Das Interview

Eigentlich kommen wir immer zu spät

16.09.2024   Lesezeit: 10 min

Wie funktioniert Hilfe inmitten von Klimakatastrophe, Autoritarismus und Repression? Fragen an die philippinische Aktivistin Rosalinda Tablang

medico: Im Juli fegte der Taifun Gaemi über die Philippinen hinweg. Der Sturm löste Überschwemmungen, Erdrutsche und Sturzfluten aus, über 200.000 Menschen wurden obdachlos. Wie leistet ihr in solchen Situationen Hilfe?

Rosalinda Tablang: Nach Carina, so der lokale Name für diesen Taifun, haben wir unter anderem in dem von starken Überschwemmungen betroffenen Großraum Manila Nothilfe in marginalisierten Gemeinden organisiert. Unsere Mitglieder haben Familien mit dem Nötigsten versorgt, Essens- und Hygienepakete verteilt und sich um Notunterkünfte gekümmert. Zwar ist das Hochwasser inzwischen zurückgegangen, aber die Auswirkungen sind überall noch zu spüren. Es sind auch diesmal wieder die am meisten verwundbaren Menschen, die die Hauptlast tragen und auf sich allein gestellt bleiben. Eigentlich kommen wir mit unserer Nothilfe immer zu spät.

Wie meinst du das?

Wir verfügen nur über geringe Ressourcen und müssen in akuten Notfällen finanzielle und materielle Mittel erst zusammenbringen. Vor allem aber liegt in unserem Ansatz die Priorität darauf, durch gemeindeorientierte Katastrophenvorsorge Notsituationen möglichst gar nicht erst entstehen zu lassen. Wir wollen die Fähigkeiten der Communitys stärken, sich vor Katastrophen und ihren Folgen zu schützen. Hier, auf Ebene der Gemeinden, liegt die erste Verteidigungslinie. Angesicht der Zunahme von Katastrophen sind wir aber immer stärker in der Nothilfe gefordert. Unsere Arbeit wird zudem dadurch eingeschränkt, dass es im Land ernsthafte Menschenrechtsprobleme gibt. Unsere Möglichkeiten, als zivilgesellschaftliches Netzwerk Hilfe zu leisten, schrumpfen immer weiter.

Bleiben wir zunächst bei der Zunahme katastrophischer Wetterereignisse. Kaum eine Gegend der Welt ist der Klimakrise so ausgesetzt wie die philippinischen Inseln. Laut Greenpeace Philippines befindet sich das Land längst in einem permanenten Klima-Notstand. Was bedeutet das für eure Arbeit?

Im Grunde müssten wir unsere Anstrengungen verdoppeln, um finanzielle und materielle Ressourcen für die betroffenen Gemeinden zu beschaffen. Aber wir wissen, dass Nothilfemaßnahmen die Probleme nicht lösen können – schon gar nicht, solange so viele Menschen in unserem Land von chronischer Armut betroffen sind. Es gibt unzählige Communitys in gefährdeten Lagen, die einfach nicht die Ressourcen haben, Katastrophen zu bewältigen oder sich im Vorfeld besser zu schützen. Ein großer Teil der Bevölkerung lebt unter dem Existenzminimum. Für diese Familien ist es schwierig bis unmöglich, Katastrophen vorzubeugen und sie zu bewältigen. Die Lage spitzt sich noch dadurch zu, dass viele Regierungsprogramme zulasten von Umweltsicherheit und dem Schutz der Bevölkerung gehen.

Kannst du das genauer erklären?

Zum Beispiel verursacht der Abbau von Rohstoffen erhebliche Schäden an unserer Umwelt und damit für die Menschen, die dort leben. Andernorts werden landwirtschaftliche Flächen im Zusammenspiel von Grundstücksmagnaten und Politikern in private Wohnprojekte oder Gewerbegebiete umgewandelt – auch das hat Folgen für den Katastrophenschutz. Der jüngste Taifun hat in der Provinz Bulacan zu massiven Überschwemmungen geführt. Vermutlich wäre das nicht in dem Maß geschehen, wären für den Bau eines Flughafens nicht landwirtschaftliche Flächen umgewidmet und damit die Bodenstruktur und der Flusslauf verändert worden. Abgesehen davon sind für das Flughafenprojekt viele Gemeinden umgesiedelt worden. Es gibt auf den Philippinen zahlreiche Fälle von solchen aggressiven Entwicklungsprojekten.

Seit zwei Jahren ist Marcos Junior, der Sohn des ehemaligen Diktators, Präsident. Er hat damit geworben, eine Politik für die einfache Bevölkerung zu betreiben und die Menschenrechte zu achten.

Unter der Marcos-Regierung werden aggressive und zerstörerische Entwicklungsprojekte fortgesetzt. Aktuell wird der nationale Haushalt für das nächste Jahr verhandelt. Ein beträchtlicher Teil soll in den Bau von Straßen und Brücken fließen. Der Ausbau der Verkehrsinfrastruktur wird als Voraussetzung für eine wirtschaftliche Entwicklung gepriesen. Aber man muss fragen, wer wirklich davon profitiert. Das sind eben nicht die einfachen Leute. Es sind Unternehmen und Konzerne, die auf den Straßen ihre Produkte transportieren und so den Abbau vom Rohstoffen vorantreiben. Zum Zweiten ist der Straßenbau ein äußerst korruptes Feld. Man kann davon ausgehen, dass 30 Prozent der Budgets in den Taschen von Politikern landen.

