Libanon-Krieg

Gesundheitssystem vor dem Kollaps

20.11.2024   Lesezeit: 4 min

Die Versorgungslage der Vertriebenen im Libanon ist katastrophal Marion Fabre, Gesundheitskoordinatorin der medico-Partnerorganisation Amel berichtet über die verbliebenen Möglichkeiten, Hilfe zu leisten.

medico: Wie ist die humanitäre Situation im Libanon?

Marion Fabre: Seit dem 8. Oktober 2023 wurden über 2.900 Menschen getötet, darunter 163 Mitarbeiter:innen des Gesundheitssektors. 12.000 Menschen wurden verletzt. Offiziellen Angaben zufolge gibt es im ganzen Libanon zwischen 1,2 und 1,4 Millionen Flüchtlinge. Genaue Zahlen sind schwer zu bekommen, da die Registrierung intern Vertriebener der realen Entwicklung hinterherhinkt und Viele nicht in Unterkünften, sondern privat unterkommen. Schulen, Hotels und sogar Nachtclubs sind zu Notunterkünften umfunktioniert worden. Nur 200 von ihnen verfügen noch über Kapazitäten, weitere Menschen aufzunehmen.

Die Situation in den Notunterkünften ist überaus besorgniserregend. Wir arbeiten mit dem Katastrophenschutz zusammen, um den Menschen dringend benötigte Güter zukommen zu lassen. Der Bedarf übersteigt aber die Nothilfe humanitärer Organisationen bei Weitem. Jetzt steht auch noch der Winter vor der Tür, das wird die Lebensbedingungen in den Notunterkünften weiter massiv verschlechtern. Krankheiten wie Grippe und COVID können sich rasend schnell ausbreiten. Gleichzeitig beobachten wir bereits die ersten Cholera-Fälle im Nordlibanon.

Auf der Flucht vor den israelischen Angriffen haben viele Menschen das Land aber auch verlassen. Laut dem Amt der Vereinten Nationen für die Koordinierung humanitärer Angelegenheiten (OCHA) flohen 350.000 Syrer:innen und 150.000 Libanes:innen sogar nach Syrien.

Was kannst du uns über die Schäden an ziviler Infrastruktur in Beirut berichten?

Die Mehrheit der Luftangriffe zielt auf den Süden der Hauptstadt. Dort wurden ungemein viele Wohnhäuser zerstört oder beschädigt, tausende Menschen sind durch die Bombardements obdachlos geworden. Auch Amel-Gesundheitszentren in Süd-Beirut sind beschädigt worden. Wir mussten sie deswegen vorübergehend schließen. Jetzt arbeiten unsere Teams hauptsächlich innerhalb der Notunterkünfte und mit unseren mobilen Kliniken.

Du hast gesagt, dass nur noch eine begrenzte Anzahl an Notunterkünften, neue Menschen aufnehmen können. Was machen diejenigen, die kein Obdach finden?

Insgesamt befinden sich nur ungefähr 200.000 Menschen in den Notunterkünften. Die vielen anderen, ungefähr 1-1,2 Millionen Binnenvertriebene weichen auf den öffentlichen Raum aus, weil sie es sich nicht leisten können, privaten Wohnraum anzumieten. Parks, große Plätze, aber auch normale Straßen sind voller Geflüchteter. Angesichts des näher rückenden Winters, machen wir uns große Sorgen um die Lage dieser Menschen, denen es am Nötigsten fehlt und die der Witterung dort schutzlos ausgesetzt sind.

Auch im Süden des Libanon betreibt ihr mehrere Gesundheitszentren. Wie ist die Lage dort?

Im Süden haben wir Gesundheitszentren in Tyre, Saida, Khiam, Arkoub und Bazouriyyeh. Aber lediglich unsere beiden Zentren in Tyre und Saida sind noch geöffnet. Die anderen mussten wir aufgrund der gefährlichen Lage schließen. In Saida gibt es sehr viele Binnenvertriebene, in Tyre ist die Lage sehr unübersichtlich. Anfangs haben viele die Stadt in Richtung Beirut verlassen. Dann kehrten sie zurück, weil das Leben in Beirut teurer ist als im Rest des Landes. Aber da die israelische Armee nun auch in Tyre Zwangsvertreibungen angeordnet hat, sind die Menschen erneut gezwungen, ihre Stadt zu verlassen. Die Menschen werden wie Spielfiguren hin und hergeschoben. Für uns stellt diese Situation eine immense Herausforderung dar, da wir unsere Bedarfsanalyse ständig aufs Neue anpassen müssen.

Ihr verfügt nur über beschränkte Ressourcen. Wie trefft ihr die schwere Entscheidung, wo ihr hingeht, wen ihr behandelt und wer Hilfe bekommt?

Die Lage ist dramatisch. Bezogen aufs ganze Land sind einfach nicht ausreichend Hilfsgüter vorhanden. Die Zivilgesellschaft leistet trotz aller Schwierigkeiten hervorragende Arbeit, die Solidarität ist sehr groß. Unsere bisherige Strategie bestand darin, Bedarfe in den Notunterkünften möglichst genau zu erfassen und unsere Arbeit darauf abzustimmen Wenn zum Beispiel in einer Unterkunft nur eine Familie ein Hygiene-Kit braucht, nehmen wir keine 20 Kits dorthin mit. Die Lage ist bereits angespannt und führt auch zu Konflikten innerhalb der Unterkünfte. Wir wollen diese durch eine schlechte Planung nicht noch weiter anheizen. Unsere Arbeit in dieser Not erfordert viel Fingerspitzengefühl.

Das libanesische Gesundheitssystem stand schon vor dem Krieg unter großem Druck. Wie gehen die Krankenhäuser mit dem immens gestiegenen Bedarf um?

Sowohl Krankenhäuser als auch Basisgesundheitseinrichtungen arbeiten am Limit. Bereits vor einem Jahr entwarf das Gesundheitsministerium eine Strategie zu dezentralen, mobilen Anlaufpunkten. Dies hilft jetzt unterversorgte Regionen zu erreichen, die nun vom Krieg betroffen sind. Offen bleibt aber weiterhin, wie wir diejenigen erreichen, die vertrieben wurden, aber nicht in den Notunterkünften sind und Hilfe benötigen. Mit zunehmender Dauer und Verschärfung des Krieges müssen wir sicherstellen, dass allen geholfen wird.

Das Interview führte Imad Mustafa.

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