Die Wahlen in Chile und der Wahlsieg von Gabriel Boric haben eine große Bedeutung für Lateinamerika. In Kolumbien wird im Mai gewählt, im Oktober in Brasilien. Zum zweiten Wahlgang war eine Delegation lateinamerikanischer Politiker:innen in Chile, darunter auch der Brasilianer Guilherme Boulos, der letztes Jahr für das Bürgermeisteramt von São Paulo kandidierte und erst in der zweiten Runde geschlagen wurde. Er ist auch Chef der medico-Partnerorganisation „Movimento dos Trabalhadores sim Teto“, der brasilianischen Wohnungslosenbewegung. Dem chilenischen Internet-Medium „La Voz de los que Sobran“, zu Deutsch „Stimme der Überflüssigen“ gab er noch in Chile ein Interview, das wir in Teilen übersetzt haben.
Morgen folgt der aktuelle Bericht von Pierina Ferretti im Chilenischen Tagebuch. Mit Pierina kooperieren wir seit unserer Konferenz zur (Re-)Konstruktion der Welt, die wir im Februar 2021 durchgeführt haben. Pierina arbeitet beim chilenischen Think Tank „Nodo XXI“, der zum Beraterkreis von Gabriel Boric gehört.
Guilherme Boulos: Es gibt zwei Gründe, warum die Wahlen in Chile so wichtig waren: Vor allem weil Boric gewonnen und Kast verloren hat. Die Niederlage von José Antonio Kast ist ein Zeichen der Schwäche der extremen Rechte, die auf dem ganzen Kontinent in den letzten Jahren, insbesondere in Brasilien, immer stärker wurde. Auch Bolsonaro in Brasilien verliert täglich an Unterstützung. Wenn heute Wahlen in Brasilien stattfinden würden, würde Lula in der ersten Runde gewinnen. Die Niederlage von Kast nimmt der Rechten ein wenig von dem Schwung, mit dem sie in einer immer größer werdenden Welle zu gewinnen schien.
Der Sieg von Boric wiederum ist der Sieg einer Generation, die auf den Straßen gekämpft hat. Es ist auch der Sieg einer erneuerten Linken, die andere, sehr wichtige Themen setzt. Dazu gehört der Umweltschutz, der Feminismus, die Rechte der LGBTIQ. Diese Linke besitzt eine internationale Perspektive. Wir befinden uns in einem Zyklus linker Erneuerung in der Welt und in Lateinamerika. Das ist der erste Sieg dieser neuen Linken.
La Voz de los que Sobran: Kast konnte dieses Mal mit der Politik der Falschmeldungen und Verleumdung nicht gewinnen, aber er hat einen ganzen Apparat zu Verfügung, der mit dieser Stimmung die Boric-Regierung immerzu angreifen wird. In Brasilien kennt ihr das schon, wie kann man dieser Politik der rechten Stimmungsmache entgegenstehen?
Das schmutzige System der Rechtsradikalen, das viel weiter reicht als nur in die sozialen Netzwerke, besteht natürlich weiterhin und wird noch stärker gegen Boric werden. In Brasilien nennen wir die Regierung das „Kabinett des Hasses“, das öffentliche Mittel missbraucht, um fortwährend Falschmeldungen zu lancieren und das einen ideologisch-kulturellen Krieg führt. Bolsonaro hat beispielsweise niemals die Rolle des Präsidenten ausgefüllt, er spricht immer wie ein Fraktionschef. Er spricht eigentlich immer nur für seine Leute, die ihn aus unterschiedlichen Gründen unterstützen: Weil sie müde sind und den Versprechen der Linken nicht mehr trauen, weil sie überhaupt Politik ablehnen. Diese extreme Rechte weltweit stellt sich als antisystemisch dar. Bolsonaro hat es geschafft, sich seiner sozialen Basis zu versichern. Er hat den Bolsonarismus geschaffen. Selbst wenn er im Herbst nächsten Jahres verlieren sollte, wird dieser Bolsonarismus aktiv und organisiert bleiben. Auch die extreme Rechte, die Kast organisiert hat, wird bleiben.
In Chile haben wir die Wahlen nicht nur in den Medien gewonnen, sondern durch einen organisierten Wahlkampf, der von Tür zu Tür ging. Um Kast im Zaum zu halten, muss das weitergehen?
Es gibt einen Satz von Pepe Mujica, dem früheren Präsident Uruguays, der zum Programm der linken Regierung seiner Zeit anmerkte: „Wir haben Konsumenten geschaffen, aber keine Bürger.“ Es geht also um viel mehr als die Befriedigung sozialer Bedürfnisse, es geht um Werte und um eine Arbeit an der Basis. Die Linke hat sich von der Peripherie, von den armen Stadtteilen entfernt. Sie hatte Illusionen und falsche Hoffnungen in die staatlichen Institutionen. Das ist jetzt anders. Borics Sieg kann man nicht ohne den „Estallido social“, den Aufbruch seit 2019, erklären. Das war ein organischer sozialer Prozess.
In Chile haben wir nach der Pinochet-Diktatur nur Konsument:innen geschaffen, Bürger:innen zu bilden – das ist jetzt die Herausforderung. Sonst werden sie schneller die extreme Rechte wählen, als wir uns das vorstellen können, oder wie siehst du das?
In Brasilien ist die politische Bildung extrem niedrig. Die Leute kennen den Präsidenten und dann hört es auf. Kaum einer kennt die wichtigsten Faktoren, die das politische System eigentlich ausmachen, die Gewaltenteilung zwischen Judikative, Exekutive und Legislative. Ich bin, was die Möglichkeiten der extremen Rechten anbetrifft, allerdings etwas optimistischer. In Brasilien wird man sich nicht zum zweiten Mal diesen Unsinn antun. Jetzt hat man ihn ja schon erlebt. Mein Freund, der Befreiungstheologe Frei Beto, sagt: „Sparen wir uns den Pessimismus für bessere Zeiten auf.“
Im Gegensatz zu anderen Demokratien hat der Aufstand in Chile hat das soziale Gewebe reaktiviert. Kann man sich darauf stützen?
Das ist der ganz große Unterschied zu allen anderen Prozessen. Es gab eine große soziale Bewegung, die es möglich machte, dass diese neue politische Generation die Wahlen gewinnt. Ich war bei der verfassungsgebenden Versammlung und ich war so erstaunt darüber, wie jung die Abgeordneten sind. Diese jungen Leute können auch mit der Jugend sprechen. Sie für die Politik zu interessieren ist eine der großen Herausforderungen. Es gibt überall einen Generationskonflikt. Als ich für das Bürgermeisteramt in São Paulo kandidierte, hatte ich in der zweiten Runde 60 Prozent der jungen Leute, aber nur 30 Prozent der über 60jährigen auf meiner Seite. Auf diesem Feld findet die Auseinandersetzung statt. Viele junge Leute haben Hoffnungen, Wünsche und Zukunftsvorstellungen, die über das Bestehende hinausgehen. Sie akzeptieren viele Dinge nicht, die in vielen Generationen zuvor unumstößlich waren. Sie haben eine radikale Perspektive. Sie von der Politik, als Möglichkeit Dinge zu ändern, wieder zu verzaubern, das muss der Linken gelingen.
Was bedeuten die Wahlen in Chile für Brasilien?
Die Botschaft lautet: Es ist möglich! Die Rechte ist nicht unbesiegbar.