Die wichtigen Sätze werden dann gesagt, wenn der informelle Teil der Gespräche beginnt; dann, wenn das gesagt werden darf, was man eigentlich nicht sagen darf. „Vielleicht müssen wir dankbar sein dafür, dass 3.750 Tonnen Amoniumnitrat im Hafen gelagert wurden und explodiert sind. Denn vielleicht hat uns diese Katastrophe eine noch viel größere erspart.“ Das ist so ein Satz, mit dem niemand zitiert werden möchte, den wir trotzdem gehört haben, über den es sich nachzudenken lohnt, der sich angesichts der politischen Realität geradezu aufdrängt. Es braucht nicht nur die Erkenntnis, es braucht auch die spektakulären Bilder, die ins Format der Medienlogik passen, damit eine Katastrophe als eine solche benannt wird. Nun sind also die Bilder da, die zeigen, was schon lange geschieht. Eine traurige Chance.
Persönlich ist unsere kurze Reise in den Libanon bedrückend und zugleich beeindruckend. Das meiste ist nicht neu: bettelnde Kinder und Familien an jeder Ampel, Flüchtlingslager, in denen Gegenwart und Geschichte stillsteht, provisorische Lebensweisen, die zum Teil aber seit Jahrzehnten auf Dauer gestellt sind. Zugleich aber sind das Land, seine politischen Aktivist*innen und Intellektuellen ein Inbegriff des Sich-Nicht-Unterkriegen-Lassens. Man spürt das sofort in jedem Gespräch: dass es noch nicht vorbei ist, dass immer noch und immer wieder etwas möglich ist. Politisch ist so eine Reise, und auch das ist ebenso zynisch wie wahr, für eine*n Europäer*in abseits des teilweise schwer zu ertragenden Leids wie ein Besuch in einem Museum für moderne Geschichte des Nahen Ostens. An fast jeder Straßenecke finden sich Geschichten für ganze Doktorarbeiten, das Land ist ein Flickenteppich aus ungelösten regionalen Konflikten mit ganz eigenen Genealogien. Die Explosion am Hafen ist ein solcher Spot, eine weitere punktuelle Krise mit unklaren Grenzen. Unweit des berühmt gewordenen Graffitis „My government did this“ hat sich schon nach wenigen Tagen eine Art Anlaufstelle für Tourist*innen und die internationale Presse entwickelt. Alle, auch wir, parken dort, machen Fotos. Alle Katastrophen haben einen Raum im libanesischen Gegenwartsmuseum, das für fast alle, die hier leben keine Ausstellung, sondern ein Überlebenskampf ist. Nicht einmal auf Strom oder die Müllabfuhr kann man sich verlassen. Nur auf die Bars, die immer offen sind.
Der Hafen
„Jetzt sind sie alle hier. Sie hätten uns vorher helfen sollen“, sagt der Taxifahrer, der uns entlang des Hafens in den zerstörten Stadtteil Mar Mikhael bringt. Hilfsorganisationen prägen das Bild. Vor Ruinen, zerstörten Gebäuden und kaputten Lokalen haben viele ihre bunten Stände aufgebaut, einige verteilen Hilfsgüter, manche haben gar schon eigene T-Shirts: „Rebuild Beirut“. An einer Ecke herrscht unkoordiniertes Gedränge um eine Person, die Schutzmasken verteilt. Viele sind hier, von den bekannten UN-Organisationen bis zu staatlichen Organisationen aus der MENA-Region. Bis auf den Andrang an den Ständen ist der Stadtteil fast menschenleer. Nicht erst seit der Explosion: Mar Mikhael ist seit Jahrzehnten Schauplatz von Verdrängungs- und Gentrifizierungsprozessen, viele der neuen Einwohner*innen haben daher nomadische Eigenschaften und Möglichkeiten. Sie sind in den Bergen, in Ferienhäusern oder zu Hause – im Ausland.
In Karantina, einem alten, konfessionell gemischten Arbeiter*innenviertel mit Fleischindustrie und vielen informellen Wohn- und Lebensweisen, ist die Lage anders. Hier haben die allermeisten keine Ausweichquartiere. Sie leben nun in zerstörten Wohnungen in einem Stadtteil, in dem, wie die Filmemacherin Monika Borgmann sagt, „innerhalb von Sekunden das Leben zerstört wurde“. Wir sind unterwegs mit einer Gruppe palästinensischer Jugendlicher, die jeden Tag zum Helfen kommen – aus dem etwa eine Autostunde von Beirut entfernten Saida, genauer gesagt aus dem Ein El Hilweh-Camp. Gemeinsam mit anderen Unterstützer*innen klappern sie Haus für Haus ab, werden in Wohnungen hineingelassen und notieren per Handy in einer App Schäden und Bedarfe der Familien.
