Ukraine

"Den Betroffenen zuhören"

26.07.2022   Lesezeit: 9 min

Ukrainische Feminist:innen kritisieren in einem Manifest die westliche Linke und stellen Forderungen an den Diskurs über den Krieg. Worum es ihnen geht, haben wir Oksana Dutchak vom Magazin Commons gefragt.

Feministische Diskurse und Praxen sind vielschichtig, verflochten, verstritten, umstritten. Deshalb kann man kaum von Feminismus, sondern muss viel mehr von Feminismen sprechen. Es ist daher keine Überraschung, dass es keine einheitliche feministische Position zum Krieg gibt, sondern eine Auseinandersetzung. Gerade im Krieg, der die Zuspitzung patriarchaler und militarisierter Gewalt markiert, ist die öffentliche feministische Debatte wichtig; zur Erweiterung des Diskurses, zur notwendigen Verkomplizierung und als wichtige Stimme im Kanon von Emanzipation und Solidarität.

Um diesen Diskurs voranzutreiben, haben wir das nachfolgende Interview mit Oksana Dutchak geführt, die das Manifest ukrainischer Feminist:innen "The Right to Resist" mitveröffentlicht hat. Sie kritisiereb darin unter anderem die Position von Feminist:innen, die im März 2022 das Manifest "Feminist Resistance Against War" publiziert haben. Wir planen, die Debatte fortzusetzen.

medico: Ihr habt unter dem Titel „Das Recht auf Widerstand“ ein feministisches Manifest zum Krieg veröffentlicht. Warum feministisch?

Oksana Dutchak: Der Text ist eine Reaktion ukrainischer Feminist:innen auf den Diskurs von vor allem westlichen Feminist:innen über den Krieg in der Ukraine. Unser Eindruck ist, dass feministische Theorien und Positionen benutzt werden, um eine Ablehnung des ukrainischen Widerstands zu kaschieren. Frustriert hat uns auch, dass ukrainische Stimmen darin gar nicht auftauchen und auch nicht gefragt wurden, was sie dazu denken. Insofern soll unser Manifest eine alternative Positionierung aus der Ukraine selbst sein, von Menschen, die direkt vom Krieg betroffen sind. Deshalb die Unterschriften ukrainischer Feminist:innen und dazu von Feminist:innen aus anderen Ländern, die ihre Unterstützung für diese Haltung artikulieren.

Auf welche Positionen zum Krieg antwortet ihr mit dem Manifest?

Es gibt die Position, dass Krieg grundsätzlich patriarchal ist und Frauen und Feminist:innen sich abseits halten sollten. Aber im Kern geht es darum, dass gesagt wird, weil Frauen in der Ukraine leiden, muss der Krieg um jeden Preis beendet werden. Natürlich müssen wir alles dafür tun, damit der Krieg endet, aber was „um jeden Preis“ konkret bedeutet ist eben umstritten. Sicher kann es nicht darum gehen, einfach zu machen, was Russland will. Unser Eindruck ist, dass solche Aussagen aus privilegierten Positionen heraus gemacht werden, die nicht selbst betroffen sind und uns Ukrainer:innen die Möglichkeit absprechen, selbst zu entscheiden.

Für uns ist das auch deshalb schlimm, weil einer der Texte, auf den wir mit dem Manifest antworten, von wichtigen feministischen Theoretiker:innen unterzeichnet wurde, die wir sehr geschätzt haben. Unterschriften aus der Ukraine hatte dieser Text übrigens nicht und, soweit ich mich erinnere, nur zwei aus Russland. Was hat es mit Feminismus zu tun, andere über eine Situation zu belehren, von der man selbst nicht betroffen ist und Stimmen, die sie unmittelbar erleben, nicht zu berücksichtigen?

Könntest du etwas mehr dazu sagen, warum Solidarität in diesem Kontext feministisch sein sollte?

Zunächst hat dieser Krieg natürlich Auswirkungen auf die gesamte ukrainische Gesellschaft. Aber in einer Welt der Geschlechterungleichheit sind Frauen besonders betroffen. Viele Diskursbeiträge reduzieren Frauen aber auf die alleinige Rolle als Opfer. Das macht wohl eine Solidarisierung einfacher. Schwerer fällt es offenbar, sich mit Menschen zu solidarisieren, die sich weigern, Opfer zu sein und stattdessen versuchen, Widerstand leisten. Das finde ich erstaunlich insbesondere, wenn so etwas in westlichen linken und feministischen Diskursen passiert. Ich bin keine Freundin von Analogien in Argumenten, aber es hat etwas von victim blaming, wenn gesagt wird, dass auch die ukrainische Gesellschaft Schuld an der Eskalation hat. Opfer haben sich nicht zu wehren, sollen nicht zurückschlagen. Wir sprechen von feministischer Solidarität, um dem etwas entgegenzusetzen.

