigen, das nun den Menschen in Gaza zugefügt wird.
Muriel Asseburg: In der Tat gibt es Risse in dem Kollektiv. Zum einen ist das „Wir“ ganz überwiegend ein jüdisches. Die palästinensischen Staatsbürger:innen Israels werden von der Mehrheitsgesellschaft als Teil „der anderen“ gesehen. Zudem gibt es in der Mehrheitsgesellschaft eine große Kritik an der Regierung, an ihrem Versagen vor dem 7. Oktober, am Versagen des Militärs und der Geheimdienste. Man steht also hinter dem Krieg, aber nicht hinter der Regierung.
Während es weltweit große Kritik an der israelischen Kriegsführung in Gaza gibt, wird diese aktuellen Umfragen zufolge von knapp zwei Drittel der Israelis befürwortet. Wie lässt sich das erklären?
Hanno Hauenstein: Die Lage der Menschen in Gaza ist in Israel kaum präsent. In den größeren Medien abseits Haaretz und etwa +972 wird so gut wie gar nicht darüber berichtet, wie viele Menschen dort getötet werden und wie groß das menschliche Leid ist. Es wird auch nicht darüber diskutiert, was dieser Krieg mit einer Generation palästinensischer Jugendlicher macht, wie viel Hass er produziert. Diskutabel sind einzig die Fragen, ob die Art der Kriegsführung der Befreiung der Geiseln dienlich ist und ob die Zerstörung der Hamas ein realistisches Ziel ist.
Riad Othman: Die Forderung nach einer Waffenruhe gilt im Prinzip nur dann als legitim, wenn man mit dem Schutz der Geiseln und der Rettung des jüdischen Lebens argumentiert, das durch den harten Militäreinsatz eher gefährdet wird. Das hat wenig mit Mitgefühl mit der palästinensischen Bevölkerung in Gaza zu tun.
Muriel Asseburg: Es geht in diesem Krieg zum einen um Vergeltung und zum anderen darum, eine Situation herzustellen, in der sich die israelische Gesellschaft nicht mehr bedroht fühlt. Und da unterstützen die meisten Israelis die Vorstellung, dass dies am besten militärisch und durch eine Vernichtung der Hamas erreicht werden kann. Diese Haltung zeigt auch, wie groß die Entmenschlichung geworden ist, bei der man die andere Seite nur noch als Feind wahrnimmt.
Der israelische Verteidigungsminister Yoav Gallant sagte vor Beginn des Angriffs auf Gaza: „Wir kämpfen gegen menschliche Tiere.“
Riad Othman: Solche Formulierungen stoßen in der israelischen Mehrheitsgesellschaft nicht auf Widerspruch oder Empörung – genauso wenig, wie TikTok-Videos, in denen junge Israelis die Bevölkerung Gazas in ihrer Not verhöhnen. Die Entmenschlichung des Gegenübers ist weit fortgeschritten. Sie hat aber auch nicht erst am 7. Oktober oder unter der extrem rechten Regierungskoalition begonnen. Eine Erniedrigung „des Arabers“ oder „des Palästinensers“ hat eine lange Tradition im öffentlichen Diskurs in Israel.
Muriel Asseburg: Das Scheitern der Osloer Friedensgespräche vor rund 20 Jahren war ein Wendepunkt. Damals wurde über eine Konfliktregelung verhandelt, die die legitimen Interessen und Rechte der jeweils anderen Seite anerkennt. Das Scheitern hat zu dieser Entmenschlichung beigetragen, die seither auf beiden Seiten stattfindet. Man möchte nicht mehr anerkennen, dass auch auf der anderen Seite Menschen existieren, die legitime Ansprüche haben – auf Selbstbestimmung, Land und Sicherheit. Im Krieg dient die Entmenschlichung dann der gesellschaftlichen Mobilisierung.
Du hast eben von der Entmenschlichung auf beiden Seiten gesprochen. Tatsächlich gibt es auch viele Videos, in denen Palästinenser:innen das Massaker am 7. Oktober feiern. Wie kann das sein? Und wie groß ist die Unterstützung für die Hamas tatsächlich?
Muriel Asseburg: Aktuelle Umfragen zeigen, dass die Hamas in der palästinensischen Bevölkerung infolge des 7. Oktobers an Zustimmung gewonnen hat, in der Westbank weit stärker als in Gaza. Darin spiegelt sich auch, was in der israelischen Gesellschaft passiert. Die Palästinenser:innen sehen die Gewalt in Gaza als Fortsetzung der Nakba, der Flucht und Vertreibung von Palästinenser:innen, die mit der Staatsgründung Israels 1948 einherging, aber nicht als Konsequenz der Taten der Hamas vom 7. Oktober. Und auch hier gibt es eine Politik der Bilder: 85 Prozent der Befragten geben an, dass sie keine Videos der Gräueltaten vom 7. Oktober kennen, und glauben auch nicht, dass diese so stattgefunden haben. Was sie hingegen kennen, sind Bilder vom Überwinden des Grenzzauns und der Eroberung israelischer Militärstationen und Panzer – also die „Siegesbilder“. Diese wirken vor allem in der Westbank, wo die Leute weder im gleichen Ausmaß wie im Gazastreifen die Folgen zu tragen haben noch jemals unter der Herrschaft der Hamas gelebt haben. Dazu passend wünschen sich 75 Prozent der Befragten in der Westbank, dass die Hamas auch künftig den Gazastreifen kontrollieren soll. Im Gazastreifen selbst sagen das nur 38 Prozent.
