Von Gaza bis Sri Lanka

Zielscheibe Gesundheit

23.05.2024   Lesezeit: 8 min

Krankenhäuser und medizinisches Personal stehen unter hohem völkerrechtlichem Schutz. Doch immer häufiger werden sie angegriffen.

Von Felix Litschauer

Schon im Dezember 2023, der israelische Krieg in Gaza war erst wenige Wochen alt, verurteilte Tlaleng Mofokeng, der UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Gesundheit, den „unerbittlichen Krieg“ gegen Krankenhäuser und medizinisches Personal. Vergeblich. Anfang April war nach einem Militäreinsatz auf dem Gelände des Al-Shifa-Krankenhauses auch die größte Gesundheitseinrichtung des Gazastreifens zerstört. Nach sieben Monaten Krieg liegt die gesundheitliche Infrastruktur für 2,3 Millionen Menschen in Trümmern, darunter auch Einrichtungen der medico-Partnerorganisation Palestinian Medical Relief Society wie deren Zentrum für nicht übertragbare Krankheiten. Über 500 Gesundheitsarbeiter:innen wurden bislang getötet – mehr als doppelt so viele wie im Jahr 2022 weltweit. Die entgrenzte militärische Gewalt in Gaza ist nur der vorläufige Höhepunkt einer Entwicklung, in der die medizinische Infrastruktur selbst zur Zielscheibe wird.

Eigentlich genießen medizinische Einrichtungen und Gesundheitsarbeiter:innen im Krieg einen herausragenden völkerrechtlichen Schutz. Am Anfang stand 1863 die Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz. Unter Rückgriff auf den hippokratischen Eid sollte der Anspruch verwirklicht werden, dass kranke und verwundete Kombattant:innen jeder Kriegspartei behandelt werden können. 1949 einigte sich die Staatengemeinschaft in Genf unter dem Eindruck von zwei Weltkriegen auf umfassende humanitäre Standards, die auch die Zivilbevölkerung in Kriegszeiten schützen sollten. Laut Artikel 18 der Genfer Konvention dürfen Gesundheitseinrichtungen „unter keinen Umständen angegriffen werden, sondern sind von den Konfliktparteien jederzeit zu achten und zu schützen“. Das gilt unabhängig davon, ob es sich um gezielte Militäroperationen handelt oder wahllosen Beschuss.

Medizinische Hilfe als Straftat

Die Genfer Konvention hat Gesundheitseinrichtungen zwar de facto nie vollständig geschützt. Doch in den letzten 15 Jahren hat sich die Intensität der Angriffe immens gesteigert. Die jährlichen Berichte der Safeguarding Health in Conflict Coalition (SHCC) – die langjährige medico-Partnerorganisation Physicians for Human Rights Israel ist Mitglied – dokumentierte allein für das Jahr 2022 fast 2.000 Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen und ihr Personal, mehr als jemals zuvor. Der Bericht erzählt von Ärzt:innen in Myanmar und im Iran, die inhaftiert und auch ermordet wurden, weil sie hilfsbedürftige Menschen behandelt hatten. Er dokumentiert die Misshandlung von Gesundheitsarbeiter:innen in Afghanistan. Er erinnert an die Ermordung von Helfer:innen in Pakistan, deren Vergehen darin bestand, Kinder gegen Infektionskrankheiten geimpft zu haben. Und er kündet von mehr als 700 Militärschlägen Russlands gegen die ukrainische Gesundheitsversorgung. Mit dem Krieg in Gaza werden die Zahlen im nächsten Bericht noch einmal massiv steigen.

Als Sündenfall einer Kriegsführung trotz und wider die Genfer Konvention gilt das Massaker von Mullivaikkal in Sri Lankas Bürgerkrieg im Jahr 2009. Binnen weniger Monate wurden dort mindestens 40.000 Menschen, die auf einem schmalen Küstenstreifen eingekesselt waren, getötet. Der Beschuss von Land, von der See und aus der Luft galt auch und besonders Gesundheitseinrichtungen. Zur Begründung dieser Kriegsführung nutzte die damalige Regierung eine diskursive Figur, die die USA mit ihrer Reaktion auf die Anschläge vom 11. September 2001 in die Welt gesetzt hatten: Sie befinde sich in einem „war on terror“. In diesem fällt nicht nur die bei militärischen Auseinandersetzungen geltende Unterscheidung zwischen zu schützenden Zivilist:innen und militärischen Gegnern weg. Das Narrativ degradiert das Gegenüber von einer Kriegspartei, der gewisse Rechte zustehen, zu einem auszulöschenden Feind, einem unterschiedslosen Bösen. In dieser Logik betrachtete die singhalesische Regierung die gesamte tamilische Bevölkerung – unabhängig davon, ob sie Zivilist:innen und Kämpfer:innen der Tamil Tigers waren – als terroristisch. Sie kam damit durch: Die internationale Gemeinschaft ließ das Militär gewähren.

