medico: In deinem Buch „Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine“, das gerade in Spanien erschienen ist, unternimmst du den Versuch einer europäischen Annäherung an den Krieg in der Ukraine ausgehend von einer europäischen Gegenöffentlichkeit. Woher rühren deine politischen Beziehungen zu den postsowjetischen Ereignissen, die du so detailliert in deinem Buch schilderst?
Raúl Sánchez Cedillo: Ich bin seit den 1990er Jahren politisch aktiv. Europäische Politik habe ich immer für zentral gehalten, um eine emanzipatorische Politik zu entwickeln und war an vielen Bewegungen beteiligt, die sich zugleich als Bestandteil der globalisierungskritischen Bewegung sahen, in der wir einen europäischen Zweig bildeten. Für fortschrittliche Bewegungen, auch die der Migrant:innen, schien uns ein gemeinsamer politischer Raum, wie er zum Beispiel durch eine europäische Verfassung hätte entstehen können, viel interessanter als die aufgesplitterte politische Landschaft, wie wir sie heute vorfinden.
Im Zusammenhang mit den großen kommunalen Bewegungen wie den Indignados in Spanien haben wir zum Beispiel die „Universidad Nómada“ (die nomadische Universität) geschaffen. Wir wollten damals "Monsterinstitutionen" kreieren, die eine Brücke zwischen Politik und Kunst schlagen sollten – außerhalb der Kulturindustrie und doch innerhalb der Institutionen. Dabei haben wir sehr eng mit osteuropäischen Künstlerkollektiven zusammen gearbeitet. Zum Beispiel mit „chto Delat“ – eine bis heute arbeitende Gruppe aus Sankt Petersburg – genauso wie mit kleinen Gruppen in der Ukraine und in Polen. Daraus entstand eine Konferenz, die wir gemeinsam mit dem Reina Sofia Museum 2014 organisierten: „Die neue Entführung Europas – Schulden, Krieg, demokratische Revolutionen“.
Sie fand zufälligerweise zur gleichen Zeit wie der Euromaidan in der Ukraine und die russische Invasion der Krim statt. Wir luden damals die Aktivist:innen ein, von denen sich heute viele für den Kriegseinsatz aussprechen und selbst Teil der Armee oder von Milizen sind. All diese Gruppen sehen sich in einem gemeinsamen Kampf mit der NATO. Europa als umkämpfter Raum, in dem unabhängige politische und künstlerische Kollektive aus Osteuropa gemeinsam mit antikapitalistischen westlichen Kollektiven interagieren und ihre Kämpfe zusammenführen, ist als gemeinsame Idee durch den Ukraine-Krieg erst einmal auf Eis gelegt. Schon damals waren die Aussichten nicht besonders gut. Viele ukrainische Linke kritisierten uns, weil wir der Meinung waren, dass ein Krieg mit Russland unbedingt vermieden werden müsse, auch wenn die Besatzung der Krim absolut nicht akzeptabel war. Unter ihnen gab es zudem unterschiedliche Einschätzungen über den Maidan und die Rolle der rechten Kräfte.
Im Grunde nahm die politische Entwicklung in der Ukraine vorweg, was überall in Europa passieren sollte: eine Renationalisierung der Politik. Die Idee eines gemeinsamen Europas, geprägt von den west- und osteuropäischen Erfahrungen, das soziale Bewegungen und gemeinsame Kämpfe gegen die Prekarität der Arbeit, für Bewegungsfreiheit und für ein gemeinsames föderatives Wohlfahrtssystem mitgestalten, löste sich in Luft auf. Wir dürfen dabei nicht vergessen, dass die Pandemie zudem die schlimmsten politischen Leidenschaften geweckt hat. Verschwörungstheorien und Vorurteile haben sich rasend verbreitet. Auch das hatte einen Effekt auf alle Akteur:innen.
Du kritisierst die ukrainische Linke, die deutlich den Krieg und die Nato-Unterstützung befürwortet. Warum?
Mir fällt es schwer zu verstehen – ohne das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung in Frage zu stellen – dass der Militarismus, das offene Bekennen zur ukrainischen Armee, in der kleinen ukrainischen Linken eine solche Rolle spielt. Sie machen sich zum Teil einer Nato-Intervention in der Ukraine, die nicht nur die militärische Ausrüstung stellt, sondern auch direkt militärische Informationen liefert und militärische Operationen mit steuert.
