Brasilien

Spuren der Sklaverei

18.09.2023   Lesezeit: 7 min

Polizei und Gefängnis sind in Brasilien die zentralen Institutionen zur Kontrolle der verarmten schwarzen Bevölkerung.

Von Vera Malaguti Batista

In den letzten Jahrzehnten konnten wir eine Zuspitzung dessen erleben, was Loïc Wacquant den „Strafenden Staat“ nennt. In seiner Analyse des Neoliberalismus zeigt er, dass wir keinem Zusammenbruch des Staates beiwohnen, sondern dessen Wandel vom Wohlfahrtsstaat zum Strafenden Staat beobachten können. Die Regierungen entzogen öffentlichen Bereichen wie Gesundheit, Bildung oder Wohnungsbau die Finanzierung, um die Ausgaben auf die öffentliche Sicherheit zu konzentrieren. In Lateinamerika wurden die 1980er- und 1990er-Jahre als verlorene Jahrzehnte bezeichnet, so stark war der soziale Rückschritt zu jener Zeit. Dieses Phänomen führte auch zu einer Kriminalisierung von sozialen Konflikten, beruhend auf einer täglichen, von den monopolisierten Medien orchestrierten Indoktrination. Das Geschäft mit der öffentlichen Sicherheit entwickelte sich zu einem Wirtschaftskern dieses barbarischen Kapitalismus.

Das Gefängnis ist eine fabrikähnliche Einrichtung, die in Westeuropa zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert entstand. Gefängnisse haben nicht zuletzt das Ziel, die industrielle Reservearmee im Prozess der Kapitalakkumulation zu kontrollieren, wie Georg Rusche in seinem Werk „Strafe und Sozialstruktur“ zeigte. Im heutigen Kapitalismus hat sich das Gefängnis zum zentralen Kontrolleur „gefährlicher“ und „unerwünschter“ Bevölkerungsgruppen entwickelt. Die Führungsriegen der Gefängnisse sind längst Teil der Avantgarde der liberalen Wirtschaften, und sogar an der Börse in New York vertreten.

Der Krieg gegen die Drogen hatte schwerwiegende Folgen auf unserem Kontinent – die Inhaftierungsrate explodierte, ebenso die Zahl tödlicher Polizeieinsätze. Seinen Anfang nahm dieser Krieg in den Vereinigten Staaten. Dort schuf er einen inneren Feind, Ausrüstung und Ausbildung wurde von den Streitkräften auf die Polizei übertragen. In Rio de Janeiro wird heute beispielsweise die Polícia Civil (vergleichbar mit der deutschen Kriminalpolizei, Anm. d. Ü.) von den Seals, einer Spezialeinheit der US-Marines, ausgebildet. Das ist eine neue Form der Besatzung der Stadt, in deren Folge sich die Armenviertel, Favelas und Vororte in Schlachtfelder verwandelt haben. Aus der hier lebenden und von der Wirtschaftskrise betroffenen Bevölkerung rekrutiert sich der Drogenhandel, dessen Produktion giftige Wolken mit tiefgreifenden Folgen für die Umwelt nach sich zieht. Auch 50 Jahre nach der Ausrufung des „war on drugs“ wurde allerdings keines seiner erklärten Ziele erreicht: Weder die Produktion noch die Kommerzialisierung oder der Konsum von Drogen sind zurückgegangen. Aber das Ziel war ohnehin schon immer ein anderes: die brutale Kontrolle der von der Wirtschaftspolitik verarmten Bevölkerung. Das müssen wir verstehen und die Kritik an diesem Krieg politisieren.