Hanno Hauenstein: Es ist eine interessante Frage, ob die Hamas künftig eigentlich noch regieren will. Es steht ja auch die These im Raum, dass sie kein Interesse daran hat, weiterhin Verwalter eines schlechten Status quo zu sein. Wenn dem so wäre, könnte man den 7. Oktober vonseiten der Hamas auch als Versuch werten, in eine neue Rolle zu kommen: weg von der Regierungsrolle, zurück zur Rolle als zentrale Kraft palästinensischen Widerstandes.
Muriel Asseburg: Ich glaube tatsächlich, dass die Hamas nicht länger im bisherigen Rahmen regieren wollte. Als Regierungsverantwortliche in Gaza müsste sie auf Dauer mit Israel – zumindest indirekt – kooperieren, um ihre Herrschaft aufrechtzuerhalten, und liefe Gefahr, über kurz oder lang ähnlich zerrieben zu werden wie die Autonomiebehörde in der Westbank. Diese Situation bot ihr keine Perspektiven. Mit dem 7. Oktober hat sie sich in den Augen vieler in der palästinensischen Bevölkerung nun wieder als „Befreiungsbewegung“ behauptet, die die Dinge in die Hand nimmt.
Riad Othman: Der Angriff am 7. Oktober hat der internationalen Gemeinschaft tatsächlich gezeigt, dass es kein Weiter-so geben kann. Für die palästinensische Seite bedeutete der Status quo mit einem fortgesetzten Siedlungsbau in der Westbank und einem abgeriegelten, immer mehr verelendenden Gazastreifen eine kontinuierliche Verschlechterung.
Hanno Hauenstein: Wenn wir über die Motive und Strategien sprechen: In der israelischen Regierung gibt es mehrere rechtsradikale Hardliner, die schon lange eschatologischen Rachefantasien anhängen – also auch der Idee, den Gazastreifen einzunehmen und „Gush Katif“, ehemalige israelische Siedlungen, dort erneut zu errichten. Die extreme Rechte hat im Grunde genommen nur auf solch eine Eskalation gewartet. Grundsätzlich ist auffällig, wie abwesend viele essenzielle Fragen – Fragen um die Rolle der Siedlungspolitik und um existierende Apartheid, sprich systematische Rassendiskriminierung von Palästinensern – in der deutschen Diskussion sind. In Diskussionen um dieses Thema in Deutschland klingt es oftmals so, als habe die Logik der Gewalt am 7. Oktober begonnen – nicht 2009, nicht 1967, nicht 1948. Ich würde mir wünschen, dass diese Kontexte wahrgenommen werden – keineswegs als Rechtfertigung der Gewalt vom 7. Oktober, sondern als ernsthafter Versuch zu verstehen, was eigentlich passiert.
Bevor wir auf die internationale und deutsche Situation zu sprechen kommen, sollten wir nach Gaza schauen. Riad, du stehst weiterhin in Kontakt zu den medico-Partnerorganisationen vor Ort. Was bedeuten die umfassenden Zerstörungen für die Menschen?
Riad Othman: Die Lage in Gaza ist so verzweifelt wie nie. Schon in früheren Kriegen wurden Tausende Menschen verletzt, verkrüppelt und getötet. Diesmal aber sind fast alle Bewohner:innen zu Binnenvertriebenen geworden. Es gibt keinen sicheren Ort im Gazastreifen. Wir waren auch noch nie in der Situation, jeden Tag aufs Neue nicht zu wissen, ob unsere Partnerinnen und Partner noch am Leben sind. Die aktuelle Situation unterscheidet sich von früheren Auseinandersetzungen auch durch die eklatante humanitäre Not. In früheren Kriegen hat Israel die Lieferung von Hilfsgütern aus dem Westjordanland, aus Jordanien oder aus Israel selbst zugelassen. Im Moment sind nur Hilfslieferungen aus Ägypten erlaubt und selbst diese werden so streng reglementiert, dass laut Welternährungsprogramm neun von zehn Binnenvertriebene in Gaza akut unter Hunger leiden. Den Menschen stehen im Schnitt weniger als zwei Liter Trinkwasser täglich zur Verfügung und das Gesundheitswesen ist vollständig zusammengebrochen – bzw. gezielt zerstört worden.
Südafrika hat vor dem Internationalen Gerichtshof IGH eine Klage gegen Israel eingereicht wegen Genozid, also Völkermord an der palästinensischen Bevölkerung in Gaza. Ein Genozid ist definiert als „Absicht, eine nationale, ethnische, rassische oder religiöse Gruppe als solche ganz oder teilweise zu zerstören“. Wie seht ihr das?
