„Das ist ein historischer Erfolg – für die Europäische Union, für eine neue, solidarische Migrationspolitik und für den Schutz von Menschenrechten“, jubelte SPD-Innenministerin Nancy Faeser nach der vom EU-Innenrat am 8. Juni 2023 beschlossenen Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylrechts (GEAS). Ihre Worte gleichen Orwellschem Neusprech, wird der Beschluss doch de facto zu mehr Abschottung und weiterem Abbau von Grundrechten führen und sicher nicht zu mehr Solidarität mit Geflüchteten.
Zum Kern des Beschlusses gehören sogenannte Grenzverfahren. Diese beinhalten, dass alle Geflüchteten, die es unter den sowieso schon schwierigen Bedingungen schaffen, an eine der EU-Außengrenzen zu gelangen, erstmal in Lagern festgesetzt werden. Dort sitzen sie, bis überprüft ist, ob sie überhaupt ein reguläres Asylverfahren erhalten. Diese Überprüfung ist nicht mit einem normalen Asylverfahren zu verwechseln, bei dem die Antragsteller:innen ihre Fluchtgründe darlegen können. Die individuelle Anhörung – ein elementarer Grundsatz des Rechts auf Asyl – ist dadurch nicht länger gewährleistet.
Ziel der Grenzverfahren ist, möglichst viele Personen schon an der EU-Außengrenze abzuweisen. Wer aus einem Land kommt, das als „sicherer Herkunftsstaat“ eingestuft wird, oder durch Staaten gereist ist, die als „sicherer Drittstaat“ gelten, hat kaum noch Chancen, individuelle Fluchtgründe vorzubringen. Ob jemand vor dem Taliban-Regime in Afghanistan geflohen oder iranischer oder türkischer Folter entkommen ist, spielt keine Rolle mehr, wenn ein „sicherer Drittstaat“ auf der Fluchtroute lag. Die Kriterien, welches Land als „sicherer Drittstaat“ gilt, sind dabei bereits sehr niedrig und sollen nun noch weiter gesenkt werden. Der übergroßen Mehrheit der ankommenden Menschen wird damit die Möglichkeit genommen, ein Asylverfahren zu durchlaufen. Was 1993 in Deutschland auf nationaler Ebene geschehen ist, soll nun europaweit passieren: die Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl.
Die Entwürfe zur Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems bedienen sich dabei einem ebenso wirkmächtigen wie fragwürdigen juristischen Konstrukt: mit der „Fiktion der Nichteinreise“ werden extra-territoriale Orte auf EU-Gebiet geschaffen. Rechtlich werden Geflüchtete als noch nicht eingereist betrachtet, obwohl sie physisch bereits die Grenze zur EU passiert haben. Damit können grundlegende Verfahrensstandards unterlaufen werden, wie wir bereits im Flughafenverfahren, anhand von Pushback-Praktiken entlang der „Balkan-Route“ und der EU-Außengrenze in Südeuropa beobachten konnten. Auch Deutschland machte sich dieses Konstrukt zu Nutze und verweigerte Menschen an der österreichischen Grenze das Recht, einen Asylantrag zu stellen.