Ein Massaker als Blaupause

Nach Ansicht von Saman Zia-Zarifi, internationaler Direktor von Physicians for Human Rights, war dieses Ereignis eine Blaupause. Im bald beginnenden syrischen Bürgerkrieg definierte das Regime sämtliche von der Opposition kontrollierten Gebiete und damit alle Menschen in diesen Gebieten als terroristisch – und folglich als legitime militärische Ziele. Dies manifestierte sich in Luftangriffen auf zivile Gebiete einschließlich der gezielten Bombardierung von Gesundheitseinrichtungen. Mit dem Kriegseintritt Russlands Ende 2015 intensivierten sich Häufigkeit und Ausmaß der Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen in einem nie dagewesenen Ausmaß. Auch die Türkei verbrämt ihre Angriffe auf das selbstverwaltete Nordsyrien immer wieder als legitimen Kampf gegen kurdischen Terrorismus – mit unmittelbaren Folgen für die Kriegsführung. Die meisten Krankenhäuser der medico-Partnerorganisation Kurdischer Roter Halbmond sind bei Luftangriffen inzwischen zerstört oder beschädigt worden. In praktisch jedem Krieg der vergangenen Jahre greifen ähnliche Mechanismen, sei es im Südsudan, im Jemen oder in Afghanistan, wo die US-Armee 2015 das Krankenhaus der Ärzte ohne Grenzen in Kunduz zerstörte.

Infolge dieser Entwicklung setzte der UN-Sicherheitsrat 2016 ein Zeichen und bekräftigte den besonderen Schutzstatus: In der einstimmig verabschiedeten Resolution 2286 werden Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen als mutmaßliche Kriegsverbrechen gebrandmarkt. Gefordert wird ein Ende der Straflosigkeit für die Verantwortlichen. Doch geändert hat das nichts, im Gegenteil. Die russische Armee wiederholte bei ihrer Invasion in der Ukraine Ende Februar 2022 die in Syrien erprobte Strategie. Die Zerstörung der Geburtsklinik in Mariupol im März 2022 rechtfertigte die russische Regierung damit, dass dort Kämpfer eines ukrainischen Bataillons Stellung bezogen hätten. Mit demselben Argumentationsmuster rechtfertigt die israelische Regierung seit Jahren Zerstörungen medizinischer Einrichtungen in Gaza.

In ihrem Vorgehen berufen sich die kriegführenden Parteien auf eine Ausnahmeregelung der Genfer Konvention. Dieser zufolge verlieren Gesundheitseinrichtungen ihren Schutzstatus, sobald sie „außerhalb ihrer humanitären Aufgaben zu Handlungen benutzt werden, die dem Gegner schaden“. Sind Krankenhäuser also Teil gegnerischer militärischer Infrastruktur, sind sie völkerrechtlich nicht mehr Tabuzone. Die Voraussetzungen sind allerdings hoch. Damit ein Angriff rechtmäßig ist, bedarf es etwa des Nachweises, dass alles dafür getan wurde, um Schaden von Patient:innen und medizinischem Personal auf ein Minimum zu beschränken. Angriffe, bei denen zu erwarten ist, dass sie der Zivilbevölkerung Schaden zufügen, der im Verhältnis zu dem erwarteten konkreten und unmittelbaren militärischen Vorteil übermäßig hoch wäre, gelten als Kriegsverbrechen. Doch solch „Kleingedrucktes“ interessiert wenig. Seien es Stürmungen und Beschuss des Al-Shifa-Krankenhauses, seien es die zahlreichen zivilen Opfer: Die israelische Regierung rechtfertigte sie mit dem Hinweis, die Klinik habe als Waffenlager und Rückzugsort von Hamas-Kämpfern gedient – ohne allerdings hinreichende Beweise zu liefern.