Die Regierung hat noch bis vor Kurzem damit geprahlt, dass sie rund vier Milliarden US-Dollar für 5.500 Hochwasserschutzprojekte bereitgestellt habe. Bei dem jüngsten Taifun war davon nichts zu spüren. Jetzt wird untersucht, wohin die Gelder stattdessen geflossen sind. Solche Untersuchungen führen aber nicht dazu, dass Verantwortliche zur Rechenschaft gezogen und Veränderungen eingeleitet werden. Präsident Marcos beruft sich immer wieder auf die Unabänderlichkeit des Klimawandels. Dieser ist zwar unbestreitbar. Aber welche Schäden er anrichtet und ob sich die Menschen vor extremen Wetterereignissen schützen können, ist eine politische Frage. Der Verweis auf die Unabänderlichkeit der Klimaveränderung dient der Regierung also als bequeme Ausrede, um sich der Verantwortung zu entziehen und von ihrer anhaltenden politischen Fahrlässigkeit abzulenken.

Wie konnte es überhaupt dazu kommen, dass Marcos Jr. die Wahlen 2022 gewann? Sein Vater Ferdinand Marcos hat einst über das Kriegsrecht regiert, bis er 1986 von einer breiten Protestbewegung gestürzt und aus dem Land gejagt worden ist. Sind die Korruption und die schweren Menschenrechtsverletzungen der Marcos-Dynastie vergessen?

Es gibt mehrere Gründe für den Sieg von Marcos Junior. Schon bald nach dem Sturz seines Vaters legten die Nachfolgeregierungen viel Nachsicht an den Tag. Nur fünf Jahre nach ihrer Flucht wurde den Marcos gestattet, auf die Philippinen zurückzukehren. Das taten sie dann auch bald, als noch immer mächtigste Familie des Landes. Seither bereiten sie die Rückkehr an die Regierung vor. Hierzu zählt, die Geschichte systematisch umzuschreiben: Plötzlich gelten die Jahre des Kriegsrechts als „goldenes Zeitalter“. Infrastrukturprojekte jener Ära wurden in den Vordergrund gerückt, Unterdrückung und Korruption heruntergespielt. All das ist glatter Geschichtsrevisionismus, aber eben durchaus erfolgreich. Ob Marcos Jr. bei der Wahl dann tatsächlich die meisten Stimmen erhalten hat und wie fair diese abgelaufen sind, ist umstritten. Viele Expert:innen verweisen auf die verdächtig hohe Wahlbeteiligung und die schnelle Auszählung der Stimmen. Es gibt auch Berichte darüber, dass Stimmen gekauft worden sind. Aber es ist auch so, dass viele Leute den Versprechungen von Marcos Jr. geglaubt haben.

Er hat zum Beispiel versprochen, den Preis für ein Kilo Reis auf 20 Pesos zu senken.

 Ja – und heute kostet ein Kilo Reis 60 Pesos. Er hat vieles versprochen. In seiner ersten Rede an die Nation kündigte er an, dass „morgen ein besserer Tag“ für die Beschäftigten im Gesundheitswesen sein werde. Er behauptete, im ganzen Land Einrichtungen der medizinischen Grundversorgung bauen zu lassen. Er versprach eine kostenlose Gesundheitsversorgung für alle. Nichts davon hat er eingehalten. Nach jüngsten Angaben des Gesundheitsministeriums gibt es in vier von zehn Gemeinden noch immer keine Gesundheitsversorgung. Nach den neuesten Zahlen des Gesundheitsministeriums gibt es in 16.231 der 42.046 Gemeinden des Landes noch immer keine Basisgesundheitsstationen. Und noch immer muss man selbst in öffentlichen Einrichtungen medizinische Leistungen aus eigener Tasche zahlen – oder darauf verzichten, weil man sie sich nicht leisten kann. Worte und Taten stimmen nicht überein.

Nehmen die Menschen diesen Widerspruch denn wahr?

Viele sind desillusioniert und bereuen, dass sie Marcos Jr. ihre Stimme gegeben haben. Sie fühlen sich betrogen. Das Problem ist aber, dass er sich weiterhin als Problemlöser inszeniert. Tatsächlich tut er aber etwas anderes: Die Regierung geht gegen alle vor, die es wagen, sie zu kritisieren. Hierbei nutzt sie Gesetze, die unter den Vorgängerregierungen erlassen worden sind. Von 2020 stammt ein sogenanntes Anti-Terror-Gesetz, das so unklar formuliert ist, dass man damit alle unbequemen oder kritischen Stimmen in einen Topf werfen, abstempeln und anklagen kann. Daneben gibt es das Gesetz zur Verhinderung der Finanzierung von Terrorismus. Es wird vor allem gegen Nichtregierungsorganisationen und Einzelpersonen verwendet, die sich für Hilfe, Umweltschutz oder Menschenrechte einsetzen und marginalisierte Communitys unterstützen. Auf Grundlage des Gesetzes ließ der nationale Anti-Terrorismus-Rat zum Beispiel die Gelder des Citizens‘ Disaster Response Network, der Rural Missionaries of the Philippines und der Bauernorganisation Amihan einfrieren. Gleichzeitig werden Vorstandsmitglieder dieser Organisationen ins Visier genommen. Die Gesetze dienen als Waffe, um unter dem Deckmantel der Terrorismusbekämpfung Aktivist:innen und Organisationen der Zivilgesellschaft anzugreifen.

