Ich bin, wie viele andere in der arabischen Welt, mit den Worten des reformistischen Islamgelehrten und ägyptischen Antikolonialisten Mohamed Abdou aufgewachsen. „Ich sah Muslime ohne Islam“, schrieb er zusammenfassend über eine Reise nach Europa im Jahr 1881. Der Kontinent sei Ort der Prosperität, des guten Lebens, des „Wahren, Schönen, Guten“, ein Ort der Gerechtigkeit, wo man „Mensch“ sein könne – so wie sich Abdou die Verwirklichung des Islam vorstellte. 1882 wurde Ägypten in Folge der Niederschlagung des Orabi-Aufstandes eine britische Kolonie.
Die Beziehung zwischen Kolonisierten und Kolonisator:innen ist für beide Seiten verstörend und irritierend, sagte die ägyptische Schriftstellerin Radwa Ashour. Auch Bewunderung war und ist Teil dieser komplexen Beziehung. Eine Bewunderung des Lebens, das man selber leben will, aber nicht erreichen kann – oft wegen eben jenen, die dieses Leben leben können. Die Komplexität dieses Verhältnisses hat auch mit der Komplexität der europäischen Aufklärung zu tun. Sie hat wichtige Grundkonzepte der Freiheit, der Gleichheit und der kollektiven wie individuellen Selbstbestimmung entwickelt, doch sie hat auch eine Kehrseite. Es ist kein Zufall, dass das Zeitalter der Aufklärung auch das Zeitalter des Kolonialismus war. Denn der Kolonialismus und seine Kontinuitäten bis in die heutige Welt beruhen nicht nur auf nackter Gewalt. Machtverhältnisse wurden und werden auch ideologisch durchgesetzt.
Der britische Philosoph und Vordenker der Aufklärung John Locke hat beispielsweise eine Theorie entwickelt, um Sklaverei zu rechtfertigen, und besaß selbst Anteile an Unternehmen, die Sklavenhandel betrieben. Er war keine Ausnahme: Der Kolonialismus insgesamt stützte sich auf die aufklärerischen Ideen von Moderne, Fortschritt und (europäisch verstandener) Zivilisation, die es global zu verbreiten gelte. Das wiederum geschah im Gefolge von Gewalt und Ausbeutung.
„Großbritannien hat zwischen 1765 und 1938 umgerechnet rund 45 Billionen Dollar alleine aus Indien abgeschöpft. Die Summe entspräche heute dem 17-Fachen des jährlichen Bruttoinlandsprodukts Großbritanniens“, rechnete die indische Wirtschaftswissenschaftlerin Utsa Patnaik vor. Diese Summe floss nicht nur nach Großbritannien selbst, sondern verteilte sich mit der Industrialisierung über Europa, Nordamerika und andere Siedlerkolonien. Darin lässt sich begründet eine Wurzel der ökonomischen Dominanz des Westens sehen. Während die formelle Kolonisation weitestgehend ein Ende gefunden hat, blieb die Dominanz auf wirtschaftlicher und politischer Ebene bestehen. Bis jetzt.
Angebote statt Forderungen
Die Hegemonie Europas wurde verteidigt und verfestigt. Doch sie bröckelt. Europa steht wirtschaftlich nicht mehr im Mittelpunkt der Welt und verliert an politischem Einfluss. So sagte Rainer Dulger, Präsident des Arbeitgeberverbands: „Der EU-Markt verliert an Bedeutung mit jedem Tag, der anbricht. Wir sind nicht mehr so attraktiv, wie wir glauben, und wir sind nicht mehr so gut, wie wir glauben.“ Die ökonomischen Kräfteverhältnisse verschieben sich nach Osten, insbesondere in Richtung China. Viele prognostizieren eine wirtschaftliche Aufteilung der Welt in einen Ost- und einen Westblock, wobei der Westblock Wohlstandsverluste erleiden werde. Doch auch der Westen ist nicht homogen. Laut Gideon Rachman, Chefkolumnist für Außenpolitik der Financial Times, verliert Europa im Wissenschafts-, Industrie- und Energiesektor gegenüber den USA den Anschluss.