Muriel Asseburg: Die Klage hat die internationale Aufmerksamkeit darauf gelenkt, was konkret im Gazastreifen passiert. Sowohl die Klageschrift als auch die Anhörungen haben das eindrücklich dargelegt. Und sie haben gezeigt, dass es sehr viele Aussagen von israelischen Verantwortlichen gibt, in denen die Absicht formuliert wird, die Bevölkerung Gazas auszudünnen, zu vertreiben, zu dezimieren. Ob der IGH daraus die Schlussfolgerung ziehen wird, dass es sich um Völkermord handelt, werden wir erst nach Abschluss eines Verfahrens wissen. Das wird einige Jahre dauern. Die Klage ist aber auch deshalb wichtig, weil der IGH kurzfristig anordnen kann, humanitären Zugang zu gewährleisten, die Zivilbevölkerung zu schützen, Völkermord zu verhindern, Hetze einzustellen und Beweise zu sichern, um Straftäter später zur Verantwortung ziehen zu können.
Ist denn davon auszugehen, dass Israel auf solche Anordnungen reagieren wird?
Muriel Asseburg: Auf jeden Fall. Die israelische Regierung hat ja auch mit dem Gericht kooperiert und ihren Standpunkt bei der Anhörung sehr klar vertreten. Man darf nicht übersehen, dass Israel die Völkermordkonvention, eine direkte Folge der Shoah, unterzeichnet hat, ihr eine herausgehobene Bedeutung beimisst und in diesem Zusammenhang auch die Rolle des IGH anerkennt. Hinzu kommt, dass der internationale Druck auf Israel hoch wäre, Anordnungen des IGH Folge zu leisten, weil alle anderen Unterzeichnerstaaten auch der Verpflichtung unterliegen, Völkermord zu verhindern – sie sind also angehalten, solche Maßnahmen zu unterstützen.
Die Bundesregierung tritt in dem Verfahren an der Seite Israels auf. Als Drittpartei in Form der Nebenintervention hat sie bereits klar Stellung bezogen. Die Vorwürfe entbehrten jeder Grundlage, heißt es. Missachtet die Bundesregierung die internationale Justiz, indem sie dem Verfahren damit vorgreift?
Riad Othman: Im ersten Schritt muss der IGH entscheiden, ob ein ordentliches Verfahren wegen des Verdachts der Verletzung der Genozid-Konvention durch den Staat Israel eröffnet wird. Darauf bezieht sich die Erklärung der Bundesregierung. Ich werte sie als klares politisches Signal sowohl an Südafrika als auch an den IGH: „Wenn ihr das Verfahren gegen Israel eröffnet, dann werdet ihr aus Deutschland starken Gegenwind bekommen.“ Das wiederum steht in der Kontinuität früherer Stellungnahmen der Bundesregierung, etwa zu den Ermittlungen des Internationalen Strafgerichthofs.
Hanno Hauenstein: Das deutsche Statement gibt eine klare Richtung vor, die die in der Klage aufgeführten Belege einfach vom Tisch wischt. Das wirft eine zentrale Frage auf: Was heißt eigentlich historische Verantwortung in Deutschland im Jahr 2024? Was heißt Erinnern in Deutschland an den Holocaust? Wie gehen wir als Täternation mit unserer Verantwortung um? Wer darf Erinnerung interpretieren – und wie? Ich finde, dass wir uns diese Art Fragen stellen müssen. Und ich sehe, dass die Beantwortung eben sehr oft in die Richtung geht, dass man sich so offen und stark wie möglich solidarisch mit Israel zeigen müsse, übrigens ungeachtet dessen, wer dort in der Regierung sitzt und was diese Regierung tut.
Die Fragen stellte Steen Thorsson. Das Gespräch ist eine stark gekürzte Version der Folge „No way out?“ des medico-Podcasts Global Trouble aus dem Januar 2024.
medico-Kooperationen im Ausnahmezustand
Die Physicians for Human Rights (PMRS) – Israel haben nach dem 7. Oktober Überlebende der Angriffe der Hamas medizinisch versorgt. Gleichzeitig setzen sie sich mit anderen Partnerorganisationen wie PCATI und HaMoked für die Rechte palästinensischer Gefangener in Israel ein. Gemeinsam mit Adalah kämpfen beide gerichtlich für den humanitären Zugang nach Gaza. Dort kümmert sich die Palestinian Medical Relief Society um die Gesundheitsversorgung Vertriebener und evakuiert Verletzte. Humanitäre Hilfe leisten die Jugendorganisation Mayasem Association for Culture & Arts in Rafah und die Culture & Free Thought Association aus Khan Younis (> S. 24), während die Union of Agricultural Work Committees unter großen Gefahren Lebensmittelpakete zu notleidenden Familien bringt. Im Westjordanland helfen die Kulturzentren Popular Art Center und Jadayel Gestrandeten aus Gaza, Arbeit in landwirtschaftlichen Kooperativen zu finden, und unterstützen u. a. jene Arbeiter:innen, denen die israelische Arbeitsgenehmigung entzogen wurde.