Ein Fiasko ist möglich

28.09.2022   Lesezeit: 7 min

In der Wahl in Brasilien verdichten sich die politischen Spannungen Lateinamerikas. Interview mit Guilherme Boulos.

medico: Brasilien steht kurz vor der Wahl und es gibt zaghafte Hoffnungen, dass Lula gegen Bolsonaro gewinnen kann. In Chile und Kolumbien haben in diesem Jahr bereits zwei linke Präsidenten die Arbeit aufgenommen. Steht Lateinamerika wieder vor einer Linkswende?

Guilherme Boulos: Wenn wir die Situation in Lateinamerika im Allgemeinen betrachten, müssen wir eines beachten: Jedes Erneuerungsprojekt der Linken erfordert heute, die extreme Rechte zu besiegen. Auch der Sieg von Boric bei der Präsidentschaftswahl in Chile war eine Niederlage der extremen Rechten. In Brasilien stehen wir heute vor eben dieser Aufgabe. Und Lula ist derjenige, der die besten Voraussetzungen dafür hat.

Die Arbeiterpartei (PT) war von 2002 bis 2016 in Brasilien an der Macht, auch mit einem Präsidenten Lula. Dabei hat sie allerdings politisch auch so enttäuscht, dass es die extreme Rechte an die Macht gespült hat. Hat die Linke aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt?

Erneuerungszyklen sind unvermeidlich, in allen politischen Feldern. Und diese Erneuerung hat vor allem mit der Generationenfrage zu tun. Boric ist erst 35 Jahre alt. Er ist der jüngste Präsident in der Geschichte Chiles, und er kommt aus einem Prozess der Studierendenmobilisierung und dem Volksaufstand. Mit dieser generationellen Erneuerung hat sich auch die politische Agenda erneuert – plötzlich stehen Themen im Fokus, die die Linke im Lauf der Geschichte stets hintangestellt hat. Umwelt, Energiewende, Klimawandel, Bekämpfung der Entwaldung, der Kampf gegen Rassismus, die Geschlechterfrage und die sexuelle Vielfalt. Daneben geht es natürlich weiterhin auch um die Bekämpfung der Ungleichheiten – nun aber vielleicht in einem tiefer gehenden Sinne und mit der Kühnheit, veraltete Strukturen des wirtschaftlichen und politischen Systems selbst anzugehen.

Lula betont häufig, dass er seine Politik aus den Nullerjahren fortsetzen möchte. Doch die Bedingungen sind heute ungleich schlechter.

Das stimmt, die wirtschaftliche Realität nach Lulas Wahl im Jahr 2002 war eine komplett andere. Damals hatte China ein zweistelliges Wachstum, die internationale Wirtschaft florierte, die Rohstoffpreise waren hoch. All das hat es Lula erlaubt, den Binnenmarkt anzukurbeln. Brasiliens Wirtschaft wuchs, im Schnitt um vier Prozent pro Jahr. Im Grunde hat er die Grundlagen einer liberalen Agenda nicht verändert: Weder hat er den freien Wechselkurs noch die Inflationsziele angetastet. Es gab keine Steuerreform, nicht einmal eine Besteuerung der Superreichen. Weil es aber eben viel zu verteilen gab, konnte Lula trotzdem mehr soziale Rechte garantieren und das Leben vieler Menschen verbessern. Dank des Wachstums der Wirtschaft konnte Lula sozialpolitische Programme finanzieren, ohne dabei die Privilegien antasten zu müssen. Es war eine Win-win-Situation à la „die Reichen gewinnen, die Armen gewinnen auch“. Doch das ist vorbei, diese Spielräume gibt es heute nicht mehr. Im Gegenteil: Brasilien ist heute ein verwüstetes Land. Und auch die internationale Wirtschaft befindet sich in einer sehr anderen Situation als damals.

Welche Möglichkeiten hat Lula dann?

Wenn er Erfolg haben will, wird er die neoliberale Agenda grundsätzlich angehen müssen. Er braucht einen mutigen Plan für öffentliche Vorhaben mit öffentlichen Investitionen und finanziellen Bedingungen, um Arbeitsplätze und Einkommen zu schaffen. Er muss eine progressive Steuerreform umsetzen und die Superreichen besteuern. Um die Ernährungssouveränität des Landes zu gewährleisten, kommt er nicht umhin, sich Fragen der Agrarökologie und anderen Formen der Landwirtschaft zuzuwenden. Lula hat ein Mindestmaß von diesem Bewusstsein, wir haben viel darüber gesprochen. Ob er es dann wirklich wagen würde, das umzusetzen, wissen wir nicht. Aber ich bin überzeugt: Wenn er es nicht wagt, wird er es nicht schaffen, die grundlegendsten Bedürfnisse der Menschen zu decken, und seine Regierung wird in einem Fiasko enden.

Du hast eben von einem politischen Generationenkonflikt gesprochen. Kannst du das noch mal genauer erklären?

Dieser Generationenkonflikt prägt heute weite Teile der Politik. In der Regel haben wir Leute über 60 mit einer eher konservativen Haltung und eine junge Bevölkerung unter 30, die wir herausfordernder, kritischer, rebellischer nennen könnten. Hier in São Paulo stimmten 2020 bei der Stichwahl für das Amt des Bürgermeisters 70 Prozent der über 60-Jährigen gegen mich, während 65 Prozent der unter 25-Jährigen für mich gestimmt haben. In Chile wäre Boric ohne die breiten Mobilisierungsprozesse seit 2019 nicht an die Macht gekommen. Und die Jugend steht an vorderster Front dieser Bewegungen.

