Kann man Antisemitismus definieren? Seit dem 25. März stehen in der gegenwärtigen Debatte zwei Definitionen zur Verfügung, die sich wenig unterscheiden. Vielleicht ist die spätere die präzisere. Die am 25. März veröffentlichte Jerusalemer Erklärung über den Antisemitismus, die über 200 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler verfassten, die seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten zum Thema Antisemitismus oder in angrenzenden Feldern forschen, definiert Antisemitismus als „Diskriminierung, Vorurteil, Feindseligkeit oder Gewalt gegen Jüdinnen und Juden als Jüdinnen und Juden (oder jüdische Einrichtungen als jüdische)“. In der Vorläufer-Definition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA), die 2016 als Arbeitsdefinition verfasst wurde und seither von Parlamenten unter anderem in Deutschland und Frankreich angenommen wurde, heißt es schwammiger unter anderem: Antisemitismus richte sich gegen „jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“
Die Definition an sich ist nicht der zentrale Gegenstand der Debatte. Es geht um ihre Auslegung. Die IHRA-Arbeitsdefinition will insbesondere israel-bezogenen Antisemitismus erkennen, die Leitlinien erläutern systematischer die klassischen Ausdrucksformen des Antisemitismus: u.a. Verschwörungstheorien, Staat-im-Staat-Ressentiments, Stürmer-ähnliche verbale oder visuelle Verunglimpfung, die Relativierung des Holocausts. Um mit dem französischen Philosophen Jean-Luc Nancy zu sprechen: den „banalen Antisemitismus“, dessen Banalität nicht darin besteht ungefährlich zu sein, sondern Vorurteile in einer dummen Verallgemeinerung immerzu zu wiederholen entgegen besseren Wissens. 20 Jahrhunderte abendländischer Antijudaismus und Antisemitismus haben sich insofern weltweit gemacht, weil die westliche Moderne mit ihrem als „Zivilisationsbruch Auschwitz“ eingeschriebenen Riss zur hegemonialen Macht wurde. Insofern ist die Frage, ob es tatsächlich einen neuen Antisemitismus gibt, der möglicherweise den alten abgelöst hat, von Relevanz. Und diese Frage diskutiert sich in den verschiedenen Definitionsauslegungen (Guidelines) von Antisemitismus, die nun vorliegen, auf indirekte Weise.
Während die IHRA-Definition vor allen Dingen genutzt wird, um vermeintlichen israel-bezogenen Antisemitismus aufzudecken, und unter anderem im deutschen Bundestag dazu benutzt wurde, die palästinensische Boykottbewegung gegen Israel in die Nähe des Antisemitismus zu rücken und zu delegitimieren (zur Überraschung mancher Verfasser:innen der IHRA-Definition), will die Jerusalemer Erklärung die Debatte um Israel und der Kritik an Israel eindeutiger fassen und damit die Grenzen zwischen politischem Streit und Antisemitismus klarer ziehen. Dabei setzt die Jerusalemer Erklärung Antisemitismus in den Kontext von Rassismus und bezieht sich auf die Allgemeine Menschenrechtserklärung genauso wie die internationalen Konventionen zum Rassismus. Das ist ein Statement für die Universalität, auch in Bezug auf Israel.
Dass es einen Israelbezogenen Antisemitismus gibt, wird nicht bestritten, dann nämlich, wenn er Stereotype des klassischen Antisemitismus auf Israel anwendet. Dazu gehört auch die Bestreitung des Existenzrechts, aber nicht als „jüdischer Staat“, sondern als Recht der Juden, im Staat Israel zu existieren und sich kollektiv und individuell zu verwirklichen. Das grenzt sich deutlich von dem „Selbstbestimmungsrecht des jüdischen Volkes ab“, das in der IHRA-Definition genannt wird und zumindest Spielraum für ein Recht auf eine ethnisch-religiöse Ausrichtung des israelischen Staates lässt. Das zum Beispiel geschieht im unter Netanjahu 2018 verabschiedeten Nationalstaatsgesetz, das den jüdischen Charakter Israels festgelegt und so unter anderem ein Ende aller Rückkehrforderungen von Nachkommen vertriebener palästinensischer Familien ausschließt und eine Tür zu möglichen weiteren ethnischen Säuberungen offen hält.
