Brasilien steht vor der wichtigsten Wahl seiner Geschichte. Es zeichnet sich ab, dass es zu einem großen Showdown zwischen dem aktuellen Amtsinhaber Jair Bolsonaro und Ex-Präsident Luiz Inácio „Lula“ da Silva kommen wird. Damit stehen sich nicht nur zwei Personen, sondern auch zwei politische Projekte gegenüber, die über die Zukunft des Landes entscheiden werden.
Der Rechtsradikale Bolsonaro hat in den letzten dreieinhalb Jahren eine Spur der Zerstörung hinterlassen. Wegen seiner Umweltpolitik gilt Brasilien auf internationaler Bühne längst als Pariastaat. Bolsonaros schulterzuckender Umgang mit der Corona-Pandemie verprellte auch viele eher konservativ gestimmte Brasilianer:innen. Am schwersten fällt allerdings ins Gewicht, dass sich Brasiliens Wirtschaft trotz gegenteiliger Versprechungen im freien Fall befindet. Inflationsrate und Arbeitslosigkeit klettern auf immer neue Rekordwerte. Alltägliche Dinge wie Gaskanister zum Kochen sind für viele nicht mehr erschwinglich, vor einigen Monaten nahm die UNO das Land erneut auf ihre Welthungerkarte auf.
Es ist gut möglich, dass Bolsonaro darüber stolpert. Doch seit Monaten bereitet er alles vor, um im Stil Donald Trumps die Wahlergebnisse anzufechten. Mehrfach erklärte Bolsonaro, den Ausgang der Wahl nur dann zu akzeptieren, wenn er als Sieger aus ihr hervorgeht. Er verbreitet Lügen über das elektronische Wahlsystem und erklärte, „nur Gott“ könne ihm die Präsidentschaft entziehen. Die meisten Analyst:innen gehen davon aus: Je knapper das Wahlergebnis, desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass Bolsonaro es auf einen institutionellen Bruch ankommen lässt. Für den Rowdy-Präsidenten steht viel auf dem Spiel. Sollte in Folge einer Wahlniederlage seine Immunität aufgehoben werden, dürften er und seine Söhne vor Gericht für zahlreiche Verbrechen verantwortlich gemacht werden. Dem Präsidenten werden vor allem schwere Verfehlungen während der Corona-Pandemie vorgeworfen, aber auch die Verbreitung von Falschmeldungen sowie Anstiftung zur Gewalt. Viele befürchten: Bevor Bolsonaro hinter Gitter wandert, geht er eher mit einem großen Knall unter.
Trotz Bolsonaros autoritärer Sehnsüchte ist Brasilien noch weit von türkischen oder belarussischen Verhältnissen entfernt. Es gibt eine aktive Zivilgesellschaft, kritische Medien, und die demokratischen Institutionen sind halbwegs funktionstüchtig. Das dürfte es Bolsonaro nicht leicht machen, einen Putsch durchzuführen. Auch im Ausland setzen viele auf eine Abwahl des großen Zerstörers. Die Beziehung zwischen Bolsonaro und US-Präsident Joe Biden ist unterkühlt. Unlängst gaben die USA zu verstehen, dem Wahlprozess in Brasilien voll und ganz zu vertrauen.
Bolsonaros größter Konkurrent Lula weiß derweil genau, wie er sich zu inszenieren hat: als großer Versöhner und Anti-Bolsonaro. Und er tut, was er schon immer am besten konnte: seine Fühler in alle Richtungen ausstrecken. Es ist für ihn kein Widerspruch, morgens durch ein von der Landlosenbewegung MST besetztes Gebiet zu wandern und am Nachmittag bei einem Pressetermin in einer gläsernen Bankfiliale zu sitzen. Durch einen beispiellosen Rohstoffboom stiegen in seiner Amtszeit die Armen ein wenig auf und die Reichen wurden noch reicher. Als er 2011 aus dem Amt ausschied, lagen seine Zustimmungswerte bei 82 Prozent. So ist es nicht verwunderlich, dass Lula in vielen Brasilianer:innen das Gefühl von saudade, einer Sehnsucht nach besseren Zeiten weckt. Doch die goldenen Zeiten sind vorbei und Brasilien hat sich verändert. Die Fronten sind verhärtet, die Gesellschaft ist gespalten und wirtschaftlich geht es dem Land schlecht.