Auch politisch schwindet die Bedeutung Europas. Das liegt nicht nur daran, dass andere Mächte stärker werden und größere Handlungsmacht erringen. Es liegt auch an Veränderungen im Selbstverständnis der ehemaligen Kolonien, auf die sich Europa bislang stützte. Während afrikanische Staatschefs regelmäßig zu Gesprächen nach Peking, Neu-Delhi, Doha und Riad reisen, muss sich Europa um Afrika als „strategischen Partner“ bemühen. Anstatt wie bislang üblich Forderungen zu stellen werden, Afrika nun Angebote gemacht. Das eröffnet den Umworbenen Spielräume. Sie können sich aussuchen, ob eine neue Bahnstrecke von chinesischen, europäischen oder japanischen Unternehmen gebaut werden soll. „Ruft nicht an – wir melden uns.“ Diese Veränderungen gehen nicht so weit, dass man sich nun auf Augenhöhe gegenübersäße und die Dekolonisierung endlich verwirklicht wäre. Für die afrikanischen Länder sind sie nicht mehr, aber auch nicht weniger als ein Zugewinn an Handlungsräumen in einem weiterhin ungleichen Spiel.
Zum ökonomischen Bedeutungsverlust tritt die innereuropäische Schwäche. Die Krise des Liberalismus und die rasante Rechtsverschiebung werden außerhalb des Kontinents als imperiale Arroganz verstanden: Die europäischen Diskurse sind nicht mehr anschlussfähig, sie kreisen ohnehin nur um sich selbst. In den sich mehr und mehr verengenden diskursiven und politischen Räumen kommen Stimmen von außen nur vor, um vorbestimmte Positionen „des Anderen“ zu vertreten und im Zweifelsfall diskreditiert zu werden. Eine Auseinandersetzung, in der „die andere Stimme“ ein echtes Gegenüber wäre, in das man sich hineinversetzt, um die Welt auch aus diesen Augen zu verstehen, findet nicht statt. Die Abwendung von Europa verdankt sich nicht zuletzt den offensichtlichen Widersprüchen zwischen europäischer Moral- und Menschenrechtsrhetorik und europäischem Handeln. Ob bei der Corona-Pandemie, in der Klima- und Migrationspolitik, dem Schweigen gegenüber manchen Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen sowie der Empörung gegenüber anderen – überall klafft eine gewaltige Lücke: Manche Leben zählen mehr als andere, nur manche gilt es zu retten.
Lange schien Europa von der fortschreitenden Globalisierung vorwiegend zu profitieren. Inzwischen wird deutlich, dass die „Weltwerdung“ auch Europa fordert und trifft. Deutlich wird das in der Klimakrise, in der Europa unfreiwillig Teil einer Welt geworden ist, die leidet, überschwemmt wird oder verbrennt; einer verletzlichen Welt. Waren Krisen bislang zumindest mehr oder weniger in alte Muster integrierbar, bringt die fortschreitende Klimakatastrophe das Gefühl der Ohnmacht mit sich. Diese bringt wiederum drei Reaktionen hervor: Hilfe, Gewalt und Absurdität.
Hilfe, Gewalt und Absurdität
Zur Hilfe. Diese war, insbesondere als Entwicklungshilfe, schon oft ein Ersatz für politische und ökonomische Veränderungen. Hilfe als Pflaster, das die Not schon lange nicht mehr bedecken kann. Angesichts des immer zerstörerischen Krisengeschehens lässt sich die Ohnmacht der Hilfe nicht mehr kaschieren. Außerdem ist sie unter den sich verändernden globalen Konstellationen als Machtinstrument längst nicht mehr so effektiv, wie sie es einmal war. Es ist kein Zufall, dass die Rufe nach einer Dekolonisierung von Entwicklungszusammenarbeit und Hilfe den Mainstream erreicht haben. Gewalt ist eine Reaktion auf die Ohnmacht angesichts der Klimakatastrophe. Diejenigen, denen man nicht mehr helfen kann oder möchte – die Verdammten dieser Erde von den vergessenen Orten der Verwüstung –, versucht man mit allen Mitteln fern- und abzuhalten, notfalls mit Gewalt. Bleibt die Absurdität. Eine der Blüten: Der Weltklimagipfel, die COP 28, findet in den Vereinigten Arabischen Emiraten statt, einer der größten Ölproduzenten der Welt, und soll vom Chef der nationalen Ölgesellschaft geleitet werden.
