Longo Maï-Kooperative

Ein sicherer Hafen

09.05.2022   Lesezeit: 8 min

Wie ein Ökobauernhof in der West-Ukraine zum Fixpunkt der Hilfe für Kriegsflüchtlinge geworden ist.

Von Moritz Krawinkel

In diesen Frühlingstagen wirkt die Landschaft Transkarpatiens mit ihren bewaldeten Hügeln und dem Blick auf die schneebedeckten Berge der Karpaten fast idyllisch. Der oblast bildet den westlichsten Ausläufer der Ukraine in der Grenzregion zu Polen, der Slowakei, Ungarn und Rumänien. Der Krieg ist hier nicht zu sehen, aber die Folgen allgegenwärtig. Seit mehreren Tagen bereisen wir die Region, in der Hunderttausende Schutz und Versorgung gefunden haben.

Flucht vor den Bomben

Im Kindergarten des Dorfes Nischnje Selischtsche treffen wir Nina. Sie ist zu Beginn des Krieges zusammen mit elf Kindern und zwei Mitarbeiterinnen hierher geflohen. In den hellen Räumen des alten Sowjet-Gebäudes mit seinen auf dem Boden verlegten Leitungen, erzählt sie ihre Geschichte. Zehn Jahre lang hat sie als Leiterin eines Kinderheims in Schtschastja gearbeitet, einem Dorf mit 6000 Einwohner:innen nördlich von Luhansk im Donbass. Die heftige Bombardierung des Ortes markierte den Beginn des russischen Angriffs auf die Ukraine im Februar. Manche Kinder seien bereits früher aus der Einrichtung abgeholt worden, aber die meisten stammen aus Familien, die sich nicht um ihre Kinder kümmern oder kümmern können, erzählt sie. Auch im Krieg nicht. Eine Evakuierung des Ortes war bereits geplant, denn im Donbass hatten die Kämpfe bereits vor dem 24. Februar zugenommen. Doch bereits um 5 Uhr morgens des Evakuierungstages fielen die ersten Bomben. Ruhe gab es danach nicht mehr. Elf lange Stunden verschanzten sich die Kinder des Heims mit ihren Betreuer:innen im Keller. Nina, die unter Klaustrophobie leidet, blieb in einem engen Korridor im Erdgeschoss, irgendwann kam ihr Sohn zu ihr, den sie mit ins Heim genommen hatte.

Auf ihrem Handy zeigt sie uns ein Video vom Raketeneinschlag im Hof und in der Kantine der Einrichtung. Zerstörte Fenster, brennende Räume. Ninas Schwester aus Polen rief sie an, bat, dass sie endlich flieht. Der Weg zum Ortsausgang ist eigentlich nicht weit, sagt Nina, doch nach den Bomben kamen die Granaten, Strom und Wasser fielen aus. Ihre Angst kann die Frau beschreiben, aber in den Pausen, die sie der Übersetzerin lässt, kommen ihr immer wieder die Tränen. Ihre Schwester dachte vor allem an die Flucht von ihr und ihrem Sohn, aber Nina kann die Kinder, für die sie die Verantwortung hat, nicht allein lassen.

Schließlich entsteht ein Kontakt zu einem Fahrer. Trotz abbrechender und immer wieder erschwerter Kommunikation hält endlich ein Minivan im Hof der Einrichtung: alle Kinder und ihre Betreuer:innen schaffen es ohne Verletzungen, den Bomben zu entkommen. Der Fahrer bringt sie zum nächsten Bahnhof, wo ein Evakuierungszug auf sie wartet, lange Minuten. Wohin es geht, wissen sie zunächst gar nicht. Hauptsache nach Westen. Irgendwie entsteht unterwegs der Kontakt zu jemandem von Longo Maï. „Fahrt nach Lwiw“, wird ihnen gesagt, „wir holen euch ab“. So kommen Nina und ihre Kinder nach Nischnje Selischtsche, wo wir mit ihr sprechen können. Dies war bereits ihre zweite Flucht. Als 2014 der Konflikt im Donbass begann, war Nina mit 25 Kindern auf einem Sommercamp in Odessa. Ein halbes Jahr blieben sie dort. Erst der Waffenstillstand ermöglichte die Rückkehr nach Schtschastja. Jetzt sind sie wieder auf der Flucht. Die Kinder, mit denen Nina nach Longo Maï gekommen ist, sind inzwischen in der Schule von Nischnje angemeldet, die Kleinen mit Online-Unterricht.

