Seit Beginn des russischen Angriffskrieges im Februar 2022 unterstützt medico die Landwirtschaftskooperative Longo Maï im Westen der Ukraine. Die Kooperative in Transkarpatien, nahe des Dorfes Nischnje Selischtsche ist Teil des europäischen Longo-Maï-Verbunds, der in den 1970er-Jahren gegründet wurde. Seitdem engagiert sich das Netzwerk an verschiedenen Orten Europas für solidarische und ökologische Lebens- und Wirtschaftsformen.
Unmittelbar nach Beginn des russischen Überfalls hat Longo Maï gemeinsam mit einem Netzwerk von Unterstützer:innen den Transport von Hilfsgütern in die umkämpfte Zentral- und Ostukraine organisiert und Menschen aus den Kampfzonen evakuiert. Gleichzeitig sind die Kooperative und das Dorf über Nacht zu einem Zufluchtsort für mehr als eintausend Menschen aus der Ostukraine geworden. Um die intern Vertriebenen unterzubringen und zu versorgen, hat Longo Maï in den ersten Wochen nach Kriegsbeginn mit medico-Hilfe Notunterkünfte in öffentlichen Gebäuden und Unterstützungsangebote für die ankommenden Menschen geschaffen. Ein Restaurant beispielsweise wurde in eine solidarische Kantine umgewandelt, in der Dorfbewohner:innen und Vertriebene gemeinsam kochen und kostenlose Mahlzeiten servieren. Damit wurde nicht nur die Versorgung der Geflüchteten si chergestellt, sondern zugleich ein Ort der Begegnung geschaffen.
Viele der Menschen, die in der Westukraine ankommen, können nicht mehr in ihre Heimatorte zurückkehren. Ihre Häuser wurden zerstört, befinden sich in umkämpften oder russisch besetzten Gebieten. Deshalb war schon früh klar, dass es auch längerfristige Bleibeorte und Perspektiven für die Vertriebenen in Nischnje Selischtsche braucht.
Vor diesem Hintergrund hat Longo Maï mit medico-Unterstützung und gemeinsam mit der Hilfsorganisation „Komitee der Medizinischen Hilfe in Transkarpatien“ (CAMZ) ein Schutzhaus aufgebaut, in dem geflüchtete Einzelpersonen und Familien für zunächst sechs Monate unterkommen können. Hier finden sie einen Rückzugsort und können das Erlebte mit Hilfe psychologischer Betreuung verarbeiten. Zufluchtsorte wie dieser sind selten in der Region, die Warteliste für die Unterkunft ist lang. Das liegt auch daran, dass inzwischen viele Menschen, die die Ukraine verlassen hatten, zurückkehren und sich im Westen des Landes niederlassen. Um ihnen eine echte Lebensperspektive zu bieten, arbeitet Longo Maï mit Unterstützung von medico an eigenen Unterkünften. Diese werden ergänzt durch Weiterbildungs- und Beschäftigungsangebote – auch für die lokale Bevölkerung. Diese ist eng in die Konzeption und Umsetzung der Vorhaben eingebunden. Das ist besonders wichtig, um Konkurrenz zu vermeiden und die Grundlage für ein solidarisches Zusammenleben zu schaffen.
Der langfristige Ansatz ist wichtig, denn fehlende Bleibeperspektiven im Westen sind einer der Gründe, warum Menschen trotz der Kämpfe in den Osten der Ukraine zurückkehren. Gleichzeitig kann die Arbeit von Longo Maï und CAMZ auch ein Vorbild für andere Gemeinden in der Ukraine sein: für ein solidarisches und integratives Miteinander in Zeiten des Krieges und darüber hinaus.
Longo Maï hat sich schon vor Beginn des russischen Angriffs gegen die Zerstörung von Natur und für den Schutz von Geflüchteten engagiert. Auch im Krieg stellen sie sich Neoliberalismus, Privatisierung und Vereinzelung entgegen und streiten für eine andere Ukraine.
Neben der Arbeit von Longo Maï unterstützt medico zurzeit in der Ukraine weitere humanitäre und politische Projekte: Suppenküchen in und um Charkiw versorgen Menschen in Notunterkünften mit Nahrung, Gesundheitsarbeiter:innen in Lwiw organisieren sich für bessere Arbeitsbedingungen im Gesundheitssektor, russische Aktivist:innen im georgischen Exil unterstützen unter anderem Deserteure und Wehrdienstverweigerer dabei, sich der Teilnahme am Krieg zu entziehen. Außerdem fördern wir die Aufnahme und Versorgung von Geflüchteten in Polen und Rumänien.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!