Unser Fahrer Steve steuert sein Auto mit meiner medico-Kollegin Usche Merk und mir durch unbelebte Straßen der Innenstadt von Johannesburg. Marode Wohnblocks im Wechsel mit eleganten Bürogebäuden und leerstehenden Industriebauten. Am Straßenrand fordert ein Wahlplakat das nahezu Unmögliche: „Trust us.“ Im Stadtteil Hillbrow scheinen wir eine Schwelle im städtischen Raum zu überschreiten. Steve schließt die Fenster und verriegelt die Türen. „Es gibt auch tagsüber viele Raubüberfälle. Mit der Pandemie ist alles schlimmer geworden.“ Er bringt uns zur medico-Partnerorganisation Sophiatown Community Psychological Services, kurz Sophiatown. Während der Apartheid wurde im gleichnamigen Stadtteil gegen Segregation und für eine Gegenkultur gekämpft – bis letztendlich Polizei und Militär sämtliche Blacks und Coloured vertrieben und der ganze Stadtteil abgerissen wurde. Nach dem Fall des Regimes wurde er neu aufgebaut. Sophiatown bleibt ein Ort der Hoffnung. Und die wird stärker gebraucht denn je.
Wir erreichen unser Ziel. Johanna Kistner, Geschäftsführerin von Sophiatown und klinische Psychologin, führt uns durch farbenfrohe Räume. Sie hat uns zu einem Austausch mit der Umoja-Frauengruppe eingeladen, eine Gesprächsrunde für geflüchtete Frauen. Diese sind auf vielen Wegen nach Südafrika gekommen – aus dem Kongo, aus Burundi und anderen afrikanischen Ländern –, in der Hoffnung, Gewalt und Perspektivlosigkeit zu entfliehen. Doch als Geflüchtete ohne Aufenthaltstitel sind sie hier gefangen in einem Limbo aus Armut, xenophober Diskriminierung und patriarchaler Gewalt, im Öffentlichen wie im Privaten. „Die Pandemie hat vieles noch einmal schlimmer gemacht“, sagt auch Johanna. „Es ist für die Frauen nahezu unmöglich, Arbeit zu finden, die Familien zu ernähren und häuslicher Gewalt zu entkommen. Bei uns teilen sie ihre ökonomischen, sozialen, physischen und psychischen Belastungen. Aber manchmal bleibt nur, Hilfs- und Hoffnungslosigkeit gemeinsam auszuhalten.“ Den Namen der Gruppe haben die Umoja-Frauen selbst ausgesucht. „Umoja“ ist Swahili und bedeutet „zusammen“.
In Sorge und Fürsorge
Auch Bona ist heute dabei. Auf ihrem Schoß sitzt in eine Decke gehüllt ihre kleine Tochter und hustet. Entschuldigend sagt Bona: „Es geht ihr schon besser, aber noch nicht so gut, dass ich sie bei meiner Nachbarin lassen kann.“ Die anderen Frauen haben Verständnis. Auch ihre Kinder leiden oft unter Atemwegserkrankungen, Magen-Darm-Infekten und anderen Krankheiten, die ihre Lebensbedingungen fast unweigerlich produzieren. Tsemere erzählt, wie sie während der Pandemie ihre Arbeit und dann auch die Wohnung verlor. Heute lebt sie extrem beengt mit ihrem Mann und ihren vier Kindern ganz oben in einem Apartmentblock. Wasser kommt selten bis in den obersten Stock. Weil die Miete immer noch zu teuer ist, geben sie den Balkon an zwei Frauen zur „Untermiete“.