In den Kriegen der jüngsten Zeit sind die Zerstörungen gesundheitlicher Infrastrukturen weit mehr als Kollateralschäden. Sie haben Methode, die medizinische Fachzeitschrift The Lancet sprach bereits 2016 von einer „weaponisation of health care“. Damit gemeint ist die Strategie, den zwingenden Bedarf der Menschen nach Gesundheitsversorgung als Waffe gegen sie einzusetzen, indem man ihnen diese gewaltsam vorenthält und Orte angreift, an denen Gesundheitsversorgung stattfindet. Und so treffen die Angriffe auf medizinische Fachkräfte auch jene, die durch ihre Arbeit persönlich Zeugnis ablegen. Twitter und TikTok sind voll mit Berichten von Ärzt:innen über das Leid des Krieges. Klinikdirektor:innen sind wichtige Gesprächspartner:innen für die Presse. Sie alle führen, legitimiert durch ihre Profession, die Universalität des Menschenrechts auf Leben und auf Gesundheit vor Augen. Damit ist ihre Zeugenschaft auch gefährlich für Angreifer. Schon zu Beginn der Proteste in Syrien 2011 war ein Gesetz erlassen worden, das Ärzt:innen gezielt kriminalisierte, die verwundete Protestierende versorgten. Es folgten Verhaftungen, Folter und öffentliche Exekutionen, Zehntausende gut ausgebildete Fachkräfte verließen das Land.

Ein Ziel: Demoralisierung

Vor allem aber zielt die entgrenzte Kriegsführung auf Zermürbung und Demoralisierung. Die Behandlung von Verwundeten, die Eindämmung von Infektionskrankheiten oder die Therapie von psychischen Traumata: Selbst ein intaktes Gesundheitssystem müsste enorme kriegsbedingte Belastungen verkraften. Auch im Krieg kommen Kinder zur Welt, benötigen Diabetiker:innen Insulin und Nierenerkrankte eine Dialyse. Daher bedeutet ein Zusammenbruch der gesundheitlichen Versorgung unmittelbares Leid für Zehntausende Zivilist:innen. Das wirkt tief in die Psyche. In der medizinischen Behandlung liegt eine Aussicht auf Heilung. Ihr völkerrechtlicher Schutz macht Krankenhäuser zu vermeintlich sicheren Zufluchten. So ist es kein Zufall, dass Tausende in einer Zeltstadt auf dem Gelände des Al-Shifa-Krankenhauses Schutz gesucht haben. Indem all das in Schutt und Asche gelegt wird, wird auch jegliche Hoffnung zerstört.

Die Folgen dieser militärischen Strategien sind tödlich – unmittelbar, weil Verwundungen nicht versorgt und Krankheiten nicht behandelt werden können; aber auch langfristig. Schon vor Oktober 2023 war die durchschnittliche Lebenserwartung in Gaza um zehn Jahre niedriger als in Israel. Sie wird infolge des Krieges drastisch sinken. Und selbst wenn die medizinische Infrastruktur eines Tages wieder aufgebaut werden sollte, können die getöteten und geflohenen Ärzt:innen, Chirurg:innen, Sanitäter:innen und Pfleger:innen nicht ohne weiteres ersetzt werden. Damit entstehen Abhängigkeiten, von Geberländern und Hilfsorganisationen, aber auch von der Regierungsinstanz vor Ort – womit Gesundheitsversorgung zu einem machtvollen Kontrollinstrument etwa für Besatzungsmächte wird.

Sri Lanka, Syrien, Ukraine und Gaza sind nur die prominentesten Beispiele des Bedeutungsverlusts des Völkerrechts. Das von humanitären Organisationen wie Ärzte ohne Grenzen immer wieder eingeforderte Prinzip „der Arzt deines Feindes ist nicht dein Feind“ ist außer Kraft gesetzt. „Es scheint, als hätte die Welt ihren moralischen Kompass verloren“, sagte WHO-Sprecherin Margaret Harris. Um diesen neu auszurichten, müssten die mutmaßlichen Kriegsverbrechen konsequent juristisch aufgearbeitet werden. Eben das fordert auch die Resolution 2286 des UN-Sicherheitsrates. Bislang aber ist es zu keiner einzigen Anklage vor dem Internationalen Strafgerichtshof gekommen.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Felix Litschauer

Felix Litschauer ist Referent für Globale Gesundheit bei medico international. Er ist Friedens- und Konfliktforscher und war lange aktiv in der Medinetz-Bewegung, die für das Recht auf Gesundheit von Geflüchteten kämpft. Zurzeit beschäftigen ihn besonders die Zusammenhänge von Klima- und Gesundheitsgerechtigkeit.

Twitter: @LitschauerFelix


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