Kooperativen gegen Leistungszwang und Nationalismus

Gegründet wurde das Kooperativen-Netzwerk Longo Maï, mit dem wir in der Ukraine bei der Versorgung der Flüchtlinge zusammenarbeiten, Anfang der 1970er Jahre von Jugendlichen aus zehn europäischen Ländern, die dem repressiven Klima in den Städten nach 1968 entfliehen und vom Land aus eine gesellschaftliche Alternative jenseits von Kapitalismus, Leistungszwang und Nationalismus aufbauen wollten. Privates Eigentum an den Produktionsmitteln gibt es nicht, auch keinen Lohn für die Arbeit am Gemeinschaftsprojekt. Mittlerweile gibt es Longo Maï in Frankreich, Österreich, Schweiz, Rumänien und Deutschland. Seit 1989 ist die Kooperative auch in Transkarpatien. Oreste, der inzwischen perfekt ukrainisch spricht, war von Anfang an dabei.

Zwischen zwei Wäldern haben sie hier einen Hof aufgebaut, aus dessen ökologischer Produktion sie Fleisch und Apfelsaft verkaufen und daneben genug Gemüse und andere Erzeugnisse für den Eigenbedarf anbauen. Auf den ausgelaugten Böden des Grundstücks, das sie kaufen konnten, war das zunächst sehr harte Arbeit. Die Bauern aus der Nachbarschaft haben uns belächelt, sagt Oreste. Aber nachdem wir die Böden über die Jahre immer fruchtbarer machen konnten und die Produktion schonend und nachhaltig gesteigert haben, kommen viele zu uns, um zu lernen. „Eigene Tiere züchten, lokal verarbeiten und direkt verkaufen“, so fasst Oreste das Konzept zusammen.

Und wie überall spielt für Longo Maï die Zusammenarbeit mit anderen Erzeuger:innen in regionalen Bündnissen eine wichtige Rolle, um sich für Ernährungssouveränität und den Erhalt lokaler Märkte einzusetzen. Daneben engagierten sich die Kooperativen aber immer auch in politischen Kampagnen, zum Beispiel für Geflüchtete und Migrant:innen. Nach dem Putsch in Chile 1973 gelang es auf Initiative von Longo Maï, mehrere Tausend Menschen in die Schweiz zu evakuieren, während des Sandinistischen Befreiungskrieges gegen die Somoza-Diktatur wurde in Costa Rica ein Anlaufpunkt für nicaraguanische Flüchtlinge geschaffen, der nach ihrer Rückkehr für Flüchtlinge des salvadorianischen Bürgerkriegs geöffnet wurde.

Um in Nischnje Selischtsche kleine landwirtschaftliche Produzent:innen zu stützen haben sie vor zwei Jahren einen Laden eröffnet, in dem lokale Produkte verkauft werden. Eine Käserei, die Longo Maï in einem langwierigen Prozess mit aufgebaut hat, nimmt auch Kleinstmengen Milch für die Weiterverarbeitung an – viele hier halten eine Kuh für den Eigenbedarf und haben nur kleine Überschüsse. Inzwischen ist die Kooperative fester Bestandteil der Dorfstruktur, aber zu Beginn war das Ankommen in der Region nicht einfach, erzählt Oreste. Mit Kollektivismus wollte hier nach dem Ende der Sowjetunion erst einmal niemand etwas zu tun haben. Eine Annäherung brachte erst die Bewegung um die Maidan-Revolution 2014, als viele Menschen begannen, sich gesellschaftlich zu engagieren.