Strafrechtspolitik als Blutbad

In den letzten Wochen wurden wir Zeug:innen einer furchterregenden orchestrierten Mordserie in drei Bundesstaaten Brasiliens. Bei Einsätzen gegen den Drogenhandel tötete die Polizei in Bahia 18 Menschen, in São Paulo 16 Menschen und in Rio de Janeiro 10 Menschen. São Paulo und Rio de Janeiro werden von Anhängern des Ex-Präsidenten Jair Bolsonaro regiert, in Bahia regiert aber die Arbeiterpartei PT von Präsident Lula. Mit einigen rühmlichen Ausnahmen unterscheidet sich der linke Diskurs über das Thema öffentliche Sicherheit kaum vom Diskurs der Rechten. Der Linken mangelt es sowohl an Kenntnissen kritischer kriminologischer Debatten als auch an politischem Mut. Stattdessen wird einer von Angst getriebenen Bevölkerung ein Law-and-Order-Diskurs serviert. So wird die Brutalität gegen Schwarze und arme Menschen naturalisiert, Widerstände und Debatten werden erstickt. Das Drogengesetz der ersten Lula-Regierung aus dem Jahr 2006 führte zu einem Anstieg der Inhaftierungen um 40 Prozent. Bei inhaftierten Frauen waren es sogar 400 Prozent. Damals gab es eine heftige Debatte über den Gesetzesvorschlag. Letztlich setzten sich diejenigen Kräfte durch, die den Krieg gegen die Drogen mit Stichworten wie „Kampf gegen den Drogenhandel“ bzw. „das organisierte Verbrechen“ etwas zeitgemäßer machen wollten.

Wir stehen vor einem kolossalen Paradoxon hinsichtlich unserer „demokratischen“ Gegenwart. 5.000 Morde durch Polizeibeamte pro Jahr (2022 waren es mehr als 6.000 Fälle) und intensive soziale Konflikte: Angesichts solcher Zahlen muss die Gewissheit über Brasiliens Re-Demokratisierung nach der Diktatur infrage gestellt werden. Ende der 1980er-Jahre, im Zuge des Verfassungsprozesses, haben die linken Kräfte in Brasilien die Themen Justiz und Kriminalisierung für sich entdeckt. Die öffentliche Sicherheit hat sich dann zum zentralen Thema in Lateinamerika entwickelt. Das Verbrechen steht heute im Mittelpunkt der Debatte. Und wir sind dazu übergegangen, Polizeigewalt zu naturalisieren und ihr Beifall zu spenden, anstatt sie zu bekämpfen – alles für den vermeintlichen Kampf gegen den „Drogenhandel“. Verkörpert wird dieser durch die Figur des jungen schwarzen Favela-Bewohners. Das meine ich, wenn ich vom subjektiven Festhalten an der Barbarei spreche. Der Krieg gegen die Drogen hat eine viel tiefere Bedeutung, die von den progressiven Kräften in der Region zu wenig verstanden wird. Die Folge: Der Diskurs von Rechten und Linken über den „Kampf gegen den Drogenhandel“ unterscheidet sich nicht wesentlich.

Brasilien ist ein Land mit autoritären Traditionen und sehr kurzen demokratischen Intervallen. Die Spuren der Sklaverei und des Völkermords an den Ureinwohner:innen sind auch im Krieg gegen die Drogen sichtbar: Die meisten Verhafteten und durch Polizeikugeln Getötete sind Schwarze oder Indigene. Die Strafrechtspolitik hat ein Blutbad verursacht. Mehr noch: Sie aktualisiert Ängste, die vor diesen Bevölkerungsgruppen im Laufe der Jahrhunderte er[1]zeugt wurden. Und durch eine selektive Justiz legitimiert sie die Grausamkeiten, die ihnen angetan werden. Diese Strafrechtspolitik ist der Grund für die hohen Inhaftierungsraten. Saßen im Jahr 1994, zu Beginn des Neoliberalismus, etwa 100.000 Brasilianer:innen hinter Gitter, sind es heute eine Million, 40 Prozent wegen Drogendelikten.