Die Explosion ist eine Katastrophe, die andere Krisen überlagert, obwohl sie sie verschärft. Einige sind jüngeren Datums, andere Jahrzehnte alt. Wir besuchen im südlichen Saida, in Richtung der nicht passierbaren Grenze Israels, besagtes Ein El Hilweh-Camp, einer der speziellsten Orte im Libanon, wo geschätzte 100.000 palästinensische Flüchtlinge leben, viele seit Generationen. Kaputte Fensterscheiben, wie wir sie in Beirut immer wieder sehen, gibt es hier nicht. Doch während die Jugendlichen von der palästinensischen Organisation Nashet in Beirut bei der Katastrophe helfen, hat man hier andere Sorgen. Covid-19 hat, kurz nach der Explosion in Beirut, das Camp erreicht. „Während des ersten Lockdowns haben wir hier vor allem die sozialen Auswirkungen gespürt, weil die Maßnahmen präventiv waren. Jetzt aber machen sich Angst und Panik breit, weil es so gut wie keine medizinische Infrastruktur gibt und die ersten zwei Todesfälle bekannt geworden sind“, berichtet Zafer Khateeb von Nashet.
Der libanesische Flickenteppich aus Problemen, die sich einfach nicht alle gleichzeitig denken und bearbeiten lassen, aber trotzdem räumlich alle neben- und miteinander existieren, wird am Eingang des Camps in einem skurrilen Bild deutlich: Hinter dem Posten der libanesischen Armee, die das Camp nach außen abriegelt, befindet sich der palästinensische Checkpoint, den eine Miliz mit Maschinengewehren bewacht. Die jungen Männer in Straßenkleidung tragen Kalaschnikows, nichts ungewöhnliches, im gesamten Camp sieht man immer wieder solche Wachposten von einer der insgesamt elf Milizen, die eine Mischung aus Sicherheit und Einschüchterung vermitteln sollen. Dieses Mal tragen die Männer allerdings medizinische Schutzmasken.
Beirut again
Zurück zum Hafen und zur Explosion. Hier geht es in den Tagen und Wochen danach nicht nur um Hilfe für die betroffenen Stadtteile und Menschen. Am 4. August 2020 ist auch das politische und gesellschaftliche System des Libanon in die Luft geflogen. Die Katastrophe, verursacht von einem System organisierter Verantwortungslosigkeit, ist Sinnbild für die Implosion einer untragbaren Korruption und Stagnation. Viele hoffen, dass sie nun unwiderruflich vorbei sind, ohne sich – selbst im informellen Gespräch – eine Prognose zuzutrauen. „Everything is possible“, das sagen alle, wirklich alle.
Das wissen natürlich auch jene, die im Libanon seit jeher um Einfluss ringen, ob nun die ehemalige französische Mandatsmacht, der hinter der Hisbollah stehende Iran oder das mit den Sunniten im Land verbundene Saudi-Arabien. Nicht nur die NGOs sind in ihrem Element. Da sind auch die Bilder und Inszenierungen europäischer Politiker*innen im Heldenmodus. Sie erinnern an die Troika in Griechenland oder an die internationale Hilfe in Haiti. Jetzt ist Beirut an der Reihe. Gleich zweimal innerhalb einer Woche krempelten europäische Jungstaatsmänner die weißen Hemden hoch und reisten an die Schauplätze der Explosion vom 4. August. Zuerst kam Emanuel Macron und weckte kleine Träume, ihm folgte Heiko Maas, der einen Scheck über eine Million Dollar für das Rote Kreuz dabei hatte. Es gehört zur Tragik der jüngsten libanesischen Geschichte, dass zwar niemand auf diese geopolitischen PR-Aktionen hereinfällt, sie aber gleichzeitig Hoffnung stiften. Anders als der französische Präsident hat sich kein einziger libanesischer Verantwortlicher am Hafen blicken lassen.