2017 haben sie ein Gästehaus eröffnet, in dem bis zu 35 Menschen unterkommen können. Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie wurde das Haus rege genutzt für Jugendaustausche, Theatergruppen, aber auch für Hochzeiten und Geburtstage von Leuten aus dem Dorf. Auch das ist Teil der Longo Maï-Strategie: Die Förderung von Kultur und Austausch zwischen Menschen von außen und den Dorfbewohner:innen. „Der Erfolg ist schwer zu messen, aber wenn etwas los ist, kommen die Kinder aus dem Dorf einfach vorbei und machen mit“, erzählt Jürgen, der wie Oreste vor dreißig Jahren hierher kam. Als Musiker tourte er mit seiner Folkband aus dem Dorf regelmäßig durch Europa. Inzwischen wird auch das Gästehaus als Flüchtlingsunterkunft genutzt.

Auch wenn mittlerweile Hunderttausende nach Transkarpatien geflohen sind, hören wir während unseres Aufenthalts keine Beschwerden. Im Gegenteil. „Wir werden den Flüchtlingen nie sagen, geht zurück“, sagt Nina, in deren Haus wir zum Essen eingeladen werden. „Wir sind hier ganz im Westen der Ukraine, die Menschen aus dem Osten können zu uns kommen. Aber wenn die russische Armee hierher kommen sollte, müssten auch wir unser Land verlassen.“ Trotz der verhältnismäßigen Unbetroffenheit der Region durch den Krieg bleibt die Stimmung deswegen gedrückt. Alexandra, die in der Notaufnahme eines Krankenhauses arbeitet, formuliert es so: „Covid war hart, aber das hat wenigstens die ganze Welt betroffen. Der Krieg ist nur hier, das ist schwerer zu akzeptieren.“

Der Frust im Land wird größer

Oreste war vor dem Krieg vor allem in der Ökologie-Bewegung aktiv und sprach auch im Namen anderer Initiativen. Als Ausländer und mit einem europaweiten Netzwerk im Rücken war er sicherer als Aktivist:innen mit ukrainischem Pass. Zuletzt haben sie sich hier vor allem gegen den illegalen Raubbau an den Karpaten-Wäldern und ein Skiresort engagiert, das der Oligarch Ihor Kolomojskyj plant. Mitten im Nationalpark – dem feuchtesten Ort der Ukraine mit einer ausgeprägten Biodiversität, wie sie kaum noch zu finden ist, und Korridor für die sich langsam erholende Bärenpopulation der Region – soll eine Stadt für 35.000 Menschen entstehen.

Kolomojskyj hat Selenskiy mit an die Macht gebracht, sagt Oreste. Deshalb haben sie den Präsident und seine Verbindungen zur Oligarchie immer wieder hart kritisiert. Doch wegen des Krieges warten nun alle ab: Die Oligarchen aus Angst um ihr Geld, aber auch die Aktivist:innen haben den Ton gegenüber der Regierung geändert. Lange wird dieser Burgfrieden jedoch nicht mehr halten, vermutet Oreste. Der Frust im Land werde größer. Nach den ersten Wochen des Patriotismus, als sich viele freiwillig für die Territorialverteidigung gemeldet hatten, gebe es inzwischen einige Berichte über Korruption in der Armee. Zudem wachse die Angst, dass junge, unerfahrene Rekruten an die Front geschickt und dort verheizt würden. Für Oreste ist klar: Alle sollen fliehen dürfen, auch Männer müssen das Land verlassen können.

medico unterstützt Longo Maï bei der Unterbringung und Versorgung von Binnenflüchtlingen in Transkarpatien und der humanitären Versorgung von Flüchtlingen und eingeschlossenen im umkämpften Osten der Ukraine. Größere Projekte sind in Planung.

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Moritz Krawinkel

Moritz Krawinkel leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei medico international. Außerdem ist er in der Redaktion tätig und für die Öffentlichkeitsarbeit zu Zentralamerika und Mexiko zuständig.

Twitter: @mrtzkr


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