Kritische Hilfe

Leben statt Überleben

19.12.2024   Lesezeit: 6 min  
#kritische hilfe 

In einer Welt des Krieges und der Dauerkatastrophe wird das Recht auf Hilfe zunehmend in Frage gestellt.

Von Radwa Khaled-Ibrahim

Am zweiten Weihnachtsfeiertag vor 20 Jahren ereignete sich im Indischen Ozean eine der verheerendsten Naturkatastrophen des 21. Jahrhunderts: Eine gigantische Flutwelle zerstörte in Sekundenbruchteilen, was Generationen mühsam aufgebaut hatten. Städte wurden ausgelöscht, Dörfer verschwanden – über 230.000 Menschen starben. Der Tsunami war mehr als eine Naturgewalt – er legte die tiefe Verwundbarkeit einer globalisierten, aber ungleichen Welt offen.

Doch die dramatischen Bilder der Flutwelle und der enormen Zerstörung in den betroffenen Küstengebieten Indiens, Indonesiens, Malaysias, Sri Lankas, Thailands, Somalias und der Malediven lösten auch eine nie dagewesene Hilfsbereitschaft aus – auch wegen der vielen Tourist:innen, die hier ihre Weihnachtsferien verbrachten. Allein in Deutschland wurden innerhalb von vier Tagen 124 Millionen Euro gespendet. Überall auf der Welt war es ähnlich, Menschen spendeten, freiwillige Helfer:innen reisten in die betroffenen Regionen und NGOs organisierten riesige Hilfseinsätze.

Race in the race for solidarity

Die humanitäre Hilfe nach der Tsunami-Katastrophe offenbarte allerdings auch, wie tief rassistische und koloniale Strukturen das globale Hilfssystem prägen. Die Verteilung der Hilfsgüter und -gelder wurde von westlichen Akteuren dominiert, lokale Bedürfnisse und Kontexte wurden oft übergangen. Trotz aller Reflexion und positiver Gegenbeispiele hat sich daran bis heute nicht grundsätzlich etwas geändert. Immer wieder erleben wir, wie Krisen in ärmeren oder nicht-westlichen Ländern geringer priorisiert werden als solche in wohlhabenden Regionen oder Ländern mit politischem und wirtschaftlichem Einfluss. Dies zeigt sich unter anderem in ungleich verteilter medialer Aufmerksamkeit, Spendenbereitschaft und Ressourcenzuweisung.

Der Eindruck verfestigt sich: Braunen und Schwarzen Menschen, den Bevölkerungen des Globalen Südens insgesamt, wird weniger Wert zugeschrieben, sie verdienen weniger Mitleid. Die Gesellschaften des Nordens haben sich an die leidende Masse gewöhnt, das Mitleid hält sich in Grenzen. Die Machtstrukturen, die sich darin ausdrücken, widersprechen den oft beschworenen, universellen Prinzipien der Menschlichkeit eklatant.

Hilfe mit Renditeerwartung

Wie lange würden sich die Schlagzeilen einer vergleichbaren Katastrophe wie Ende 2004 heute halten? Wie viel Empathie würden die Bilder noch auslösen? Die Dauerkatastrophe, in der sich die Welt befindet, hat den „Schleier des Nicht-wissen-Wollens“ (Stephan Lessenich) noch erheblich dichter werden lassen: Bewusst oder unbewusst werden die Ursachen von Gewalt und Leid im globalen Süden selbst verortet. Obwohl es inzwischen zumindest in bestimmten Kreisen ein verallgemeinertes Verständnis für die Ursachen der allgegenwärtigen Klimakatastrophe gibt, wird dennoch verdrängt, externalisiert und Verantwortung negiert. Am liebsten möchte man mit der Klimakatstrophe so umgehen wie mit dem Tsunami: eine zufällige, unvorhersehbare Katastrophe; alle haben mitgeholfen; dann durfte wieder vergessen werden.

Wer nicht vergisst, ist die Ökonomie. Die Finanzialisierung der humanitären Hilfe, also die Einbindung marktorientierter Mechanismen, war bereits im Umgang mit dem Tsunami 2004 erkennbar und hat sich seitdem weiter intensiviert. Schon damals wurden große Summen von Regierungen, NGOs und privaten Spender:innen in Hilfsfonds gebündelt, deren Einsatz von Finanzakteuren und globalen Institutionen gesteuert wurde. Dies führte dazu, dass die Hilfe nicht immer bei den Bedürftigen ankam, sondern oft bürokratische und ökonomische Interessen im Vordergrund standen. Heute zeigt sich dieses Phänomen noch deutlicher: Längst sind private Investoren, Versicherungen und andere Akteure mit Gewinninteresse in humanitäre Projekte eingebunden. Hilfsgelder werden immer häufiger in Form von Darlehen oder „innovativen Finanzinstrumenten“ bereitgestellt und die humanitäre Hilfe immer stärker abhängig von Renditeerwartungen und auch geopolitischen Interessen.

Vor dem Hintergrund der angekündigten massiven Kürzungen im Bereich der humanitären Hilfe und Entwicklungszusammenarbeit droht eine neue, noch größere Welle der Finanzialisierung. Der Rückgang öffentlicher Mittel öffnet den Raum für den verstärkten Einsatz privater Gelder – und Interessen. Während öffentliche Entwicklungszusammenarbeit und humanitäre Hilfe trotz aller Kritik zumindest eine Erinnerung an Konzepte wie „nachholende Entwicklung“, die Umverteilung von Ressourcen oder manchmal gar Solidarität versprechen, zeichnet sich jetzt eine vollständige Neoliberalisierung des Sektors samt weiterer Entmachtung lokaler Akteur:innen an.

