Jetzt ist es amtlich. Der haitianische Ministerpräsident Ariel Henry tritt zurück. Ein Sieg der Gangs, die in den letzten Wochen vereint ihre ganze waffenstarrende Macht zeigten und eine Rückkehr des Ministerpräsidenten verhinderten. Henry wurde vor über zwei Jahren via Twitter-Meldung der mittlerweile aufgelösten Core-Group (USA, Kanada, UNO, EU, Frankreich, Deutschland) nach der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse zum Ministerpräsidenten ernannt. Mehr, so glaubten die wichtigsten internationalen Akteure, brauche es nicht, um Haiti aus der Ferne zu regieren. Ein Tweet reicht.
Zweieinhalb Jahre lang rannte die im Montana-Accord vereinte haitianische Zivilgesellschaft – politische Parteien, ein Teil der Unternehmer, kirchliche Vertreter:innen – gegen diese verheerende Missachtung der haitianischen Gesellschaft und ihrer Fähigkeiten, sich zu regieren, an. Sie legten einen detaillierten Plan für einen demokratischen Übergang vor, der Rechtsstaatlichkeit und die Voraussetzung für Wahlen schaffen sollte, die diesen Namen auch verdienen. Sie wurden nicht nur ignoriert, sondern geradezu herabwürdigend missachtet, obwohl sie das gesamte intellektuelle Milieu Haitis versammelten. Henry hingegen genoss die ganze Unterstützung der USA und ihrer Verbündeten, auch wenn man ihn hinter vorgehaltener Hand als illegitimen Ministerpräsidenten bezeichnete. Die USA und die UN-Vertretung verwalteten Haiti im Grunde von außen. Sie setzten nach der immer weiter grassierenden Ganggewalt im vergangenen Jahr, die sie für einen haitianischen Naturzustand hielten, die Entscheidung des UN-Sicherheitsrates durch, dass eine Polizeimission unter Führung Kenias für Ordnung in Haiti sorgen solle. Das war ein klares Signal an Henry, dass er nach wie vor ihre Unterstützung genießt. Deshalb war Henry gerade in Kenia, um händeringend deren Einsatz zu organisieren, als die Gangs seine Rückkehr verhinderten.
Man kann die heutige Lage in Haiti durchaus mit dem Rückzug der USA und ihrer Verbündeten aus Afghanistan vergleichen. Die größte Militärmacht der Welt hat gegen einen Haufen Banditen verloren. Das hätte nicht passieren müssen, wäre man sich der eigenen Verwicklung in das haitianische Schicksal bewusst gewesen, statt sich selbst als den unfehlbaren Heilsbringer zu verstehen. Es sind die typischen kolonial geprägten Denkfehler eigener Überlegenheit, für die die USA heute diese Niederlage kassieren.
Eine Geschichte der Interventionen
Es gibt Gangs in Haiti, die sich die „Talibans“ nennen. Irgendwo in der Hauptstadt tauchten schon vor längerer Zeit Slogans an Häuserwänden auf, die al-Qaida feierten. Islamismus ist in Haiti so wenig bekannt wie die islamische Religion und Afghanistan ist so weit weg wie der Mond. Dass es den Taliban allerdings gelungen ist, den Herkules USA in Bedrängnis zu bringen, ringt den haitianischen Gangs, die gerade von Sieg zu Sieg eilen, Respekt ab. Das ist kein Zufall.
Haiti, wenige Seemeilen von der US-amerikanischen Küste entfernt, ist seit seiner staatlichen Eigenständigkeit 1804 Ort US-amerikanischer Hinterhof-Politik. Zuerst galt es zu verhindern, dass sich von Haiti aus das revolutionäre Virus der Sklavenbefreiung auf die Plantagen der Südstaaten ausweitete, dann übernahm die US-amerikanische City-Bank die Kredite, die Frankreich von Haiti erhob, angeblich um die französischen Siedler zu entschädigen, die die Kolonie verlassen mussten. Gelder also, die Haiti zahlen musste, um die Siedler für entgangene Gewinne aus Sklavenarbeit zu entschädigen. Eine Forschergruppe um den französischen Wirtschaftswissenschaftler Piketty konnte keine Belege dafür finden, dass jemals französische Siedler entschädigt wurden. Die Schuldscheine hingegen florierten schon im 19. Jahrhundert auf dem internationalen Finanzmarkt. Haiti hat bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges, also fast 150 Jahre lang, diese Kredite mit Zins und Zinseszins abbezahlt und dafür alles verkauft, was sich versilbern ließ: Zucker, Kaffee, Tropenhölzer.
Die Schuldknechtschaft, die auf die Befreiung der Sklaven folgte, war ein wesentlicher Grund für das Scheitern ökonomischer Eigenständigkeit. Es entstand eine Kompradoren-Bourgeosie, die sich herzlich wenig für die Belange Haitis und seiner Bewohner:innen interessierte. Die internen Auseinandersetzungen in Haiti und die Angst, die Deutschen könnten an Einfluss gewinnen, führten zur Besetzung durch das US-Militär im Jahr 1915. Bis 1934 dauerte sie an und beflügelte vor allen Dingen den Straßenbau. Die US-Finanzkontrolle bestand übrigens bis 1947, also bis die Schulden abbezahlt waren. Ich könnte diesen Rückblick auf Haitis Abhängigkeit weiter fortsetzen. Dass die allermeisten in Haiti, selbst die brutalsten Gangs, die vor keiner Gewalttat zurückschrecken, eine Rechnung mit dem großen Nachbarn offen haben, zeigt sich aber schon an diesem kurzen Blick zurück.