Die Jerusalemer Erklärung beharrt darauf, dass die Anwendung von antisemitischen Stereotypen auf Israel genauso antisemitisch seien wie die Aufforderung an Juden „als Juden“, sich vom Zionismus oder dem Staat Israel zu distanzieren. Eine erhellende Begebenheit fällt mir dazu ein. Während der Emanzipationstagung 2018 in Berlin, die den 50. Jahrestag von 1968 beging, trat ein US-amerikanischer Philosoph auf, der von seiner Erfahrung in Deutschland berichtete und die These vertrat, dass es hinter der Fassade einer antinazistischen Erinnerungskultur im privaten Bereich kaum eine Aufarbeitung des familiären Nazi-Hintergrundes gegeben habe. Seine mit großer Emotionalität vorgetragene Rede rief einigen Unmut hervor, ging sie doch ans Eingemachte der 68er. Aus dem Publikum meldete sich eine junge Frau, die sich wunderte, warum er eine so pro-israelische Rede gehalten habe. Daraufhin entgegnete er offenkundig überrascht über die Frage, dass er mit Israel nichts zu tun habe und wieso ihm eine solche Frage gestellt werde. Nicht nur dass eine kritische und immer wieder nötige Beschäftigung mit der deutschen Erinnerungskultur nur noch im Kontext der Rechtfertigung eines jüdischen Staates betrachtet wird, spiegelt das Dilemma der aktuellen Debatte. Das mehrheitlich deutsche Publikum war auch auf die US-amerikanische-jüdische Sicht, dass sich nicht jeder Jude und jede Jüdin automatisch in Bezug zu Israel setzt, selbst wenn sich mit der Verfolgungsgeschichte der eigenen Familie beschäftigt, vorbereitet.
Die Jerusalemer Definition setzt sich deshalb das Ziel, „Klarheit zu schaffen in der Frage, wo die Grenzen eines legitimen politischen Sprechens und politscher Aktion bezüglich von Zionismus, Israel und Palästina liegen“, um den Kampf gegen den Antisemitismus zu stärken.
Die Erklärung betont eine Selbstverständlichkeit, die in diesem Kontext aber kaum noch eine Rolle spielt, dass es einen Unterschied gibt zwischen vernünftigen und unvernünftigen Positionen und antisemitischen oder nicht-antisemitischen Sprechweisen. Letztlich geht es also darum, die Debatte um viele Fragen des israelisch-palästinensischen Konflikts und der Geschichte von Kolonialismus und Postkolonialismus in der Region auf einem politischen Feld zu führen, bei dem aber nur dann von Antisemitismus die Rede sein kann, wenn auch Antisemitismus vorliegt. Also eine Stereotypisierung und vorurteilsgeladene Sprache, die dunkle Mächte an der Macht sieht.
Der Vorwurf des Antisemitismus ist ein Ende der Debatte und kein Anfang. So kann man über die Entstehung von Israel nicht ohne 20 Jahrhunderte Verfolgung und letztlich Vernichtung des europäischen Judentums sprechen, aber auch nicht ohne den Kolonialismus, in den das jüdische Befreiungsprojekt eingeschrieben ist und den es zu seiner Existenzgründung auch nutzte. Das betrifft auch die Debatten rund um die palästinensische BDS-Kampagne. Die Forderungen nach Boykott, Abzug der Investitionen (Desinvestitionen) oder Sanktionen seien allgemeine, nicht gewalttätige Formen des politischen Protests gegen Staaten, heißt es in der Jerusalemer Erklärung. Wenn sie sich also gegen Israel richten, weil sie aufgrund evidenzbasierter Kritik entwickelt wurden – und 50 Jahre Besatzung und zweierlei Recht für Besatzer:innen und Besetzte sind als Evidenz nicht zu bestreiten – dann liegt laut dieser Erklärung kein Antisemitismus vor. Die politische Debatte um BDS ist damit keineswegs geklärt. es geht hier einzig um den Antisemitismus-Vorwurf.