Wohnungsnot, Verdrängung, prekäre sanitäre Bedingungen, Verschuldung: Die Frauen kennen all das. Die Covid-19-Pandemie hat sich mit anderen, sich gegenseitig verstärkenden Krisen zu einer Syndemie ausgeweitet. In der Runde in Sophiatown sind die vielfältigen Miseren und Sorgen spürbar. Mehr als das: Im zwischenmenschlichen Austausch wird das Unsichtbare sichtbar, entstehen Gemeinsamkeiten und werden Belastungen entprivatisiert. Nach und nach ist so Vertrauen gewachsen, als Subjekt anerkannt zu werden, trotz der zerstörerischen Verhältnisse, in denen schon das tägliche Überleben erkämpft werden muss. Was aber kann psychosoziale Arbeit unter diesen Bedingungen leisten? Clarice kann es für sich klar formulieren: „Wenn ich nicht hierherkommen könnte, wäre ich verrückt geworden. Ohne diesen Raum, die Beziehungen mit den anderen und die Hoffnung, die sie geben, hätte ich nicht überlebt.“
Plötzlich stürmt eine junge Frau herein. „Hallo allerseits.“ Martha lässt sich lässig auf einen Stuhl fallen. „Ich hab dir was mitgebracht“, sagt Johanna und reicht ihr ein kleines Paket. Es enthält einen selbstgehäkelten Bikini. „Toll. Den verkaufe ich für 300 Rand. Ach nein, ich werde höher anfangen“, überlegt Martha mit blitzenden Augen. Die Stimmung im Raum wird lebhafter, die Erzählungen beginnen zu sprudeln. Von Männern, die ihre Frauen bevormunden. Von Frauen, die sich das und anderes nicht gefallen lassen. Neema fällt die Geschichte einer Bekannten ein, deren Tochter von der Schule verwiesen wurde, weil sie kein Toilettenpapier mitbringen konnte. Die Frau habe gegenüber der Schulleitung das Recht ihrer Tochter auf Bildung stark gemacht, unabhängig davon, ob sie sich Toilettenpapier leisten kann oder nicht. Neema: „Es ist besser, die eigenen Rechte zu kennen und zu wissen, dass sie verletzt werden, als nicht einmal zu wissen, dass man Rechte hat.“
Beim Zuhören beginne ich zu begreifen, was es bedeutet, die Welt auf den Schultern zu tragen. Mit ihrer umfassenden Care-Arbeit – Lohnarbeit, Hausarbeit, Pflegearbeit, sich hier sorgen und dort kümmern – bewahren die Frauen ihre Communitys am Rande der Gesellschaft davor, vollends aus den Fugen zu geraten. Die Belastungen sind enorm. Doch sie haben keine andere Möglichkeit als weiterzumachen. Mir fällt ein Satz aus dem berühmten Statement ein, in dem die afroamerikanischen Aktivist:innen des Combahee River Collective Mitte der 1970er-Jahre den Begriff der „Identitätspolitik“ als ein gesamtgesellschaftliches Anliegen eingeführt haben: „Wenn Schwarze Frauen frei wären, würde das bedeuten, dass alle anderen frei sein müssten, da unsere Freiheit die Zerstörung aller Unterdrückungssysteme voraussetzen würde.“
Und jetzt landesweit
Szenenwechsel. Auch 1.400 Kilometer südwestlich von Johannesburg drehen sich unsere Gespräche um Vertrauen, Hoffnung und Sorgearbeit in den Communitys und für die Communitys. Eben diese leisten die fünzigtausend Gemeindegesundheitsarbeiter:innen in Südafrika tagtäglich. Als Community Health Workers sind sie dort tätig, wo es am Nötigsten fehlt. Sie füllen die klaffenden Lücken im staatlichen Gesundheitssystem – zumal während der Pandemie. In den vergangenen Jahren haben sich die Gesundheitsarbeiter:innen, unterstützt von mehreren medico-Partnerorganisationen, politisch organisiert, um gemeinsam für ihre Rechte einzutreten. Dabei ist sichtbar geworden, was unsichtbar bleiben soll: Die unerlässliche Gesundheitsarbeit an der Basis wird fast ausschließlich von Schwarzen und selbst in Armut lebenden Frauen geleistet. Arbeitsrechtlich ungeschützt, werden sie dabei meist brutal ausgebeutet.