Für mich besteht ein Unterschied in der legitimen Selbstverteidigung gegen die Invasion und einem Militarismus in der Sprache und in den Handlungen, der verlangt, dass man sich auf die Seite der NATO stellt. Die Hoffnung vieler Linker, dass man gemeinsam mit der NATO Putin aus dem Amt verjagen könne, dem eine sozialistische Revolution folgen werde, und man bei dieser Gelegenheit auch noch die ukrainische Oligarchie vertreibe, erstaunt mich. Die Neoliberalisierung und die Deregulierung der Ukraine ist seit dem Maidan ein fortlaufender Prozess. Nichts spricht dafür, dass der durch den Krieg gestoppt wird. Um die sozialen und politischen Rechte in der Ukraine ist es doch seither ziemlich schlecht gestellt.
Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schrieb kürzlich, die EU und die NATO verlangten mitten im Krieg von der Ukraine eine solche Deregulierungspolitik, dass man schon von einem „Krieg ohne Staat“ sprechen müsse …
Das sagt er jetzt. Am Anfang war er auch der Meinung wie viele, dass dieser Krieg dazu diene, ein integriertes Europa von oben zu bauen. Jetzt wird aber immer klarer, dass genau das nicht kommen wird.
Ist nicht nachvollziehbar, dass die ukrainische Linke die Hoffnung hat, mit diesem Krieg endlich aus der postsowjetischen Bedingung, aus der imperialen und stalinistischen Geschichte austreten zu können, die, wie der Krieg beweist, in einer endlosen Wiederholungsschleife zu bestehen scheint?
Ja, natürlich. Die Ukraine hat über die ganze Moderne hinweg eine tragische Geschichte. Immer dann, wenn es um ihre Unabhängigkeit ging, war dies tragisch. Im Bürgerkrieg nach dem ersten Weltkrieg kämpften fünf verschiedene Armeen um die Unabhängigkeit und bekämpften sich zugleich gegenseitig. Es gab zwei verschiedene Republiken. Alle gegründet und erkämpft von Ukrainer:innen.
Die Ukraine ist ein Grenzland zu vielen Ländern und Regionen. Hier liegt eine lange Geschichte von Bevölkerungsaustausch und Deportationen vor, die tiefe Spuren hinterlassen hat. Die Idee, gerade hier einen homogenen Nationalstaat schaffen zu wollen, halte ich für einen Irrweg. Die beste Zeit hatte die Ukraine in der Chruschtschow-Periode. Sowohl Chruschtschow wie Trotzki waren aus der Ukraine. Die Rolle der ukrainischen Kommunisten, darunter viele Juden, ist fundamental bei der Entstehung der Sowjetunion. Man sollte nicht vergessen, dass Putin in seiner Rede vor der Invasion die sowjetische Zeit für das Entstehen einer unabhängigen Ukraine verantwortlich gemacht hat, weil gerade zu Beginn der 1920er Jahre das linguistische Problem auf eine kluge Weise gelöst wurde. Damals wurde die ukrainische Sprache gefördert und anerkannt. Auch Taras Schewtschenko zählte zum Literaturkanon als Dichter der ukrainischen Sprache und Tradition.
Nach dem Ende der Sowjetunion erlebten alle Arten von Nationalismen, der imperiale, vorurteilsgeladene, panrussische Nationalismus, aber auch der bis dahin unterdrückte ukrainische Nationalismus von Petljura und danach Bandera, bei dem Antisemitismus eine Rolle spielt, ein Revival. Der Antisemitismus spielt im ukrainischen, russischen und polnischen Nationalismus eine Schlüsselrolle. Das darf man nicht vergessen.
Gerade findet eine Art Rekomposition dieses Nationalismus im realen politischen Raum statt. Selensky, ein russischsprachiger, ukrainischer Jude mit herausragender Medienkompetenz, ist ganz wesentlich an der Neugründung eines Nationalismus beteiligt, der verkündet, dass jetzt eine ukrainische Nation entsteht, die sich vom russischen Einfluss befreit und den Westen umarmt. Das ist angesichts der linguistischen, historischen und kulturellen Geschichte der Ukraine einfach nicht möglich. Oder wenn, dann gelingt das nur durch einen sehr schrecklichen Krieg, in dem ethnische Säuberungen und die Unterdrückung von Minderheiten stattfinden. Dieser Krieg zur Nationenbildung der Ukraine wird niemals enden. Die Frustrationen der russischsprachigen Bevölkerung werden zunehmen. Man kann mit einem solchen aggressiven Nationalismus keinen Staat bauen. Was die Ukraine anbetrifft, ist Krieg unter keinen Umständen eine Lösung.