Wenn man der Jerusalemer Erklärung folgt, bleibt also das Dilemma bestehen, dass die aus der deutschen und europäischen Vernichtungsgeschichte begründete Existenz Israels und die daraus begründete jüdische Mehrheit auf die kontinuierliche Unterdrückung und Entrechtung der palästinensischen Bevölkerungsgruppen hinausläuft. Dass damit internationales Völkerrecht gebrochen wird, sollte mit den IHRA-Leitlinien widerlegt werden. Hier spielen die „doppelten Standards“ eine maßgebliche Rolle. Sie werden immer wieder von der israelischen Regierung in Bezug auf UN-Beschlüsse erhoben, die unter dem Vorwurf des Antisemitismus nicht ernst genommen und bestritten werden. Im politischen Streit um berechtigte oder nicht-berechtigte Kritik an der israelischen Regierung und der Verfasstheit des israelischen Staates ist der Antisemitismus-Vorwurf die wichtigste Währung geworden. Dass sich daraus ein Problem ergibt, liegt auf der Hand. Klassische Antisemiten von Orban bis zur AfD sind die besten Freunde Israels. Ihre strategische Nähe zu Israel verschiebt und verlagert den Antisemitismus in den Nahen und Mittleren Osten. Europa und Deutschland werden zusehends im Namen der Geschichte zu geschichtslosen Saubermännern, die frei sind, andere des jüngsten deutschen und europäischen Menschheitsverbrechens zu beschuldigen. Die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus versucht dieser Auslagerung von Verantwortung einen Riegel vorzuschieben. Und sie tut das mit dem Gewicht von Forscher:innen, die sich auf die eine oder andere Weise mit dem Antisemitismus und seinen historischen Wurzeln beschäftigt haben. Sie nehmen in ihren Leitlinien zur Auslegung der Definition BDS und den Vorwurf des doppelten Standards explizit aus der Antisemitismus-Debatte heraus. Das ist ein klares Statement. Damit kann wieder offen über alle politischen Fragen diskutiert werden, die ja bestehen bleiben. Als da wären: Wie kann eine das Zusammenleben und die Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts fördernde Außenpolitik in Deutschland und Europa aussehen? Wie kann Demokratieentwicklung vor Ort unterstützt werden? Wie kann eine Anerkennung von legitimen Rechten und (Sicherheits-)Bedürfnissen der Einzelnen wie der sich als Volk verstehenden Gruppen organisiert werden? Wie kann gleiches Recht für alle Bewohner:innen gelten? Wie ist der israelisch-palästinensische Konflikt in der Katastrophe des Nahen und Mittleren Ostens historisch und politisch eingeordnet? Kann die Aufarbeitung der Politik der Gefängnisse, wie sie die ganze Region überzieht, Bestandteil einer regionalen Demokratisierung werden und wie ist sie von außen zu unterstützen?
Um nur einige zu nennen. Der Zweckentwendung des Antisemitismusvorwurfs für politische Ziele, über die man sehr wohl streiten kann, setzt die Jerusalemer Erklärung eine klare Position entgegen. Das aber ist keine Relativierung des Antisemitismus. Denn die große und überaus legitime Frage dahinter ist doch, ob sich ein Verbrechen wie die Judenvernichtung wiederholen kann. Hier sind Victor Klemperers Überlegungen zum Antisemitismus in „LTI – Sprache des Dritten Reiches“ nach wie vor gültig. Dass nämlich der NS-Antisemitismus eine längst tot geglaubte Seuche wieder aufleben ließ: ein Anachronismus, der „keineswegs im Gewande der Vergangenheit, sondern in höchster Modernität einherkommt“; und dass er den Rassegedanken einführte und somit die „Scheidung“ verewigt habe. Hier sollte man die eigene Provinz wieder in den Blick nehmen anstatt über Israel zu debattieren. Nach den Anschlägen von Halle und Hanau als Symbole eines nicht verebbenden Antisemitismus und Rassismus ist die Klemperers Frage, ob ein tödlicher Anachronismus im modernen Gewand wieder entstehen kann, nicht entschieden.
Nachtrag
In meinem Nachdenken über die Jerusalemer Erklärung zum Antisemitismus verwende ich eine Formulierung, die missverständlich ist. Ich schreibe, sie nehme BDS vom Antisemitismusvorwurf aus. Das kann die Erklärung natürlich nicht. Noch dazu, wo sich jeder als BDS erklären kann. Präziser wäre gewesen, zu schreiben, dass die Erklärung explizit „Boycott, Desinvestment, Sanctions“ als Forderungen bezeichnet, die im politischen Raum erhoben werden können. Sie haben insofern keinen Antisemitismus-Vorbehalt – meine Interpretation. Anders formuliert: BDS anhand seiner Forderungen nach „Boycott, Desinvestment, Sanctions“ für antisemitisch zu erklären, entspricht nach meiner Auslegung nicht der Jerusalemer Erklärung. Alles weitere zu BDS und seinen unterschiedlichsten Anhängerinnen und Anhängern ist der politischen Debatte überlassen.