Brasiliens lange Gefängnis-Geschichte

Die Geschichte der brasilianischen Gefängnisse beginnt im 19. Jahrhundert mit den Calabouços, in denen 80 Prozent der Insassen versklavt waren. Das 1850 in Betrieb genommene Casa de Correção (Haus der Korrektur) war ein Gefängnis für Afrikaner:innen und Menschen afrikanischer Abstammung. Auch die Polizei spielte in diesem Strafvollzug eine zentrale Rolle. Sie konzentrierte sich darauf, versklavte Menschen gefangen zu nehmen und ihre politischen und kulturellen Äußerungen zu unterdrücken. Die Gefängnisse wurden gegen die „Gefahr“ errichtet, die die Mehrheit der versklavten Bevölkerung für die weißen Eigentümer:innen darstellte. Das sind die historischen Kontinuitäten rassistischer Gefängnispolitik und Polizeiarbeit. Michelle Alexanders Buch „The New Jim Crow“ zeigt, wie der Krieg gegen Drogen die Segregationspolitik in den Vereinigten Staaten ablöste. Die Gefängnisse in den USA tragen die Spuren der Sklaverei in sich. Auch in den brasilianischen Gefängnissen sitzen Schwarze und Arme, in den Amazonas-Bundesstaaten viele indigene Menschen.

Die tödliche Polizeigewalt und die Masseneinkerkerung bringt unsere angeschlagene Demokratie ins Wanken. In Brasilien werden heute mehr Menschen verhaftet, gefoltert und getötet als während der zivil-militärischen Diktatur von 1964 bis 1985. Und es ist nicht leicht, diese Sackgasse zu überwinden. Seit den 1980er-Jahren hat das subjektive Festhalten an dieser Barbarei zu Ordnungsforderungen geführt, mit der Folge einer beispiellosen Ausweitung der Polizeikräfte und der Gefängnisse. Beifallsbekundungen für polizeiliche Hinrichtungen und Brutalität im Umgang mit der armen Bevölkerung haben ein Umfeld geschaffen, das Michel Foucault als Polizeistaat bezeichnete. Während ich diese Zeilen schreibe, werden gerade zwei Kinder beerdigt, die bei einem Polizeieinsatz in der Favela do Dendê in Rio de Janeiro erschossen wurden. Die Armee von Ordnungshütern, die für den Kampf ausgebildet werden, ist die politische Basis des Bolsonarismus. Für mich ist klar: Bolsonaro ist eine Folge dieses Prozesses und nicht seine Ursache. Auch in Argentinien erleben wir derzeit den Aufstieg der extremen Rechten, die sich auf die Angst vor Kriminalität und einen moralischen Diskurs stützt.

Ich verorte dieses Paradoxon der brasilianischen Demokratie im Herzen der Re-Demokratisierung. In dieser Zeit entwickelte sich in populären Bewegungen ein starkes Vertrauen in die Justizorgane, die historisch gesehen den städtischen Eliten und Latifundien-Besitzer:innen verpflichtet waren. In einer kürzlich erschienenen Veröffentlichung vergleicht Cristina Zackeski die Sicherheitspolitik von Mexiko[1]Stadt mit der der brasilianischen Hauptstadt Brasília. Obwohl es sich um völlig unterschiedliche Realitäten handelt, fällt auf: Seit den 1990er-Jahren ist es in beiden Städten zu einem umfassenden und intensiven Ausbau der Polizei gekommen. Demokratische Regierungen investieren aus einer reformistischen Perspektive heraus in mehr Polizei. Die brutale Tradition dieser Kräfte spiegelt sich heute in neuen Formaten wider, hauptsächlich in der Re-Militarisierung der Sicherheitskräfte. Wir, die populären Kräfte Lateinamerikas, müssen uns den Herausforderungen stellen, die sich aus der Konfrontation mit dieser Sackgasse und der Zersplitterung der Demokratie ergeben. Die Kritik am Strafrecht ist heute eine der wichtigsten Aufgaben der Kritik des zeitgenössischen Kapitalismus.

Übersetzung aus dem Portugiesischen: Niklas Franzen

medicos Partnerorganisationen in Brasilien streiten seit Jahrzehnten für Demokratie und soziale Rechte. Die städtische Bewegung MTST organisiert seit einigen Jahren Solidaritätsküchen in Armenvierteln und Favelas. Wer sie dort besucht, erfährt schnell und viel über die Omnipräsenz von Polizeigewalt und Gefängnis.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Vera Malaguti Batista ist Soziologin und als kritische Kriminologin Lehrbeauftragte an der Juristischen Fakultät der Staatlichen Universität von Rio de Janeiro/Brasilien. Sie war auch Rednerin bei mehreren Konferenzen von medico.


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