In der gesamten Rhetorik um den Ukraine-Krieg spielt der Topos des „gerechten Krieges“ eine zentrale Rolle. Kann man das angesichts des Rechts auf Selbstverteidigung gegen einen Aggressor bestreiten?
Ich kritisiere den Begriff „gerechter Krieg“ und halte ihn generell für einen schwierigen Begriff. Damit wurden die Kreuzzüge oder die Kriege gegen das Osmanische Reich gerechtfertigt. Er hat zuallererst eine theologische Grundlage. Ein „gerechter Krieg“ wird im Namen Gottes geführt. Die ganze Menschenrechtsdoktrin belebte ihn dann auf säkularer Basis wieder, zum Beispiel im Jugoslawien-Krieg oder in den Krisen Afrikas. Hier werden Kriege nicht im Namen Gottes, sondern im Namen der Menschenrechte geführt. Das ist eine Form von westlicher Heuchelei aus den 1990er Jahren. Das muss man kritisieren. Und selbst Lenin sprach von „gerechten Kriegen“. Bei ihm geschah das im Namen des Proletariats. Er behauptete, ihn im Namen von unterdrückten Völkern und Klassen zu führen und verteidigte damit den Bürgerkrieg. Das ist harte Leninsche Doktrin. Ich kritisiere generell die Verwendung dieses Begriffs. Es gibt keine klar abgrenzbaren nationalen Kriege und Befreiungskonflikte mehr. Immer sind darin Imperien, militärische Systeme und Bündnisse involviert, die diese Konflikte benutzen, um ihre eigenen Ziele zu verfolgen. Man kann das nicht mehr voneinander trennen.
Was also bedeutet dieser Diskurs über den „gerechten Krieg“ oder die Völkerrechtsverletzung? Das ist apologetische Propaganda. Denn es gibt keine reale internationale Struktur, die internationales Recht über die Parteien hinweg durchsetzen kann. Ich berufe mich in meinem Buch auf den Rechtswissenschaftler Hans Kelsen, der sich nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine internationale Polizeikraft vorstellte, die nur dazu da sein sollte, Krieg auf jeden Fall zu unterbinden. Denn nach dem Zweiten Weltkrieg und angesichts der Atomkriegsgefahr könne der Krieg nicht mehr als Fortsetzung der Politik gedacht und geführt werden. Kelsen stellte sich eine Art Weltsouverän vor, der den Auftrag hätte, Kriege oder eine Klimakatastrophe zu verhindern und dem sich alle regionalen Mächte unterzuordnen hätten. Die Weltordnung, die in Jalta gegründet wurde, hat die Verwirklichung dieser Idee verhindert. Deshalb kann es keinen gerechten Krieg geben.
In der gegenwärtigen Debatte wird Russland als das radikal Böse dargestellt. Und alle historischen Kontexte werden gern als Whataboutism denunziert. Du widmest dich trotzdem sehr intensiv der Transformationsgeschichte Russlands nach 1990. Wie erklärt sie den gegenwärtigen Krieg?
Natürlich ist Putin schrecklich. Er ist ein reaktionärer, rechtsextremer, homophober, antikommunistischer Oligarch. Das reicht als Beschreibung. Aber das Putin-Regime ist lange Zeit von den westlichen Mächten unterstützt worden. Der Westen und allen voran Jeffrey Sachs als Jelzin-Berater, der heute alles bereut, unterstützten erst Jelzin und dann Putin gegen eine mögliche sowjetische Restauration. Lange Zeit hat der Westen also ein panrussisches, autoritäres Regime der Oligarchen gutgeheißen. Jelzin und Putin führten bereits ein neoimperiales Regime an. Diese Entwicklung hat sich beständig selbst verstärkt.
