Interview

Europa ist tot

21.09.2021   Lesezeit: 10 min

Der Historiker Jürgen Zimmerer über die Berliner Republik und die Kolonialismus-Debatte

medico: Noch vor kurzem schien Bewegung in die Frage der Rückgabe geraubter Kulturgüter gekommen zu sein. „Nichts ist mehr unmöglich“, schrieben Felwine Sarr und Bénédicte Savoy 2018. Wo stehen wir heute in der Aufarbeitung unserer deutschen Kolonialgeschichte?

Jürgen Zimmerer: Tatsächlich schien 2018 einiges möglich. Aber was ist umgesetzt worden? In Deutschland hat die Politik erste Schritte unternommen, nicht mehr. Auf dem Benin-Gipfel im Kanzleramt hat sich Deutschland bereit erklärt, die Benin-Bronzen zurückzugeben, ohne sich festzulegen, welche und wie viele. Wer entscheidet aber, wenn man sich nicht einig wird? In Deutschland gibt es dazu bislang nichts Konkretes. Belgien hingegen hat die Restitution der Kulturgüter aus dem heutigen Kongo beschlossen. Als geraubt identifizierte Objekte gehören offiziell nicht mehr Belgien und werden, sobald die konkrete Möglichkeit gegeben ist, an die kongolesischen Partner:innen zurückgegeben. Davon sind wir in Deutschland meilenweit entfernt.

Nicht einmal zu einer Rückgabe-Politik wie Belgien ist Deutschland in der Lage?

Die deutsche Regierung und die hiesigen Museumsverantwortlichen geben immer erst nach, wenn es gar nicht mehr anders geht. Es gibt keine proaktive Auseinandersetzung mit dem kolonialen Erbe. Zuerst hieß es, dass keine Objekte geraubt worden seien. Dann hieß es, wenn es sich um Raub handelt, geben wir es selbstverständlich zurück, aber das wären nicht viele Objekte, usw. Da unstrittig ist, dass es sich bei den Benin-Bronzen um Raub handelt, könnte man sofort das Eigentumsrecht restituieren und die Überführung entsprechend der lokalen Möglichkeiten später gestalten. Man könnte sie als Leihgabe aus Nigeria zwischenzeitlich in Berlin zeigen und Nigeria eine Leihgebühr bezahlen. Stattdessen erklärte der Präsident der Berliner Stiftung Preußischer Kulturbesitz, Hermann Parzinger, in einem Radiointerview, dass die deutsche Seite entscheide, welche Kulturobjekte und wie viele restituiert würden. Die Botschaft lautet: Wenn ihr euch nicht auf einen für uns akzeptablen Kompromiss einlasst, erhaltet ihr gar nichts.

Immerhin waren die Verhandlungen mit Namibia erfolgreich.

Auch bei den Verhandlungen mit Namibia über die Wiedergutmachung für den Völkermord an den Herero und Nama hat sich dieser koloniale Gestus wiederholt. Die deutsche Position war: Nehmt unser Angebot an oder ihr bekommt gar nichts. Das ist das Gegenteil von Dekolonisierung. Über den Umgang mit kolonialen Gewaltverbrechen und Genoziden verhandelt Deutschland, als ginge es um Fischereiquoten in Brüssel: Alle Tricks sind erlaubt und man zieht den Anderen über den Tisch. Das ist angesichts des Themas, um das es geht, völlig unangemessen. Die Rückgabe-Frage ist auch nur ein kleiner Ausschnitt einer notwendigen Dekolonisierung. Man verhandelt über die Rückgabe von Objekten, lässt aber zugleich im Mittelmeer Menschen ertrinken. Dass beides zusammengehört und Teil des kolonialen Erbes ist, muss man begreifen.

Brechen Dämme, wenn wir die Benin-Bronzen zurückgeben?

Das Bild des Dammbruchs ist sehr problematisch. Ich würde vielmehr formulieren, dass sich damit Türen und Wege öffnen, weil mit der Rückgabe der Objekte eine Bewertung des Kolonialismus einhergeht. Es geht um das Selbstbild des Westens und des Globalen Nordens als Hort der Aufklärung und der Menschenrechte. Wir in Europa behaupten ein Narrativ vom Aufstieg des Westens, ohne die Kehrseiten – Sklaverei, ethnische Säuberungen oder Ausbeutung – zu erwähnen. Wenn man das Recht auf Rückgabe anerkennt, gibt man diese dunkle Unterseite der europäischen Geschichte zu. Beim Völkermord an den Herero und Nama hat sich die Bundesregierung zwar bereit erklärt, eine Milliarde Euro in 30 Jahren zu bezahlen. Aber sie legt Wert auf die Feststellung, nur aus heutiger Sicht handle es sich um einen Genozid, ein Rechtsanspruch bestehe nicht. Die Gelder sind also keine Wiedergutmachung. Die 36 Millionen pro Jahr sind Wiederaufbauhilfe. Es handelt sich um eine freiwillige Maßnahme, die mit der Rhetorik und der Praxis der Hilfe verknüpft ist. Diese Hilfe erhöht moralisch den Helfer, während Wiedergutmachung ein klares Schuldbekenntnis und keine Selbstüberhöhung wäre. Die erhöhte Position ist die koloniale Position.