Von Regierungskritik zum Terrorismus ist es ja ein unendlich weiter Weg. Wie funktioniert diese Verknüpfung?

Es gibt die Strategie des „Red-Tagging“ – man wird als „Rot“ markiert. Das heißt, dass das kritische Engagement von Einzelnen oder von Organisationen in die Nähe der Kommunistischen Partei der Philippinen oder anderen revolutionären Gruppen gerückt wird. Von da ist es dann nicht mehr weit zum Terrorismusvorwurf. Alle Regierungen der jüngsten Zeit haben diese Strategie angewendet. Jegliche Formen von Aktivismus oder zivilgesellschaftlichem Engagement können zum Terrorismusvorwurf führen. Vor einigen Jahren traf es zum Beispiel die „Alliance of Health Workers“.

Inwiefern ist das SOS-Netzwerk und bist du persönlich davon betroffen?

Unsere Absicht ist es, Menschen in Not zu unterstützen. Damit befinden wir uns in einer Situation, in der wir jederzeit überwacht oder als Terrorist:innen bezeichnet werden oder sogar beschuldigt werden können, revolutionäre Gruppen zu unterstützen. Mit dem Citizens‘ Disaster Response Network, dessen Gelder aufgrund solcher Vorwürfe eingefroren wurden, arbeiten wir zum Beispiel eng zusammen. Insofern ist die Bedrohung real und spürbar.

Ihr leistet Hilfe, die der Staat den Menschen verweigert. Würdet ihr nur humanitäre Hilfe leisten und ansonsten schweigen, wäret ihr vermutlich sicherer…

Vermutlich. Wir sind aber überzeugt, dass Nothilfe nur vorübergehend hilft und keine Probleme lösen kann. Es ist wichtig, dass die Gemeinden sich vorausschauend und eigen - ständig für drohende Katastrophen wappnen. Und das kollidiert nicht zuletzt, wie ich vorhin beschrieben habe, mit den Entwicklungsprojekten des Staates. Es ist Teil unserer Arbeit, die politischen Forderungen der Betroffenen vernehmbar zu machen und die politischen Verantwortlichen damit zu konfrontieren. Wir weigern uns, uns von der Angst überwältigen zu lassen. Zusammen mit anderen zivilgesellschaftlichen Organisationen setzen wir uns zur Wehr, nicht zuletzt mit juristischen Mitteln. So haben wir Fälle von Red-Tagging vor den Obersten Gerichtshof gebracht, um die Anschuldigungen anzufechten. Das hat mitunter Erfolg. Vor kurzem hat der Oberste Gerichtshof zugunsten einer Person entschieden, die als Terrorist gebrandmarkt war. Diese Entscheidung macht Mut. Juristische Auseinandersetzungen sind langwierig und ihr Ausgang ist ungewiss.

Wie könntet ihr euch ansonsten schützen?

Alle Organisationen sind gefordert, sich möglichst gut vor staatlichen Angriffen zu schützen. Auch wir tun das. Hierzu gehört, dass wir uns noch stärker vernetzen. Bündnisse, die geeint auftreten, bieten Schutz. Daneben setzen wir auf Lobbyarbeit, Massenbewegungen und öffentliche Proteste. Wir klären weiterhin auf, organisieren Kundgebungen und stellen das Anti-Terror-Gesetz und andere repressive Maßnahmen infrage. Dabei hoffen wir sehr, dass innernationale Geber uns weiterhin zur Seite stehen. Neben finanzieller Unterstützung brauchen wir auch moralische und politische Solidarität. Sie ist von großer Bedeutung, da wir nicht nur mit katastrophenbedingten Herausforderungen, sondern auch mit politischer Repression konfrontiert sind.

Wie schafft ihr es, angesichts all dieser Härten eure Arbeit fortzusetzen?

Was mir Hoffnung gibt, sind die Reaktionen der Menschen, denen wir helfen. Sie werden ausgegrenzt und unterdrückt und sollen mit ihren Problemen allein fertig werden. Aber sie verhalten sich nicht wie Opfer. Stattdessen sind sie aktiv daran beteiligt, mit ihren Mitteln Katastrophenvorsorge zu betreiben und die Folgen von bisherigen Katastrophen gemeinsam zu bewältigen. So werden wir mehr. Trotz der Versuche der Regierung, uns zu diskreditieren, unterstützen uns die Gemeinschaften, mit denen wir arbeiten. Und das ist das Wichtigste.

Das Interview führten Karoline Schaefer und Tim Thiessen

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2024. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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