Die politische Situation in Russland ist verheerend. Wenn man sich allein die Duma anschaut. Alle Parteien sind sich über diesen Krieg einig. Die gesamte politische Klasse steht hinter diesem Krieg und also auch wichtige Teile der Gesellschaft. Das ganze Narrativ darüber, dass Putin isoliert sei und von der Elite entmachtet werden wird, ist vollkommener Unsinn. Und es gibt Leute, die noch schlimmer sind als Putin. Schau dir den Diskurs der Kommunistischen Partei an. Die Idee, man könne die reaktionäre Elite in Russland durch einen chirurgischen Krieg loswerden, hat mit der Wirklichkeit nichts zu tun. Das alles bedient nur das historische Opfer-Narrativ in Russland, das auf die Tatsache mehrerer Invasionen zurückgreifen kann. Dagegen gab es immer eine große Opferbereitschaft in Russland. Wir müssen die Hegemonie des Nationalismus in Russland als Tatsache zur Kenntnis nehmen.
Dein Buch macht klar, dass es keinen Weg gibt, diese Krise durch Krieg zu lösen. Gleichzeitig erleben wir überall eine überwältigende Mobilisierung der Öffentlichkeit für den Krieg. Überall haben wir kapitalistische Systeme. Inwieweit hängen Kapitalismus und Krieg zusammen?
Wir müssen ausgehen von einem weltweiten kapitalistischen System unter US-amerikanischer Führung, das sich in einem langwährenden Krisenmodus befindet. Die Aggressivität der USA in diesem Krieg hat damit zu tun, dass sie hier ihre Führungsposition gegenüber China, aber auch gegenüber einer möglichen Autonomie der EU verteidigen. Da werden Widersprüche deutlich. Macron empörte sich bereits darüber, dass die scharfe Kriegspolitik der USA für Europa und Frankreich enorme ökonomische und soziale Folgen haben werde, während die USA Gas aus Fracking auf den Weltmarkt wirft und der Dollar stark wird. Die Erhöhung der Zinsraten in den USA zwang auch die EU zu diesem Schritt und führt in Westeuropa zu einer Rezession.
Aus US-amerikanischen Strategiepapieren geht längst hervor, dass sie diesen Krieg zur Verteidigung der eigenen Hegemonie gegenüber China nutzen und dabei auch einen ökonomischen Krieg gegen den vermeintlichen Hauptgegner nicht scheuen. Die Schwächung eines semiperipheren Russlands als Bündnispartner Chinas ist ganz im Sinne dieser Strategie, genauso wie die Schwächung einer autonomen EU. Das ist allerdings ein sehr geopolitisches Argument. Ich bin eigentlich kein Freund der Geopolitik, weil sich auf diesem Gebiet Paranoiker, Verschwörungsanhänger und Faschisten sammeln.
Die inneren Widersprüche in den USA sind beredter. Viele sagen, dass sich die USA auf einen Bürgerkrieg zubewegen. Das hat es bis auf den ersten Bürgerkrieg in den USA nicht gegeben. Eine Periode also, in der die föderative Macht zur Durchsetzung von Rechtsnormen ernsthaft gefährdet ist, wo Militarisierung und bewaffnete Konflikte in der nahen Zukunft absolut denkbar sind. Auch die ökonomische Situation für die subalternen Klassen ist dramatisch. Ein Krieg ist ein möglicher Weg aus diesen Dilemmata. Er schafft Ordnung und Disziplin. Denn die Demokraten in den USA, aber auch die Eliten hier sind zunehmend weniger in der Lage, sozialen Zusammenhalt herzustellen, wenn es um ökologische oder Einkommensgerechtigkeit geht.
Dabei gab es Hoffnung. Man dachte, endlich sei der Neoliberalismus tot. Der immer wieder angekündigte Tod des Neoliberalismus ist jedoch mittlerweile ein B-Movie, das seit Jahrzehnten gespielt wird. Man denkt, er wäre eine Ideologie, aber nein, Neoliberalismus ist Klassenpolitik in einer Zeit, in der der Kapitalismus als eine soziale Beziehung, als sozialer Extraktivismus und Ausbeutung nicht in der Lage ist, die Forderungen der überwiegenden Mehrheit der Menschen in der Welt zu erfüllen. Das trifft auch für die Mehrheit der Bevölkerung in der ersten Welt zu.