Die EU eilt also zur Hilfe, ja gewissermaßen zur Befreiung? So richtig glaubt das niemand. Die medico-Partner von UMAM oder dem investigativen Medienprojekt The Public Source weisen uns in langen Gesprächen auf den komplizierten Zusammenhang der inneren Stagnation mit den Interessen der internationalen Akteure hin. Die libanesische Katastrophe wird in Europa als verkorkste Nationalgeschichte präsentiert, als ein verschleppter und Politik gewordener Bürgerkrieg und als Zeugnis unfähiger Eliten. Das legt nahe, dass es letztlich wieder einmal die Völkerkunde ist, die das „Staatsversagen“ erklärt und europäischen Nachhilfeunterricht und Entwicklungshilfe nötig macht. Doch der Libanon ist – bei allen nationalen und regionalen Besonderheiten – nicht der Schauplatz eines nationalen Scheiterns. Es ist vielmehr der Ort, an dem sich seit Jahrzehnten geopolitische Konflikte verdichten und die Gesetze des neoliberalen Kapitalismus Antriebskraft einer selbstzerstörerischen Dynamik sind, die den Staat als Beute und das Land als Spielfeld schneller Profite betrachten. Die mafiöse Ausplünderung eines Landes und einer Bevölkerung über den Staat, durch Gruppen, deren Macht tiefer geht, ist bei weitem keine Ausnahme des globalen Kapitalismus. Außerhalb der imperialen Zentren, aber zunehmend auch dort, sind sie längst ein wesentlicher und unverzichtbarer Teil des Systems geworden. Man denke nur an Lateinamerika. Der Konfessionalismus und die Korruption sind das libanesische Gesicht dieses globalen Systems, nicht sein Gegenteil. Und ihre jahrzehntelange Stabilität verdanken sie auch ihm.
Alle, die hier sind, wollen hier weg
Der Libanon ist flächenmäßig gerade einmal halb so groß wie Hessen. Das europäische Interesse an dem kleinen Land im Nahen Osten gilt daher auch weniger den bescheidenen Ölfeldern des Landes. Es ist vor allem von geopolitischer Bedeutung. Der Libanon ist Brückenkopf in den Nahen Osten – und eine gigantische Wartehalle. Fährt man durch die Bekaa-Ebene nahe der syrischen Grenze, sieht man irgendwann fast nur noch Zelte, in denen syrische Flüchtlinge leben. Die einen sind informell und selbstgebaut, die anderen von NGOs oder dem UNHCR bereitgestellt. Die medico-Partner von der Gesundheitsorganisation Amel betreiben hier Gesundheitszentren und mobile Kliniken, die mit Hilfsgeldern notdürftige, aber lebensnotwendige medizinische Versorgung organisieren. Amel ist mit einigen mobilen Kliniken auch in Beirut im erwähnten Karantina unterwegs. Auch wenn es gerade weniger Beachtung findet: In der Bekaa-Ebene hat sich nichts verbessert und in diesem Winter wird es wohl wieder die Bilder verschneiter Zelte und verzweifelter Flüchtlinge geben, die hier teilweise seit acht Jahren leben.
700 Millionen Euro hat die EU in den letzten fünf Jahren für die Versorgung syrischer Flüchtlinge im Libanon bereitgestellt. Der „EU-Lebanon Compact“ vereinbarte 2016 in einem Zwischenschritt, dass man die Krise in eine Chance verwandeln möge. Ziele: „Beruhigung der Lage, sozio-ökonomische Entwicklung, Sicherheit, Stabilität und Stärkung der Resilienz des gesamten Landes“. Damit ist jetzt Schluss, Millionen Menschen sind potenzielle neue Migrant*innen. Zu den Flüchtlingslagern in Bekaa, wo viele Menschen undokumentiert in der Landwirtschaft arbeiten und Kinderarbeit die Regel ist, kommen noch unzählige und oft undokumentierte Syrer*innen in Beirut hinzu, die sich nicht selten unter die libanesischen Armen mischen. Doch selbst das ist noch nicht alles: Vor den Botschaften Kenias, Äthiopiens und des Sudans in Beirut wiederum treffen wir Arbeitsmigrant*innen, die nicht mehr – wie noch vor der tiefen sozialen Krise seit dem Oktober 2019 – für ihre Rechte kämpfen, sondern dafür, in ihre Heimatländer zurückzukehren. „Wir haben hier keine Perspektive mehr, es ist überall besser als im Libanon.“
Die angekündigte Demonstration der Demokratiebewegung am Samstag nach der spontanen Großdemonstration eine Woche zuvor findet nicht statt. Das Parlament hat den Ausnahmezustand bestätigt, das Militär patrouilliert Downtown und in den angrenzenden Hafengebieten mit gezückter Waffe. Ohnehin ein Bild, das uns die ganze Zeit begleitet: Polizei und Militär sind selbst in den Gebieten massiver Zerstörung nur da, um die Bevölkerung kontrollieren. Kein Wunder, dass es den Menschen reicht. Es sind vor allem die jungen Leute und mit ihnen auch eine gewisse Leichtigkeit, ein Abschütteln, die die Kraft dieser Bewegung ausmachen. Neben den politischen Reformen und einem neuen ökonomischen Pfad geht es auch um ein neues Gemeinwesen, eine universelle Idee jenseits des Konfessionalismus.