Für mich war am Feminismus immer essentiell, den unmittelbar Betroffenen nicht nur Raum zum Sprechen zu geben, sondern ihnen tatsächlich zuzuhören. Wenn du eine Situation nicht kennst oder dir Informationen fehlen, ist es aus feministischer Perspektive am naheliegendsten, Menschen von vor Ort zu fragen, welche Probleme sie haben und welche Unterstützung sie brauchen – und ihnen zuzuhören.

Ein weiterer Punkt ist die Unterstützung der Schwächeren, der von einem Angriff Bedrohten: Zum Beispiel Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft oder Frauen of Colour in einer patriarchalen und rassistischen Gesellschaft. Feministische Theorien und Bewegungen legen also einen Fokus auf die Unterdrückten in Strukturen der Ungleichheit. Wenn wir uns jetzt die ukrainische Situation anschauen, dann sehen wir eine imperiale Aggression in einer regionalen politischen Situation der Ungleichheit. Und dann sollten die gleichen Prinzipien gelten, das würde ich von feministischer Solidarität erwarten.

Ihr schreibt, „Kriegserzählungen stellen Frauen* oft als Opfer dar“. Wie nehmt ihr ihre Rolle wahr?

Es geht natürlich nicht darum, zu negieren, dass Frauen im Krieg zu Opfern werden, aber sie haben multiple Rollen, die Realität ist wie immer komplex. In Russland ist die wichtigste Bewegung gegen den Krieg die Feminist Anti-War Resistance. In einigen Stellungnahmen westlicher Feminist:innen wird dieser Widerstand in Russland, für den ich sehr dankbar bin, glorifiziert und gleichzeitig die Rolle von ukrainischen Frauen auf die der Geflüchteten und der Opfer festgelegt. Ja, aufgrund von Regierungsentscheidungen und der generellen Ungleichheitsstrukturen in der Gesellschaft sind es vor allem Frauen und Kinder, die fliehen. Aber Frauen spielen in diesem Krieg verschiedene Rollen, die wichtigste ist sicher ihre zentrale Rolle bei der sozialen Reproduktion der Gesellschaft. Diese Rolle spielen sie überall, aber hier im Krieg landet die vollkommen auseinanderfallende soziale Reproduktion auf ihren Schultern. Frauen kümmern sich nicht nur um das Überleben ihrer Familien, sondern arbeiten als Freiwillige für ihre Communities, helfen bei der Flucht und bei der Aufnahme von Flüchtlingen und leisten vieles mehr. Das braucht viele Ressourcen und das meiste davon passiert hinter den Kulissen. Und außerdem haben sich viele Menschen – und eben auch viele Frauen – dem militärischen Widerstand angeschlossen oder unterstützen das Militär. Das Verbindende ist ihr Versuch, die soziale Reproduktion aufrecht zu erhalten unter diesen drastischen, katastrophischen Umständen.

Habt ihr eine Beziehung zu Feminist:innen und der Antikriegsbewegung in Russland?

Ja, wir stehen in Kontakt miteinander, haben im Exil an gemeinsamen Veranstaltungen teilgenommen. Die Aktivist:innen in Russland tun, was sie können – auch wenn das wenig ist unter den Bedingungen der Repression unter Putin, der seit 2012 jeden oppositionellen Ansatz zerschlagen lässt. Insofern ist die Opposition gegen den Krieg sehr schwach, auch wenn ich, ehrlich gesagt, mehr erwartet hatte, nachdem es im Afghanistan- und Tschetschenien-Krieg sehr starke Bewegungen von Soldatenmüttern gab. Aber der aktuelle Kontext ist eben sehr feindlich. Für uns ist die Bewegung in Russland aber auch wichtig, um gegenüber westlichen Linken mit etwas Ironie sagen zu können, seht, die russischen Feminist:innen sehen es auch so. Wenn ihr uns schon nicht zuhört, dann hört wenigstens ihnen zu.

Was genau meinst du, wenn du von der „westlichen Linken“ sprichst?