„Fast alle etablierten Staaten sagen, dass sie sich für eine gerechtere Weltordnung einsetzen wollen. Aber in Wirklichkeit ziehen sie alle die Zugbrücken hoch“, sagt Richard Gowan von der International Crisis Group bei den Vereinten Nationen. Der Umgang mit der Klimakatastrophe entspringt unmittelbar der dunklen Seite der Aufklärung. So handelt es sich beim europäischen Green Deal, wie der European Council for Foreign Relations beschrieben hat, vor allem um eine außenpolitische Agenda, mit dem Ziel „bis 2050 Klimaneutralität zu erreichen und die Transition in eine wirtschaftliche und industrielle Chance für Europa zu verwandeln“. Die ökologischen und menschlichen Kosten dieses Deals – vor allem, aber nicht nur – außerhalb Europas sind nicht von Belang. So wie die Industrialisierung für die entsprechenden Länder vernünftig war, die Kosten aber den kolonialisierten, versklavten, ausgebeuteten Menschen im Globalen Süden aufbürdete, so sind auch die Green Deals der Gegenwart vernünftig: Während die reichen Länder sich begrünen, exportieren sie die schmutzigen Produktionsabschnitte. Europa hat sich entschieden, dieselbe alte Geschichte weiterzuerzählen. Der Unterschied ist, dass die Welt nicht mehr zuhören und sich nicht mehr fügen muss.
Verpasste Möglichkeiten
So wie der Umgang des Westens mit der Corona-Pandemie eine vertane Chance war, böte auch die heraufziehende Klimakatastrophe Gelegenheiten. Überschwemmungen infolge extremer Niederschläge im Ahrtal, in Österreich und in Griechenland ebenso wie in Pakistan und in Libyen, Trockenheiten und Dürren in Frankreich und Spanien ebenso wie in Kenia: Angesichts solcher Momente hätte Verbundenheit entstehen können. Nicht in karitativ kaschierter, eigentlich aber fortgesetzter imperialer Form einer von Europa ausgehenden Rettung der Welt, sondern als Teil, als Mitglied der Welt.
Wieder Mitglied der Welt zu werden, würde bedeuten, sich auf eine Art in die Welt zu fügen, die für alle und alles ein gutes Leben ermöglichen kann. Es würde bedeuten, die Katastrophe eben nicht zu einer „wirtschaftlichen und industriellen Gelegenheit für Europa“ zu machen. Es würde bedeuten, die Geschichten der Menschen fortzuschreiben, die sich gegenseitig unterstützten, die Essen verteilten, die gemeinsam ihre Keller auspumpten, die halfen, Schutt beiseite zu räumen. Ob in Ahrweiler, Lagos, Darna, Volos oder in Zhengzhou.
Etwas verbindet diese Orte ganz unmittelbar: der Schlick, der nach jeder Flut zurückbleibt. Der martinikanische Denker Édouard Glissant macht den angeschwemmten Schlamm als Sediment aus scheinbar toten Elementen und verlorenen Dingen zur zentralen Denkfigur. Besonders in öden, verlassenen und stummen Orten bringt dieser Rückstand durch eine unerwartete Umkehr als Dünger neue Formen des Lebens und der Arbeit hervor. Die Möglichkeit, unsere Welt für die Zukunft widerstandsfähig zu machen, so Glissant, muss von der Unterseite unserer Geschichte her erschlossen werden – vom Eingeständnis her, dass Sklaverei und der „Kannibalismus“ der Kolonialmächte zu den Entstehungsbedingungen der westlich dominierten Moderne gehörten. Die moderne Welt, die aus diesen Strukturen hervorgegangen und darin immer noch gefangen ist, ist auf unzähligen menschlichen Knochen gebaut. Sie besteht aus Trümmern und Stümpfen, aus verstreuten und zusammengefügten Wortfetzen der Opfer.
Das Überleben der Menschheit hängt davon ab, die verkümmerte Menschlichkeit wiederzubeleben: Wir brauchen keine weiteren ungerechten Wirtschaftsabkommen, keine Fortsetzung einer auf Gewalt und Doppelmoral basierenden Weltordnung, sondern wir müssen die „Reservoirs des Lebens“ erschließen, wie Glissant fordert: diejenigen Akteure, Konzepte, Mittel und Worte finden, mit denen die Welt zu einem guten Ort für alle und alles werden kann.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!