Wie erklärst du das Aufkommen der Rechten inmitten von linken Regierungen? Hinzu kommt ja, dass auch „linke Themen“ immer häufiger von rechts besetzt werden.

Natürlich gibt es einen Zyklus der internationalen extremen Rechten – Trump, Orban, Bolsonaro, der Brexit. Überall werden die gleichen Methoden angewendet, einschließlich der Kommunikation und der Manipulation in den sozialen Netzwerken. Der Diskurs des Hasses, die Suche nach einem Feind, das Zusammenschweißen der eigenen Basis – das ähnelt alles stark faschistischen Praktiken. Dass Bolsonaro an die Macht kommen konnte, ist aber auch das Ergebnis eines tiefen Gefühls von Anti-Politik, einer grundsätzlichen Ablehnung von Politik. Das hat damit zu tun, dass von einem Teil der brasilianischen Elite ein Diskurs geschürt und benutzt wurde, der die PT-Regierungen stürzen sollte: Es wurde das Narrativ konstruiert, dass die PT-Regierungen die korruptesten in der Geschichte seien. Von da war es nicht mehr weit dazu, dass die Politik insgesamt korrupt sei. Tatsächlich lässt das politische System Brasiliens viel Raum für Korruption. Das Seltsamste aber war, dass plötzlich Leute mit dem Finger auf andere gezeigt und diese der Korruption bezichtigt haben, die Korruption geradezu repräsentieren. Es war eine extreme Heuchelei. Diese aber hat das Gefühl erzeugt, dass man jemand von außen braucht. Und Bolsonaro wurde so aufgebaut, als wäre er jemand von außen. Das hat zwar nicht gestimmt, aber es hat funktioniert.

Und dann war er Präsident…

Genau. Das Problem ist, dass er dann zu regieren begann und sich hierfür mit den Zentrumsparteien verbündet hat. Diese sind das Korrupteste, was es in der brasilianischen Politik gibt. Letztlich ist die Regierungszeit eine riesige Tragödie mit Hunderttausenden Toten. Brasilien ist seit 2018 auf die UNO-Hungerkarte zurückgekehrt. Wir sprechen über ein Land mit 12 Millionen Arbeitslosen, mit 19 Millionen Menschen in Ernährungsunsicherheit, mit mehr als 30 Millionen informell Arbeitenden ohne Rechte. In der Pandemie hat Bolsonaro absichtlich eine Politik gegen das Impfen und Hygienemaßnahmen initiiert. Der international sichtbarste Teil der bolsonaristischen Katastrophe ist die Zerstörung des Amazonasgebietes, eine Politik der Entwaldung zugunsten des Agrobusiness. Die Menschen haben das gesehen, und das erzeugte auch eine Reaktion gegen den Bolsonarismus. Und wer kann diese Reaktion jetzt anführen? Die Linke! Schließlich hat sich die traditionelle Rechte an die Seite Bolsonaros gestellt und damit jede Glaubwürdigkeit verspielt. Die Linke konnte sich reorganisieren und als starke Opposition halten, auf der Straße und im Parlament.

Besteht ein Problem nicht darin, dass die „Anti-Politik“ auch einen wahren Kern hat und es eine Krise der politischen Repräsentation gibt? Und bräuchte es dann nicht auch neue politische Formen?

Tatsächlich wird diese Debatte angesichts des Bedeutungsverlustes traditioneller Parteien mit zunehmender Kraft geführt. Es gibt unbestreitbar eine Krise der politischen Repräsentation. Viele Menschen fühlen sich von politischen Parteien nicht vertreten. Das ist auch der Grund, warum immer wieder die Idee einer Bewegungspartei aufkommt, in Europa wie in Lateinamerika. Es gibt sie in Chile, sie lebt in gewisser Weise im Congresso de los Pueblos von Kolumbien, im Movimiento al Socialismo (MAS) in Bolivien und in den gesellschaftlichen Artikulationen, die aus der Piquetero-Bewegung in Argentinien stammen. In gewisser Weise wurde auch die Arbeiterpartei in Brasilien aus der Logik einer Bewegungspartei geboren: Sie stammt aus dem Gewerkschaftswesen, aus den kirchlichen Basisgemeinden, aus der Bewegung von ländlichen und städtischen Besetzungen. Jedenfalls bringt die Krise der politischen Repräsentation die Notwendigkeit hervor, dass sich die Parteien im konkreten sozialen Kampf der Menschen verwurzeln. Ich komme aus einem Aktivismus in der sozialen Bewegung für menschenwürdiges Wohnen mit Wohnungslosen. Ich war aber auch immer bemüht, diesen Kampf in einen parteipolitischen Prozess zu übersetzen. Ohne diesen stoßen die sozialen Bewegungen an eine Grenze, nämlich an die politische Struktur. Es braucht also fließendere Beziehungen zwischen der Straße und den Räumen der Macht, zwischen Volksorganisationen an der Basis, im Stadtviertel, und der Politik, eine direktere und partizipativere Demokratie. Das könnte ein zentrales Merkmal eines neuen linken Zyklus sein.

Interview: Mario Neumann

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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