Die Meldung selbst gibt nicht viel her. Bundesaußenministerin Annalena Baerbock (Grüne) hat die Bearbeitung von Visumsanträgen von Menschen aus Afghanistan vorübergehend ausgesetzt. Grund dafür seien, so heißt es, „Hinweise auf mögliche Missbrauchsversuche“. Ihre Entscheidung gilt mit sofortiger Wirkung. Im Klartext: Von jetzt auf gleich werden Visumsanträge als besonders gefährdet eingestufter afghanischer Menschen weder von der deutschen Botschaft in Teheran noch von der Botschaft in Islamabad entgegengenommen. Die Bearbeitung eingereichter Anträge für das Bundesaufnahmeprogramm wird eingestellt, ebenfalls ab sofort.
No way out
Zu entnehmen ist der Mitteilung, dass die grüne Ministerin weitere Aufnahmen von Afghan:innen an die Einführung einer zusätzlichen Sicherheitsbefragung mit dem Ziel der Verhinderung weiterer „Täuschungsversuche“ binden will. Nicht mitgeteilt wird, was darunter verstanden werden soll.
Anzunehmen ist, dass neben den verschiedenen bisher zuständigen deutschen Stellen weitere Ämter hinzugezogen werden sollen. Naheliegend ist, dass die Ministerin dazu geheimdienstliche Hilfe in den Blick nimmt. Mitgeteilt wurde auch, dass Visumsanträge künftig allein in Islamabad angenommen werden sollen, nicht mehr in Teheran oder anderen Konsulaten. Ausgeschlossen sind jetzt alle, die wegen früherer Fluchtversuche über Pakistan mit einer Einreisesperre belegt wurden: auch das scheint für die Ministerin ganz in Ordnung zu sein. Unklar ist das Schicksal der Menschen, die bereits Visumstermine in Teheran hatten.
Die Aussetzung des Verfahrens kann sich über Wochen, wenn nicht über Monate hinziehen: In Verfahren zur Aufnahme von Menschen aus Afghanistan, aber auch aus anderen Ländern Asiens oder Afrikas mahlen die Mühlen deutscher Bürokratie in der Regel langsam, schmerzlich langsam. So wurde im Zuge des ja seit Herbst laufenden Bundesaufnahmeprogramms tatsächlich nicht ein einziges Visum erteilt. Selbst für die, die sich aus Afghanistan retten konnten, heißt das, bis auf weiteres da bleiben zu müssen, wo sie gerade sind: irgendwo in Teheran, irgendwo in Islamabad. Tagtäglich der Gefahr ausgesetzt, entdeckt, gefangengenommen, ausgeplündert, gequält, ausgeliefert und nach der Auslieferung weiter gequält, wenn nicht getötet zu werden. Bleiben müssen natürlich auch die, die noch in Afghanistan sind. All doors closed, no way out.
Flucht aus Afghanistan – ein Blick zurück
Als ich die Meldung aus Berlin las, als ich verstand, was da gesagt war, fiel mir ein sehr früher Morgen im August 2021 ein. Es war noch nicht halb fünf, ich schlief, das Telefon klingelte. Schlaftrunken vernahm ich die Stimme von Hadi Marifat, Geschäftsführer unserer Partnerorganisation Afghanistan Human Rights and Democracy Organisation (AHRDO). „Wir verlassen gerade Kabul“, sagte mir Hadi, „wir versuchen, an die pakistanische Grenze zu gelangen.“ Wir – das waren über 180 Menschen, Mitarbeiter:innen von AHRDO und viele ihrer Angehörigen. Wie Abertausende andere hatten sie tagelang vergeblich versucht, in den Flughafen von Kabul und dort an Bord eines Flugzeugs zu gelangen, das sie außer Landes bringen würde: weg aus Kabul, weg von den Taliban.
Jetzt hatten Hadi und seine Mitstreiter:innen Busse angemietet, ihre Familien um sich geschart, je ein paar Habseligkeiten zusammengerafft und sich auf den Weg gemacht, nächtlich, quer durch das ganze Land, ins Grenzgebiet. Mehrmals von Taliban gestoppt, hatten sie genauso oft Glück: die Kämpfer ließen sie passieren. Über Freund:innen und Verwandte wiederum hatten sie eine kleine Flotte von PKW organisiert, die im Grenzland auf sie warteten. So kamen sie nach Pakistan, gelangten nach Quetta, Hauptstadt von Belutschistan, der unsichersten, seit Jahrzehnten von einem Bürgerkrieg verwüsteten Provinz Pakistans.