Revolutionäre Rhetorik der Gangs
Das haitianische Beispiel lehrt, dass Geschichte so lange nicht vergeht, so lange nicht eine Form von historischer Gerechtigkeit für die begangenen kolonialen und neokolonialen Verbrechen erfolgt. Dass die Geschichte nun ausgerechnet in den Gangs wiederauftaucht, würde man einen Treppenwitz der Geschichte nennen, wenn es nicht so brutal wäre. Einer der Gang-Anführer ist Jimmy Chérizier, der es immerhin verstanden hat, die verfeindeten Gruppen hinter sich zu vereinigen. Der ehemalige Polizeioffizier – sein Kosename lautet „Barbecue“ – nimmt auf seinen unzähligen Pressekonferenzen, auf denen er sich auch mal eingehüllt in die haitianische Flagge zeigt, immer wieder Bezug auf den Kampf gegen die Sklaverei. Guy Philipp, ein in den USA verurteilter Geldwäscher aus Drogengeschäften, der eine lange zweifelhafte Geschichte in Haitis Politik mit eigenen Todesschwadronen hat, beansprucht in dem Machtvakuum die Präsidentschaft und vergleicht sich wegen seiner Haft in den USA mit Nelson Mandela.
Die revolutionäre Rhetorik soll die Verbrechen verhüllen. Allein im Januar dieses Jahres haben die Gangs die höchste Mordrate seit vielen Jahren zu verantworten. Im vergangenen Jahr starben 8000 Menschen durch die Gangs. Ihre Territorialkämpfe haben in der Hauptstadt zur Vertreibung von 300.000 Menschen geführt, die nun wie nach dem Erdbeben von 2010 in notdürftigen Lagern leben, allerdings ohne internationale Hilfe. Chérizier, der sich in eine Reihe mit den historischen Revolutionsfiguren Dessalines und Louverture stellt, ist ein Schwerverbrecher. Unter seiner Führung hat seine Gang, die damals G-9 hieß, 2018 ein Massaker in La Saline durchgeführt, bei dem 70 Menschen ermordet und mehrere Frauen vergewaltigt und dann hingerichtet wurden.
Petrocaribe-Bewegung
Dieses Massaker, das mit Wissen und Unterstützung des mittlerweile ermordeten Präsidenten Jovenel Moïse, ebenfalls ein US-Protegé, stattfand, führte zum Ende der Antikorruptionsbewegung. Sie war kurz davor, die haitianische Elite und ihre Verstrickung in Gang-Gewalt und Entwendung von Erdbebengelder vollends zu delegitimieren. Ähnlich wie andere Aufstandsbewegungen der 2010er Jahre in der arabischen Welt und in Lateinamerika war sie auf der Straße stark, hatte aber kein politisches Programm, vielleicht nicht einmal ein politisches Verständnis dafür, welches Erdbeben sie auslöste. Die Radikalität der Gegengewalt machte sie vor Entsetzen stumm.
Die Petrocaribe-Bewegung, die im Grunde nichts weiter forderte als die Verurteilung der Politiker, die nachweislich Erdbebengelder entwendet hatten, war nicht nur der einheimischen Elite gefährlich. Sie hatte auch deren Bündnispartner, allen voran die USA und ihren lokalen Platzhalter, die UN-Mission, verschreckt. Niemand hatte Interesse an einer juristischen Aufarbeitung der Korruptionsvorwürfe, obwohl es einen ausführlichen, vom Senat Haitis verabschiedeten Bericht über die Korruptionsvorwürfe gab. Sie hätte Moïse die Präsidentschaft gekostet. Stattdessen wurde er 2021 unter noch immer nicht aufgeklärten Umständen unter Beteiligung kolumbianischer Söldner ermordet.
Moïses Nachfolger, Ariel Henry, führte Haiti endgültig in den Abgrund. Er und die mit ihm verbundenen Politiker, für die Politik zuallererst ein Business ist, stützen sich nämlich wesentlich auf die Gangs, um ihre Interessen durchzusetzen. Wie soll ein Politiker die Gangs bekämpfen, die er gleichzeitig brauchte? Diesen Widerspruch in der eigenen Politik hat Washington nie aufzulösen vermocht. Nun ist sie krachend gescheitert.
Wird man in der sogenannten Internationalen Gemeinschaft etwas daraus lernen? Dann müsste man verstehen, dass man seit Jahrzehnten mit daran beteiligt ist, Haiti vor die Wand zu fahren, dass dies also nicht nur ein Problem „korrupter schwarzer Politiker“ ist, denen man zur Bestätigung der eigenen Selbstherrlichkeit ohnehin alles zutraut. Zu fürchten ist, dass die USA, Kanada und alle anderen so weiter machen wie bisher. Gerade tagte die Karibische Gemeinschaft (CARICOM) in Jamaica, um ein Übergangsmodell in Haiti zu verhandeln. Auch US-Außenminister Blinken ist eingeflogen. Nur die Haitianer:innen selbst sitzen wieder am Katzentisch. Sie durften Vorschläge einreichen und wurden per Zoom zugeschaltet. Von ihnen verlangt man einen gemeinsamen Lösungsvorschlag, will also Opfer und Henker an einen Tisch bringen. Die Veranstalter des Treffens, die karibischen Nachbarstaaten und die USA, haben allerdings nur Interesse daran, Haiti soweit zu verwalten und einzudämmen, dass Flüchtende aufgehalten und bereits Geflüchtete zurückgeschickt werden können. Während die Gangs die Hauptstadt übernahmen, schickte Jamaica haitianische Flüchtlinge gegen alle auch in Jamaica geltenden Gesetze zurück in das Land im Kriegszustand.
medico unterstützt seit vielen Jahren die Arbeit des haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes RNDDH, das immer wieder Angriffen ausgesetzt ist.