Seit dem Beginn des russischen Angriffskriegs gegen die Ukraine sind rund fünf Millionen Menschen auf der Flucht, davon sind etwa zwei Millionen in die EU geflohen. Die überwiegende Mehrzahl der Geflüchteten hält sich derzeit in Nachbarstaaten der Ukraine auf, doch auch in Deutschland befinden sich derzeit mehrere Hunderttausend Geflohene.
Anders als 2015, als viele Hunderttausend Menschen aus dem syrischen Bürgerkrieg nach Europa flohen und mühsam die europäischen Grenzen, die Registrierung auf den griechischen Inseln und den Transit der Balkanroute hinter sich bringen mussten, um Aufnahme und Schutz zu finden, hat sich die Europäische Union 2022 für ein unkompliziertes Verfahren der Aufnahme entschieden.
Anfang März 2022 beschloss der Rat der Innenminister_innen der EU einstimmig, die so genannte Massenzustromrichtlinie, oder auch Richtlinie für vorübergehenden Schutz, zu aktivieren. In Kombination mit der Tatsache, dass alle Halter_innen eines biometrischen ukrainischen Passes schon seit vielen Jahren von der Visa-Pflicht für den Schengen-Raum ausgenommen waren (die Bedingung des biometrischen Passes wurde mit Kriegsbeginn schnell fallen gelassen), mit logistischen Hilfsleistungen wie etwa der kostenfreien Nutzung von Zügen und Nahverkehr sowie dank einer pragmatischen und überwältigen Solidarität von unten ergab sich so eine Flüchtlingsaufnahmepolitik und -praxis, die im scharfen Kontrast zur üblichen Politik der EU und ihrer Mitgliedstaaten steht.
Die Richtlinie für vorübergehenden Schutz, ausführlich Richtlinie 2001/55/EG des Rates vom 20. Juli 2001 über Mindestnormen für die Gewährung vorübergehenden Schutzes im Falle eines Massenzustroms von Vertriebenen und Maßnahmen zur Förderung einer ausgewogenen Verteilung der Belastungen, die mit der Aufnahme dieser Personen und den Folgen dieser Aufnahme verbunden sind, auf die Mitgliedstaaten, wurde schon 2001 beschlossen. Bemerkenswerterweise wurde sie in den letzten 20 Jahren jedoch kein einziges Mal angewandt. 2015 stand die Anwendung im Raum, scheiterte aber am Widerstand einiger Mitgliedstaaten.
Ergebnis der post-jugoslawischen Kriege in den 1990er Jahren
Die Richtlinie selbst ist Ergebnis der post-jugoslawischen Kriege in den 1990er Jahren. Auch damals kam es zu großen Fluchtbewegungen, vor allem nach Österreich und Deutschland. Diese beiden Staaten drängten daher auf eine europäische Lösung – die „ausgewogene Verteilung der Belastungen“ im Namen der Richtlinie verweist auf diese Forderung, stellt aber ebenso ein Echo der damaligen Diskussionen um das Dublin-System der Flüchtlingsaufnahme in Europa dar. Dieses sollte ebenso darauf abzielen, eine gleichmäßige Verteilung von Schutzsuchenden zu gewährleisten. Da die Richtlinie schon vor über 20 Jahren verabschiedet wurde, haben auch alle Mitgliedstaaten der EU (mit Ausnahme Dänemarks) schon längst nationale Umsetzungen der Richtlinie beschlossen.