Gestern kritisieren, heute verteidigen?

Während der Tsunami-Katastrophe 2004 stand die Kritik an der humanitären Hilfe im Zentrum: Wer hilft, wie wird geholfen, und vor allem, wem dient diese Hilfe tatsächlich? Damals war der Fokus darauf gerichtet, die paternalistischen, oft kolonialistisch geprägten Strukturen der Hilfe zu hinterfragen, die Menschen auf Betroffene reduzierten und lokale Akteure an den Rand drängten.

Heute scheint sich die Debatte jedoch verschoben zu haben: Die humanitäre Hilfe muss zunehmend verteidigt werden – gegen wachsende nationalistisch Angriffe, die Solidarität als Schwäche brandmarken; gegen neoliberale Akteure, die sie durch marktförmige Instrumente ersetzen wollen. Dies auch vor dem Hintergrund eines sich mehr und mehr von der Welt abschneidenden Europas.

Bleibt da noch Raum für Selbstkritik? Eine humanitäre Hilfe, die nicht hinterfragt wird, droht sich von ihren eigentlichen Zielen zu entfremden – den Menschen. Es bleibt die Aufgabe, beides zu tun: Hilfe zu verteidigen, wo sie notwendig ist, und sie zu kritisieren, wo sie zur Fortsetzung globaler Ungerechtigkeiten beiträgt und politische Lösungen ersetzt. Das Ziel bleibt damals wie heute, die Ursachen der Dauerkatastrophe anzugehen und die Hilfe zu überwinden. Es geht um Rechte, Reparationen und vor allem darum zu verstehen, dass letztlich alle von der Dauerkatastrophe betroffen sind.

Die Dauerkatastrophe ist allgegenwärtig und bestimmt zunehmend die Lebensrealität der meisten Menschen auf der Welt. Schlagzeilen über Katastrophen, die durch Extremwetterereignisse ausgelöst werden, sind kaum noch aus den Nachrichten wegzudenken. Unzählige Menschen weltweit – von Bangladesch über Florida, vom Ahrtal bis Kenia – erleben täglich die dramatischen Folgen des Klimawandels, sei es durch Starkregen und Überschwemmungen, Hitzewellen und Dürren oder zerstörerische Stürme. Diese Katastrophen sind längst zur Normalität geworden. In Bezug auf die deutsche Öffentlichkeit gibt es jedoch kaum Verschiebungen: Sparpolitik und Weltvergessenheit verbinden sich problemlos mit rechten Positionen. Abschottung, Aufrüstung und eine militarisierte Austragung von Verteilungs- und Statuskämpfen wird normalisiert.

Fatal sind daher Haushaltskürzungen der Entwicklungszusammenarbeit, der humanitären Hilfe und des Klimaschutzes, während gleichzeitig der Wehretat steigt. Fatal auch die Ordnungspolitik mit ihren völlig unverhältnismäßigen Strafen für Klimaaktivist:innen, die mit Aktionen des zivilen Ungehorsams das „Weiter so“ in Frage stellen. Obwohl eine ganze Reihe von Umfragen die mehrheitliche Einsicht in die Notwendigkeit des Klimaschutzes deutlich zeigen, steigt die individuelle wie gesellschaftliche Abwehrhaltung gegen ihre Umsetzung. Eine angemessene politische Bearbeitung oder gar Lösung wird verweigert. Um zu denken, alles werde wieder gut, muss aber die Realität gänzlich ausgeblendet werden.

Affirmative Sabotage gegen die Verwaltung des Sterbens

Im Krieg wie in der Dauerkatastrophe werden nackte Leben produziert. Die Art der Kriegsführung wie des Krisenmanagements macht aus Menschen eine nackte, oft braune oder schwarze Masse. Sie steht außerhalb des Rechts, für sie gilt weder das humanitäre Völkerrecht noch hat sie Anspruch auf Reparation. Durch Geschichte und Gegenwart zieht sich eine Color Line. Gerade als Hilfsorganisation müssen wir deshalb unablässig das Recht auf Rechte für alle Menschen einklagen und uns nicht mit dem Retten des nackten Lebens zufriedengeben. Wenn Organisationen vermeintlich unpolitisch agieren, um humanitär handlungsfähig zu bleiben, dann werden sie letztlich zu Verwalterinnen der Nekropolitik.

Dagegen braucht es, wie die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak sagte, eine affirmative Sabotage des Universalismus. Es braucht das Beharren darauf, dass die Menschen gleich sind und dass sie Rechte haben. Oder, wie James Baldwin sagt: „All children are ours, every bombed house is where I`ve grown up in“. Gerade und eben wenn Menschen in Indonesien oder Brasilien auf die Straße gehen um gegen Umweltzerstörungen zu kämpfen, tun sie dies im Sinne aller: Politik in erster Person für planetare Anliegen. Solidarität ist keine Einbahnstraße. Die Affirmation und gleichzeitig die Sabotage des Universalismus: was verhindert er, welche Machtverhältnisse lässt er aufrecht. Diese zu benennen und dagegen zu halten, daraus kann eine Art progressiver Humanismus entstehen.

Radwa Khaled-Ibrahim

Radwa Khaled-Ibrahim ist Referentin für Kritische Nothilfe in der Öffentlichkeitsarbeit von medico.


Jetzt spenden!