Im Büro unserer medico-Partner:innen vom Public Health Movement (PHM) in Kapstadt treffen wir drei PHM-Aktivist:innen und drei Gesundheitsarbeiter:innen, Vertreter:innen verschiedener Provinzen. Alle sind aufgeregt, denn gemeinsam bereiten sie Klagen vor. Hintergrund ist ein enormer Erfolg: In der Provinz Gauteng haben Community Health Workers – auch durch den Druck von unten – juristisch ihre Anerkennung als Arbeiter:innen im Gesundheitssektor erstritten. Auf Basis dieses Präzedenzfalls soll das Gleiche nun in anderen Provinzen gelingen und dadurch auf nationale Ebene gehoben werden. Auf dem Tisch liegen schwarze Aktenordner, sie enthalten mehrere Tausend Fälle, in denen Frauen ihre Arbeitsverhältnisse schildern. Tausende mehr sollen gesammelt werden. Selbstverständlich ist das nicht, viele Community Health Workers berichten, dass Ärzt:innen und Krankenschwestern in den Kliniken ihnen wegen ihrer politischen Organisation gedroht haben. Insofern ist jede Akte auch Zeichen eines gewachsenen Vertrauens in die Vertreter:innen der Selbstorganisation und die medico-Partner:innen von PHM, SINANI und Khanya College, die das wegweisende Projekt mittragen.
Den Beteiligten gibt „der Fall“ Hoffnung. Boniwe Plaatjie aus Northern Cape beschreibt es so: „Es braucht viel Zeit, um gegen die Regierung vorzugehen, und lange hatten wir einfach nicht die Ressourcen dazu. Aber jetzt scheint es so, als würde unser Traum wahr werden.“ Ntombetemba Maduna aus Western Cape betont, dass es um mehr als arbeitsrechtliche Anerkennung geht: „Wir leisten medizinische Pflegearbeit, aber auch emotionale Sorgearbeit. ‚Care‘ bedeutet Veränderung. Wenn man so in die Gemeinschaft hineinwirkt, muss sich die ganze Lebensweise ändern.“
Neue Spaltungen
Die Community Health Workers sind keineswegs nur in entlegenen ländlichen Gemeinden aktiv. Sie arbeiten auch im urbanen Raum. In Johannesburg könnten sie dabei zum Beispiel auch mit Umoja-Frauen zu tun haben, mit Bona und ihrer hustenden Tochter oder mit Tsemere in dem beengten Apartmentblock. Ob sie dann die Gemeinsamkeiten betonen – oder eher die Unterschiede? Obgleich viele Südafrikaner:innen ein sehr feines Gespür für Rassismus haben, durchzieht eine weitere Trennlinie die Gesellschaft: Xenophobie. In der Pandemie sind xenophobe Ressentiments in den politischen Diskursen noch stärker geworden. Auch die Community Health Workers sind davor nicht gefeit. Maria van Driel vom medico-Partner Khanya College erzählt: „Manche der Frauen sind in den Verwerfungen der Pandemie stark ausländerfeindlich geworden. Sie richten ihre Wut nicht auf die eigentlich Verantwortlichen. Stattdessen werden Migrant:innen zu Blitzableitern.“ Für Maria ist das Teil des gängigen „Teile-und-herrsche“-Prinzips in Südafrika: „Die Menschen werden unterschiedlich gemacht und feinden sich gegenseitig an. Wir versuchen immer wieder klarzumachen, dass es solidarische Lösungen braucht. Aber Armut und Unterdrückung sind eben keine moralische Schule.“
Zurück in Johannesburg erklärt uns unsere Partnerin Koketso Moeti von amandla.mobi, wie sie politische Kampagnen und Aktionen planen. Ähnlich wie das Combahee River Collective kommt auch sie zu dem Ergebnis, dass die tiefgreifendsten Veränderungen aus dem Kampf gegen Mehrfachunterdrückungen entstehen: „In Südafrika verstehen die Menschen zwar die sozialen Probleme, aber oft fehlt ihnen eine Klassenanalyse und ein Verständnis dafür, wie sie mit rassistischen oder geschlechtsspezifischen Aspekten zusammenhängen. Weil wir aber eben diese Verflechtung der Probleme sehen, lautet für uns die erste Frage immer: Wie wirkt sich etwas auf Schwarze Frauen mit niedrigem Einkommen aus? Wenn politische Interventionen gut für diese Gruppe sind, wird das die ganze Gesellschaft voranbringen.“
Hilfe, wo sie benötigt wird: Das gilt auch in Südafrika – hier für die Unterstützung der Marginalisierten, für die Gemeindegesundheitsarbeit und aktuell auch für die Opfer der Flutkatastrophe in der Provinz KwaZulu-Natal, die mehr als 40.000 Menschen obdachlos gemacht hat. medico-Partnerorganisationen leisten Not- und Wiederaufbauhilfe.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 2/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!