Das ist natürlich eine Verallgemeinerung, aber ich glaube, es ist wichtig, sich diese besondere Ausformung der linken Bewegung anzuschauen. Vor allem, weil ihre Stimme aufgrund der Ungleichheit in der Welt die sichtbarste und lauteste der globalen Linken ist. Ikonen wie Noam Chomsky vertreten aktuell sehr problematische Positionen zum Krieg in der Ukraine, in der die Ukrainer:innen im Grunde nicht auftauchen und die sich nur aus einer west-zentrierten Sicht auf politische Prozesse erklären lassen.

Ich frage mich, ob diese Leute eigentlich zu anderen Konflikten in der Welt, zu denen sie dezidiert Stellung beziehen, eine bessere Informationslage haben als es offensichtlich in der Ukraine der Fall ist. Wenn man unsicher ist oder sich nicht gut auskennt, hört man Leuten wie Chomsky zu, denen man politisch vertraut. Aber ich frage mich jetzt, ob dieses Vertrauen eigentlich richtig war, denn dieser west-zentrierte Blick auf die Welt hat uns in die Situation gebracht, dass mit Leuten außerhalb der linken Bewegungselite kaum ein Dialog stattgefunden hat. Dabei stellen die Linken des Globalen Südens – und die Ukraine gehört hier zumindest teilweise dazu – die Mehrheit der globalen linken Bewegung.

Mit eurem Manifest stellt ihr eine Reihe Forderungen auf, eine ist der Schuldenerlass. Warum ist das wichtig aus eurer Perspektive?

Die Forderung nach einem Schuldenerlass ist insbesondere wichtig als Teil der Solidarität mit den Gesellschaften des Globalen Südens, die von der Schuldenabhängigkeit betroffen sind. Für die ukrainische Linke ist das keine neue Forderung. Seit 2014, als der Krieg in der Ost-Ukraine begann, rutschte das Land in eine Krise, auf die die Regierung mit einer Verstärkung ihres neoliberalen Programms reagierte. Das ging zumindest teilweise auf die Forderungen der internationalen Finanzinstitutionen zurück. Damals war unser Ziel noch an die ukrainische Regierung gerichtet die Aufschiebung der Schulden und ein Wirtschaftsprogramm, das die Austeritätsmaßnahmen beendet. Seitdem hat sich die Situation verändert: Wir erleben einen voll ausgeprägten Krieg, die Zerstörung von Infrastruktur, Gebäuden und so weiter. Damit geht aber auch einher, dass die Stimme der Bewegungen in der Ukraine vernehmbarer ist und wir nach Außen sprechen können.

Die Forderung nach einem Schuldenerlass ist wichtig, weil die Schulden nicht nur die wirtschaftliche Dimension haben, dass die Gesellschaft Schulden und Zinsen bedienen muss, sondern auch eine politische Dimension: Die Regierung kann keine unabhängige Wirtschaftspolitik betreiben – in der Regel will sie das gar nicht, aber das ist eine andere Frage, denn die Schulden dienen der Regierung als Argument, es nicht einmal versuchen zu können.

Aus feministischer Perspektive ist die Abhängigkeit von den Auslandsschulden auch deshalb fatal, weil die entsprechende Austeritätspolitik die soziale Infrastruktur und damit auch Arbeitsplätze von Frauen gefährdet, die unter anderem in Schulen, Kindergärten, Krankenhäuser besonders präsent sind. Diese Fragen werden in Zukunft besonders wichtig sein beim Wiederaufbau des Landes, damit Ungleichheit und Armut nicht weiter verschärft werden. Aber dafür braucht es nicht nur einen Schuldenerlass, sondern auch soziale Kämpfe und politischen Druck auf die Regierung.

Das Interview führten Moritz Krawinkel und Radwa Khaled-Ibrahim.

Das Commons: Journal of Social Criticism ist ein linkes ukrainisches Medienkollektiv, das 2009 gegründet wurde und heute als eine der wichtigsten linken Stimmen in der ukrainischen Zivilgesellschaft gilt. Immer wieder hat das commons-Kollektiv Debatten über die strukturellen Ursachen von sozialen Ungerechtigkeiten angestoßen und sich der Frage gewidmet, wie eine Gesellschaft ohne Ausbeutung und Diskriminierung verwirklicht werden kann.

medico unterstützt commons, damit das Kollektiv seine Arbeit auch während des Krieges weiterführen kann. Themen sind zurzeit unter anderem die internationalen Folgen des Krieges, progressive Perspektiven für den Wiederaufbau und Fragen von Hilfe und Solidarität.


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