Die neue Massenbewegung, die sich in vielen Episoden der letzten Jahre seit 2011 bereits andeutete, brach im Oktober 2019 viele Tabus der libanesischen Stagnation. Über regionale, soziale und konfessionelle Grenzen hinweg wurde ein Ruf laut, der sich in den letzten Wochen erneuerte: „Alle heißt alle.“ Alle müssen gehen, damit endlich etwas Neues kommen kann. Viele sagten, dass mit dieser Bewegung 30 Jahre nach dem offiziellen Ende die Zeit des libanesischen Bürgerkriegs nun tatsächlich zu Ende sei. Die Bewegung ist noch weit davon entfernt, ein politischer Akteur zu werden oder gar ein Programm vorlegen zu können. Sie ist aber im besten Sinne zu einer Art Gegenmacht geworden, die nicht nur eine Demokratisierung der Politik, sondern auch ein Ende jener Stabilität fordert, für die seit Jahren von außen gesorgt wird.
Was kommt jetzt?
Was nach dieser „Stabilität“ kommt, ist nicht nur eine innenpolitische Frage und deshalb ist sie auch nicht allein auf der Straße lösbar. Es braucht Diplomatie und taktische Bündnisse mit Teilen jener internationalen Akteure, die im Libanon seit Jahrzehnten mitmischen. Das gilt für die alten Machteliten genauso wie für diejenigen, die Veränderung wollen. Die interne Konkurrenz der internationalen Politik könnte aber auch Chancen für progressive Akteure bereithalten. Ganz ohne sie geht es nicht denn es braucht in allererster Linie auch Geld. Die libanesische Ökonomie liegt am Boden, die Liaison von Finanzkapital und schnellen neoliberalen Profitinteressen mit der regionalen Korruption ist am Ende, die Auslandsdollars der etwa 10 Millionen Diaspora-Libanes*innen werden weniger. Gleichzeitig trudeln Hilfsgelder ein. In Ermangelung anderer sozialpolitischer Akteure und eines abwesenden Staates gibt es Ängste, dass sich die konfessionellen Gruppen und Parteien über ihre Vorfeld-NGOs gesellschaftlich und ökonomisch sanieren könnten. Da hilft es auch wenig, wenn, wie oft beteuert, die Gelder nicht an die Regierung gehen. Aber diese Hilfen werden nicht reichen. Bereits am 7. März 2020 erklärte der Libanon die Zahlungsunfähigkeit. Der Staat hat mit einer Schuldenrate von 170% des Bruttoinlandproduktes (BIP) den weltweit dritthöchsten Schuldenstand. 85% der Lebensmittel werden importiert, die halbe Bevölkerung lebt in Armut. Der Libanon ist pleite und bankrott.
„Everything is possible“. Eine Lösung kann nur im Libanon liegen und ist doch nicht nur dort möglich. Und sie geht auch darüber hinaus. Gefragt nach einer optimistischen Perspektive auf die Demokratiebewegung antwortete ein alter medico-Freund: „Selbst wenn sie wirklich eine Revolution im Libanon machen würden, wäre noch gar nichts gewonnen. Es ist erst alles gut, wenn ich mich abends ins Auto setzen, nach Haifa oder Damaskus fahren kann, um ein Bier zu trinken und dann wieder zurückkommen kann.“
Hilfe braucht Zivilgesellschaft
medico-Partner im Libanon
Gegründet in der Zeit des libanesischen Bürgerkriegs, verfolgt die Basisgesundheitsorganisation Amel das Prinzip „Gesundheit für alle“ – unabhängig von Religion, Pass oder Einkommen. Die staatliche Gesundheitsversorgung ist im Libanon absolut unzureichend. Im ganzen Land betreibt die Organisation deshalb 24 Gesundheitszentren und sechs mobile Kliniken für alle Bedürftigen.
Die feministische medico-Partnerorganisation Anti-Racism Movement steht seit Mai 2020 migrantischen Arbeiterinnen zur Seite, die aufgrund der Corona-Pandemie ihre Anstellung in den Häusern der libanesischen Mittelschicht verloren haben: mit Überlebenshilfen in von ihr betriebenen Gemeindezentren, mit Rechtsberatung und anwaltlichem Beistand.
Freiwillige der medico-Partnerorganisation Nashet, die im marginalisierten palästinensischen Flüchtlingsviertel Ein El Hilweh Jugendliche betreut und Frauen bei der Selbstorganisation unterstützt, haben noch am Tag der Explosion Blutspenden organisiert und sind dann ins Zentrum von Beirut aufgebrochen, um bei der Beseitigung der Trümmer zu helfen.
Seit diesem Jahr unterstützt medico das Medienprojekt The Public Source, das sich um Offenlegung relevanter Informationen aus dem politischen Betrieb des Landes bemüht und kritische Hintergrundberichte veröffentlicht. Auch in den Tagen nach der Explosion sorgten die Aktivist*innen für eine kritische Berichterstattung.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2020. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!