Du sprichst in deinem Buch von einem Kriegsregime, das in unseren Gesellschaften als Logik, in der man sich verfängt, Einzug halten könnte. Das bezieht sich nicht nur auf den Krieg in der Ukraine?
Autoritäre Regime lieben die Idee des Krieges. Meloni in Italien beispielsweise. Sie erklärt sich flugs zur Atlantikerin und verknüpft das sofort mit repressiven Gesetzen in Italien. Man sieht das auch bei der Debatte um die Verschärfung der Gesetze in Bezug auf Klimaaktivist:innen. Ich finde es erschreckend, mit welcher Repression und welchen Worten auf deren Aktionen reagiert wird. Die Verführung, die in der Kriegsrhetorik liegt, hat historische Parallelen zum Ersten Weltkrieg, bei dem es um innersystemische Krisen und Konflikte ging.
Seit dem Ersten Weltkrieg ist Krieg überhaupt die wichtigste Quelle für Faschismus. Danach entwickelten sich der Antisemitismus, der Nationalismus, der Antikommunismus zu großer Blüte. Es entstand auch ein besonderer Pathos und die Faszination für die Katastrophe. Heute gibt es allerdings einen großen Unterschied zu damals. Die biopolitischen Kriegskapazitäten, wozu die totale Mobilisierung von Bevölkerungen gehört, sind enorm gewachsen. Wer in dieser Situation davon spricht, mit diesem Krieg Russland endgültig schlagen zu wollen, bringt die ganze Biosphäre in Gefahr. Die Situation ist dramatisch in der Ukraine. Aber es kann nur einen Weg geben, nämlich diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden.
Man hält die westlichen Werte hoch und schafft durch Kriegsrhetorik politische Ordnung und Disziplin?
In Russland begann das Kriegsregime mit dem Machtantritt von Putin. Man muss sich nur an die Kriege in Tschetschenien erinnern, die ihn an der Macht konsolidierten. Ich denke, dass das Kriegsregime einen Fluchtweg für die radikale Mitte darstellt. Diese Mitte ist das Rückgrat der Konstruktion Europa. Aber ich glaube nicht, dass ein solches mit Feindbildern ausgestattetes Ordnungssystem wirklich eine Ordnung schaffen kann, dass es mit diesen Anarcho-Faschisten wie Putin oder Lukaschenko oder den serbischen Nationalisten Schluss machen kann. Natürlich nicht, Krieg schafft nur mehr Instabilität, mehr Vorurteile und mehr nationalistischen Faschismus. Das Kriegsregime enthält keinen Vorschlag für eine soziale ökologische Transition. Und in Wahrheit ist der gesamte grüne Diskurs deshalb ruiniert. Statt eines ökologischen Umbaus erleben wir nun die Renaissance der fossilen Energien. Das alles zu einer Zeit, da wir überhaupt keine Zeit mehr haben und der Anstieg der Treibhausgase uns schon jetzt in die Katastrophe treibt. Statt einer neuen Herangehensweise um Klimastabilität zu erreichen, statt Degrowth und weltweiter Umverteilung, gibt es diesen Krieg und ein weltweites Kriegsregime.
Der Historiker Christopher Clarke bezeichnete die Eliten im Ersten Weltkrieg als Schlafwandler. Das erleben wir heute wieder. Da ist eine ideologische Denkweise auf dem Vormarsch. Der demokratische Kapitalismus überschreitet gerade eine Grenze, hinter der er seine demokratische Seite abstreift.
Dagegen braucht es eine demokratische Revolte, damit sich ein konstituierender Friedensprozess in Europa herausbildet. Wenn nicht, ist zu fürchten, dass wir einen neokolonialen, autoritären Kapitalismus erleben werden, der auf Apartheid und militärischem Kolonialismus beruhen wird. Und das wird legitimiert durch das Freund-Feind-Schema, das sich gerade herausbildet.
Wenn man allerdings Kurden oder Syrer fragt, würden sie vielleicht doch den Unterschied zwischen Erdogan oder dem Assad-Regime und den USA betonen. Müssen wir in der Beschreibung des Kriegsregimes auch über diese Unterschiede sprechen?