Vorbild Moria und EU-Türkei-Deal
Wir kennen die Konsequenzen der Beschlüsse bereits: Jahrelang wurde im Rahmen des EU-Türkei-Deals erprobt, was nun EU-weit systematisiert wird: Geflüchtete, die aus Syrien, Afghanistan, Pakistan, Bangladesch und Somalia die griechischen Inseln erreichen, können bereits jetzt ohne Asylprüfung in die Türkei abgeschoben werden. Und das, obwohl das AKP-Regime diese Menschen systematisch weiter in Kriegs- und Krisengebiete wie Syrien und Afghanistan abschiebt. Infolge des Deals sind zudem riesige Lager an den EU-Außengrenzen entstanden, das bekannteste davon das 2020 abgebrannte Elendslager Moria auf Lesbos. Hier konnte man beobachten, was beschleunigte Grenzverfahren tatsächlich bedeuten. Trotz sogenannter „Schnellverfahren“ saßen die Betroffenen dort jahrelang im Elend fest. Denn Abschiebungen in Drittstaaten funktionieren oft nicht so reibungslos wie sie sich die EU das vorstellt. Nachdem Moria vollständig niedergebrannt war, wurden auf den griechischen Inseln „Closed Controlled Access Center“ errichtet, die zwar von außen sauberer und aufgeräumter als das Lager Moria aussehen, in denen es aber auch zu strukturellen Menschenrechtsverletzungen kommt. In den an Hochsicherheitsgefängnisse erinnernden Komplexen wird die Bewegungsfreiheit massiv eingeschränkt, unbegleitete Kinder werden in sogenannten „sicheren Zonen“ für 22 Stunden am Tag eingesperrt, und es findet eine massive Überwachung durch Kameras, Sicherheitspersonal und Polizei statt. Ungeziefer, ungenießbares Essen und unhygienische Verhältnisse sorgen für den Rest.
Ampel-Regierung kippt nach rechts
Dieser menschenunwürdige Ausnahmezustand an der EU-Außengrenze wird mit der beschlossenen EU-Asylrechtsreform nun normalisiert und in Recht gegossen. Die Ampel-Koalition aus SPD, Grünen und FDP hat Innenministerin Nancy Faeser grünes Licht für die Zustimmung beim EU-Ratstreffen am 8. Juni gegeben. Damit hat sie sich vollständig auf die Linie des früheren Innenministers Horst Seehofer begeben, der schon vor Langem geschlossene Lager an den Außengrenzen propagiert hat, und ihre eigene politische Linie aufgegeben.
Zur Erinnerung: Im Koalitionsvertrag steht geschrieben: „Wir wollen die illegalen Zurückweisungen und das Leid an den Außengrenzen beenden. Der Asylantrag von Menschen, die in der EU ankommen oder bereits hier sind, muss inhaltlich geprüft werden.“ Mit der nun unterstützten EU-Politik wird genau das Gegenteil passieren. Die Kontroversen und schleppenden Verhandlungen um das Gemeinsame Europäische Asylsystem haben die Regierungskoalition offensichtlich dazu getrieben, sich lieber mit einem schlechten Kompromiss als mit dem Status quo zufrieden zu geben. Doch mit welchem Ziel? Wenn es keine roten Linien in Bezug auf die Aushöhlung von Grundrechten mehr gibt, dann kann keine Rede mehr von einem gemeinsamen Asylsystem, sondern nur von einem gemeinsamen Abschottungssystem sein. Das Festsetzen von Schutzsuchenden in Lagern wird nicht dazu führen, Migration nach Europa zu stoppen, denn Menschen bleiben gezwungen, sich aufgrund von Krieg, Verfolgung und wirtschaftlicher Ungerechtigkeit auf den Weg zu machen. An diesem Punkt hätte die Regierungskoalition die Reißleine ziehen müssen, denn diese Beschlüsse werden fatale Folgen für Schutzsuchende an Europas Grenzen haben, und das für die nächsten Jahrzehnte.
Medico international verfasste gemeinsam mit 60 weiteren Organisationen einen Aufruf an die Bundesregierung. Unter dem Titel „Keine Kompromisse auf Kosten des Flüchtlingsschutzes“ heißt es: „Die aktuellen Reformvorschläge rütteln nicht nur an den Grundfesten des Rechtsstaates, sondern werden auch bereits existierende Probleme des europäischen Asylsystems noch verschärfen.“ Gemeinsam fordern wir die Bundesregierung auf, die Rechte und Bedürfnisse der Schutzsuchenden in den Mittelpunkt zu stellen und an einer solidarischen Aufnahme von Ankommenden in der EU zu arbeiten.