Ihr erstes Obdach fanden die Geflüchteten in einem Hochzeitssaal, mit vier Toiletten für alle. Sicher waren sie dort nicht, im Gegenteil: sie waren jetzt erst einmal illegale Einwanderer:innen, Stunde um Stunde in Gefahr, entdeckt, aufgegriffen und nach Afghanistan zurückgeschafft zu werden. Deshalb nahmen wir von Frankfurt aus sofort Kontakt zur deutschen Botschaft in Islamabad auf, gerieten dort – wieder ein Glücksfall! – an äußerst engagierte Mitarbeiter:innen, willig, alles zu tun, was sie für die AHRDO-Kolleg:innen und deren Angehörige irgend tun konnten. Und nicht nur für unsere Kolleg:innen: Die Angestellten der Botschaft kümmerten sich damals auch um viele andere nach Pakistan geflohene Afghan:innen.
Was sie tun konnten, war trotzdem nicht genug. Schon damals war die deutsche Aufnahmebereitschaft auf nachweislich Verfolgte, deren Ehepartner:innen und minderjährigen Kinder beschränkt. Erwachsene Geschwister, Großeltern, Tanten und Onkel hätten keine Chance auf Aufnahme gehabt. Hätten zurückbleiben müssen wie alle anderen. Kanada folgte damals einer anderen Politik: Die Regierung des Landes hatte sich sofort bereit erklärt, eine im Vergleich sehr hohe Anzahl von Afghan:innen aufzunehmen. Deshalb verhandelte AHRDO nicht nur mit der deutschen, sondern auch mit der kanadischen Botschaft – mit Erfolg. Wenige Wochen nach der Ankunft in Quetta zogen die glücklich Geflohenen nach Islamabad um, verteilten sich dort auf verschiedene kleine Gasthäuser. Wir von medico übernahmen die Kosten für Unterkunft und Aufenthalt, verwendeten dazu die Mittel, die wir AHRDO eigentlich für ihre Arbeit in Afghanistan zugesagt hatten. Zum Jahreswechsel flogen alle nach Edmonton aus, Hauptstadt der Provinz Alberta. Weder Hadi noch ich hatten jemals von dieser Stadt gehört.
In Edmonton angekommen, nahmen Hadi und seine Kolleg:innen ihre Arbeit wieder auf. Mit der Hilfe von Menschen, die in Afghanistan zurückbleiben mussten, dokumentieren sie jetzt die politische, soziale und ökonomische Lage der Menschen unter der Talibanherrschaft. Dokumente der Willkür, der Gewalt und Folter, der tagtäglichen Ungesicherheit des Überlebens. Afghanistan ist nicht nur eines der gefährlichsten, es ist auch eines der ärmsten Länder der Welt. Genauer noch: In Afghanistan wird gehungert. Im gerade erst zurückliegenden Winter bei eisigem Wind und Temperaturen von bis zu minus 20 Grad Celsius. Der Ministerin Baerbock und ihren Beamt:innen ist das bekannt. Die Aussetzung des Aufnahmeprogramms erfolgt nicht trotzdem, sondern gerade deshalb. Die Migration wird aus naheliegenden Gründen zunehmen, Baerbock will sie begrenzen.
Nach Gutdünken
Mit den jetzt auf unabsehbare Zeit ausgesetzten Programmen hatte die Bundesregierung ehemaligen „Ortskräften“, also Afghan:innen, die bis zum Rückzug bei der Bundeswehr oder im Land tätigen deutschen Hilfsorganisationen tätig waren, sowie „besonders gefährdeten Personen“ die Aufnahme in Deutschland zugesagt: Menschen also, die auch „belegen“ konnten, von den Taliban bereits verfolgt zu werden. Wer dieses Angebot nutzen wollte, muss sich an eine „meldeberechtige“ deutsche Organisation wenden, die den Antrag weiterbearbeiten und einreichen würde.
Weil medico aufgrund der Kooperation mit AHRDO „meldeberechtigt“ war, haben wir gemeinsam mit unseren Partner:innen in Edmonton beschlossen, für achtundzwanzig im Land zurückgebliebene und hochgradig gefährdete Kolleg:innen Anträge zu stellen. Die Anforderungen dazu sind so umfangreich, dass zwei unserer Kolleg:innen hier in Frankfurt seit Wochen nichts anderes tun. Geplant war, die bearbeiteten Anträge bis Juli einzureichen. Das wird jetzt so lange nicht mehr möglich sein, bis das grüne Außenministerium den Aussetzungsbeschluss zurücknimmt. So lange also, bis die Ministerin herausgefunden haben wird, was sie tun kann, um dem sowieso schon sehr begrenzten Kreis „begünstigter“ Afghan:innen die Aussicht auf Sicherheit, aufs blanke Überleben noch weiter zu erschweren.
Wir müssen unseren in Afghanistan verbliebenen Partner:innen, achtundzwanzig mit dem Tod bedrohten Menschen, jetzt erklären, dass und warum Deutschland sie als „besonderes Sicherheitsrisiko“ betrachtet. Wir werden ihnen erklären, dass sich dieser Verdacht im Grunde blank gegen alle Afghan:innen richtet. Gemeinsam werden wir trotzdem nach Wegen suchen, ihnen hier Ankunft und Schutz zu ermöglichen.