Im Wahlkampf sendet Lula ambivalente Signale. Er deutete an, die strengen Abtreibungsgesetze zu lockern, versprach, ein Indigenen-Ministerium einzurichten und von der neoliberalen Sparpolitik abzurücken, sollte er gewählt werden. Außerdem holte er bei inhaltlichen Debatten soziale Bewegungen mit ins Boot, versprach die Bekämpfung der Armut und eine sozialökologische Transformation zur Chefsache zu machen. Gleichzeitig wird der Sozialdemokrat aber wenig konkret, wie er seine ambitionierten Ziele genau umsetzen will. Und Lula sucht gerade auch den Kontakt zur konservativen Mitte. Als Vizepräsidentschaftskandidat nominierte er den konservativen Ex-Gouverneur von São Paulo, Geraldo Alckmin. Vielen Linken stößt die Personalie bitter auf, doch Alckmins Kandidatur ist vor allem eine Message an das bürgerliche Lager: Niemand muss Angst vor mir haben! Lula weiß, dass es ohne die konservative Mittelschicht schwer für ihn wird. Denn sein Höhenflug in den Umfragen ist wahrlich kein Ausdruck einer Stärke der Linken. Denn die ist schwach, zerstritten und orientierungslos. Seit dem Amtsantritt von Bolsonaro hat es bis auf wenige Ausnahmen kaum Proteste gegen die Regierung gegeben, es fehlt an neuen Ideen und charismatischen Persönlichkeiten. In Brasilien ist die Politik schon immer extrem personalisiert. Parteien sind eher unbedeutend, Charisma ist wichtiger als ein stringentes Wahlprogramm. Die meisten Brasilianer:innen sind unpolitisch, nur wenige haben ein klares ideologisches Profil. Der 76-jährige Lula scheint tatsächlich der einzige zu sein, der es vermag, Bolsonaro zu schlagen. Also halten sich viele Linke an die Devise: Erst einmal Bolsonaro abwählen, dann sehen wir weiter. Doch es ist eine Illusion zu glauben, dass Lula im Fall eines Wahlsieges programmatisch dort anknüpfen kann, wo er bei seinem Amtsaustritt 2011 aufgehört hat. Lula wird viele Zugeständnisse machen und im stark zersplitterten Parlament hart um Mehrheiten kämpfen müssen. Der Spielraum für größere, linke Veränderungen dürfte damit relativ klein sein.
Gleichzeitig haben sich zwar viele seiner ehemaligen Wähler:innen von Bolsonaro abgewendet, doch der harte Kern seiner Anhänger:innen hält ihm weiterhin die Treue. Gerade wegen seiner Provokationen und der von Hass geleiteten Politik feiern sie ihn wie einen Popstar und stehen bedingungslos hinter ihm. Sollte Lula die Wahl gewinnen, wird er scharfen Gegenwind von ganz rechts bekommen. Denn der Bolsonarismus wird sich nicht einfach in Luft auflösen, auch wenn sein Namensgeber nicht mehr Präsident sein sollte. Denn er repräsentiert eine Idee und eine neue Art, Politik zu machen – nicht nur auf der großen Bühne der brasilianischen Bundespolitik. In den Parlamenten im ganzen Land sitzen Tausende ultrarechte Ex-Polizist:innen und bibelschwingende Gotteskrieger:innen, die die Politik bereits nach ihren reaktionären Grundsätzen mitgestalten. Auch wenn Bolsonaro im Oktober abgewählt werden sollte, der Geist des Bolsonarismus ist damit noch lange nicht aus der brasilianischen Politik vertrieben.
Niklas Franzen ist Journalist und Autor des Buches „Brasilien über alles. Bolsonaro und die rechte Revolte“ (Assoziation A)
Die medico-Partner:innen in Brasilien streiten für das Recht auf Land und Gesundheit, auf Wohnraum und ermöglichen unabhängige Informationen. Bolsonaro hat jedes dieser Ziele angegriffen. Ohne Illusionen über das, was danach kommt, hoffen sie daher auf seine Abwahl.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!