Ich bin damit vollkommen einverstanden. Die Kurden brauchten die NATO-Unterstützung, um zu überleben. Aber ich würde Rojava nicht mit der Ukraine gleichsetzen, auch wenn das noch kommen kann. Seit der Poroschenko-Regierung, die nach dem Euromaidan an der Macht war, gab es auch in der Ukraine eine Eskalation in Richtung Krieg. Die Ukraine hätte möglicherweise die heutige Situation mit einer anderen Politik vermeiden können. Die Kurden hatten keine Wahl. Die Minsker Abkommen waren eine Grundlage für eine friedliche Perspektive. Aber die nationalistische Agenda in der Ukraine und die hegemonialen Interessen der NATO verhinderten diese Möglichkeit ebenso wie das russische Kriegsregime.
Dass Russland einen Vernichtungskrieg gegen die Ukraine führen wird, wie es das in Tschetschenien getan hat, ist nicht auszuschließen. Gerade bei einem Gegner wie Russland – dort steht ja nicht nur Putin, sondern das ganze Regime auf dem Spiel. Sie werden eine strategische Niederlage um keinen Preis zulassen.
Wir müssen die drei Krisen verstehen, die in der Ukraine ineinandergreifen. Es gibt einerseits eine Krise im Weltsystem um die Hegemonie zwischen China, den USA und einer gewissen Multipolarität. Dann gibt es einen innerimperialistischen Konflikt zwischen Russland und den westlichen Mächten, der eine Geschichte, aber auch eine Gegenwart aus oligarchischen Kämpfen um globale Märkte hat. Und natürlich einen Nationalstaat, der sich gegen eine Invasion wehrt.
Um eine politische Haltung zu entwickeln, muss man die Verflechtung aller drei Krisen verstehen. Wenn man sich nur auf die völkerrechtswidrige Invasion in der Ukraine beruft, landet man bei reiner Moral. Als die Ukrainer:innen 1991 mit überwältigender Mehrheit für die Unabhängigkeit stimmten, haben sie doch nicht für eine Idee von Autonomie gestimmt, die die Selbstopferung der Ukraine vorsieht. Das ist doch eine reaktionäre, ja faschistische Erzählung, die allerdings Wurzeln in der nationalistischen Tradition hat.
Konstituierender Frieden und Exodus tauchen in deinem Buch als Idee am Horizont auf. Was verstehst du darunter?
Die vorliegenden Szenarien sind alle schrecklich. Aber die Widersprüche darin sind auch offenkundig. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es auch die Oktoberrevolution. Hoffentlich werden wir weder diese Art von Krieg noch diese Art von Revolution erleben. Denn es begann und endete mit einem Bürgerkrieg. Aber wir befinden uns an einem Kipppunkt des Kapitalismus. Er ist in eine Phase eingetreten, in der das Kapital überall vom finalen Ende bedroht ist. Die Aussichten auf eine Konvivenz zwischen Demokratie und Kapitalismus werden immer schlechter. Ich bin überrascht, wie viele glauben, dass Biden die Demokratie retten wird. Für mich ist das eine Form von neokolonialem Optimismus. Wer behauptet, eine zivilisatorische Position zu vertreten und seine Beziehung zu Erdogan, zu Katar und Saudi Arabien dafür verbessert, betreibt neokoloniale Heuchelei.
Die Lage ist verzweifelt. Aber wir können nicht wissen, ob aus den aufgezählten Widersprüchen nicht neue emanzipatorische Bewegungen entstehen, die soziale Gerechtigkeit mit einer ökologischen Transformation, Internationalismus und der Ablehnung der kapitalistischen Herrschaft verbinden. Um so etwas möglich zu machen, muss man zuallererst den Krieg bekämpfen, der die Vernunft unterdrückt, Leidenschaften und Todestriebe weckt und letztlich den Faschismus nährt.
Ich spreche von konstituierendem Frieden, weil Pazifismus zuallererst den Raum schafft, damit wir überhaupt von etwas Neuem, dem Ende des Kapitalismus sprechen können.
Das Interview führte Katja Maurer.
medico unterstützt die Übersetzung und deutschsprachige Veröffentlichung des Buches von Raúl Sánchez Cedillo, "Dieser Krieg endet nicht in der Ukraine", im Verlag transversal texts. Es erscheint zum Jahrestag des Kriegsbeginns im Februar 2023 und wird auch auf der medico-Webseite kostenlos abrufbar sein.
Eine kürzere Fassung erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!