Wer ein bisschen Erfahrung mit dem europäischen Asylsystem und seinen nationalen Umsetzungen, etwa in Deutschland hat, wird sich bei Lektüre der Richtlinie wundern. Die vielfachen Schikanen, Beschränkungen und Einschränkungen sowie Ermessensspielräume der Behörden, die das Asylsystem in Europa kennzeichnen und so schwierig zu navigieren machen, sind in der Richtlinie absent. Und auch das Verfahren zur Anwendung der Richtlinie ist denkbar einfach:
Die Richtlinie sieht vor, dass der Rat das Bestehen eines Massenzustroms mit qualifizierter Mehrheit feststellt. Dies geschieht auf Antrag der Kommission, die ihrerseits wiederum von einem Mitgliedstaat dazu aufgefordert werden kann. Die Kommission muss dann lediglich benennen, um welche Personengruppe es sich handelt, für die dann nach dem Beschluss des Rates ein temporärer Schutzstatus in allen Mitgliedstaaten eingeführt wird. Dies bedeutet, dass keine aufwändige Einzelfallprüfung durchgeführt wird, sondern der Status einfach beantragt werden kann.
Die Dauer des Status ist auf ein Jahr begrenzt, kann aber verlängert werden. In Deutschland wird der Schutzstatus gleich für zwei Jahre vergeben. Weiter muss die Einreise der betroffenen Personen unterstützt werden. Eine weitergehende Asylantragstellung ist für Inhaber_innen des Schutzstatus möglich. Für die Dauer des Schutzes ist sowohl selbständige als auch nicht-selbständige Arbeit zuzulassen, Unterstützung durch die nationalen Sozialhilfesysteme eingeschlossen. Die Richtlinie sieht zudem keine starken Mittel vor, um die Bewegungsfreiheit von Schutzsuchenden innerhalb der EU einzuschränken. Im aktuellen Fall wurde auch auf diese Mittel explizit verzichtet. Damit steht es Schutzsuchenden aus der Ukraine grundsätzlich frei zu entscheiden, in welchem europäischen Land sie sich vorübergehend niederlassen wollen.
Im aktuellen Fall ist die Richtlinie auf alle ukrainischen Bürger_innen, staatenlose Personen aus der Ukraine, Menschen mit nationalem oder internationalem Schutzstatus oder Daueraufenthalt in der Ukraine anwendbar. Damit fallen leider etwa internationale Student_innen, von denen es in der Ukraine viele gab, aus der Lösung heraus.
Zum ersten Mal eine pragmatische Aufnahmepolitik
Mit der Anwendung der Richtlinie zum vorübergehenden Schutz hat sich die Europäische Union zum ersten Mal in der Geschichte des europäischen Asylsystems für eine pragmatische Aufnahmepolitik entschieden, die die Rechte und Bedürfnisse der Schutzsuchenden in den Vordergrund stellt. Der Grund mag sowohl in der Spezifizität der aktuellen Situation liegen, aber auch in der Tatsache, dass die Richtlinie 20 Jahre lang in einer Art Dornröschenschlaf verbracht hat und damit die massiven Einschränkungen zu Lasten der Schutzsuchenden im europäischen Asylsystem verpasst hat. Damit ist die Richtlinie wie ein Gesetz aus einer anderen Zeit, als die schnelle und pragmatische Aufnahme von Schutzsuchenden nicht so umkämpft wie heute, sondern selbstverständlicher war.
Die Anwendung und Umsetzung der Richtlinie unterstreicht, dass die massive Bürokratie des Dublin-Systems, die Gewalt der grenznahen Internierung, die Beschneidung elementarer Rechte im Asylverfahren und das grundsätzliche Misstrauen gegenüber Schutzsuchenden als Grundhaltung des europäischen Asylsystems eine Sackgasse darstellen, die tagtäglich Ausschlüsse, Leid und auch Tod produziert. Zu hoffen ist, dass die gegenwärtige Aufnahme-Politik einen Impuls für eine echte Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems geben wird, der die Rechte der Schutzsuchenden wahrt.
Bernd Kasparek
Bernd Kasparek setzt sich seit rund 20 Jahren forschend und aktivistisch mit dem europäischen Grenz- und Migrationsregime auseinander. Aktuell arbeitet er als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Projekt »Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft« am Institut für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität zu Berlin.