Der Schriftsteller Uwe Timm hat in seinem Roman Morenga bereits 1976 eine direkte Verbindungslinie vom deutschen Kolonialismus und zu den Verbrechen des Nationalsozialismus gezogen. Damals gab es keinen Aufschrei. Heute stehen solche Überlegungen unter dem Verdacht, den Holocaust relativieren zu wollen. Was macht es so schwierig, die Aufarbeitung des Kolonialismus in Beziehung zum Nationalsozialismus und zur Judenvernichtung zu stellen?

Im Grunde erleben wir seit der Wiedervereinigung eine Berliner Republik, die eine neue Rolle in der Welt spielen will. Die Suche nach einem identifikatorischen Kern wird durch das Humboldt Forum, den Neubau des Berliner Stadtschlosses, symbolisiert. Die alte Erzählung von Deutschland als dem Land der Dichter und Denker wird neu aufgelegt. Das Berliner Stadtschloss überschreibt die nationalsozialistische Geschichte und ihre Folgen, ist es doch eng mit dem Kaiserreich und damit auch der deutschen (kolonialen) Gewaltgeschichte verknüpft. Zwar leugnet niemand außer Rechtsradikalen den Holocaust. Aber dieses neue (alte) Narrativ der Berliner Republik löst die zwölf Jahre nationalsozialistischer Herrschaft aus der Geschichte heraus. Das apodiktische Paradigma der Unvergleichbarkeit der nationalsozialistischen Verbrechen fördert dieses Denken. Dabei muss die Frage eigentlich lauten, worin einerseits das Singuläre der Verbrechen liegt und wo andererseits die Verbindungslinien mit anderen gewalttätigen Ereignissen sind. Sonst kappt man die Verbindungslinien zwischen dem Dritten Reich und der deutschen Geschichte insgesamt. Selbst jene, die die deutsche Geschichte positiver sehen wollen, akzeptieren ja meist das Verbrecherische dieser Jahre, sie sehen sie nur als untypisch für die deutsche Geschichte. Leicht wird daraus: Diese Verbrechen waren so schlimm, dass sie quasi außerhalb der Geschichte stehen. Die Kolonialismus-Debatte steht dieser Lesart entgegen. Denn sie stellt fest, dass es einen Genozid vor dem Genozid gab und einen Rassenstaat vor dem Rassenstaat. Die deutsche Gewaltgeschichte begann also nicht 1933, sondern wesentlich früher. Eine solche Erkenntnis verankert wesentliche Merkmale des Dritten Reiches – also Rassismus, Antisemitismus, genozidale Politik – in der Geschichte des Kaiserreiches. Unter Historikerinnen und Historikern erleben wir jedoch gerade eine Diskussion um eine positivere Neubewertung des Kaiserreiches. Es geht aber eigentlich um die Debatte, wie sehr die Verbrechen des Dritten Reiches in der deutschen Geschichte verwurzelt sind. Das ist eine grundsätzliche Frage wie die um den Aufstieg des Westens, und beide sind sicher auch miteinander verbunden.

Sie haben gemeinsam mit anderen Wissenschaftler:innen einen Aufruf lanciert, der u.a. von der Genozidforschung verlangt, die eigene Wissenschaft in den Kontext der heutigen globalen politischen Herausforderungen, insbesondere der Klimakatastrophe zu stellen. Warum?

Die Genozidforschung ist eine junge Disziplin. Sie ist erst in den vergangenen 40 Jahren entstanden. Die Klimakrise wird, davon gehen wir in dem Aufruf aus, ein Katalysator für Gewalt sein. Unsere Befürchtung ist, dass die Gewalt in ärmeren Regionen schneller wachsen wird, weil sie auch früher und stärker von der Klimakrise betroffen sind. Das heißt nicht, dass die Klimakrise und Gewalt automatisch miteinander verknüpft sind. Aber die Gefahr, dass bei Ressourcenknappheit alte Feindbildkonstruktionen in den Fokus rücken und Ausschlusslinien entlang ethnischer oder religiöser Konflikte gezogen werden, muss man zur Kenntnis nehmen. Es gibt eine Traditionslinie in der Genozidforschung, die im Sinne der westlichen Erzählung davon ausgeht, dass westliche demokratische Gesellschaften keine Genozide verüben. Danach ereignen sich solche Gewaltverbrechen nur in außerwestlichen Staaten, womit ja auch die Interventionen der letzten Jahrzehnte begründet wurden. In diesem Bild reitet der Westen als Kavallerie ein und rettet. Daraus entstanden ist eine Zweiteilung: Die Menschen außerhalb des Westens sind die Täter und wir die Retter. In der Klimakrise wird dieses Bild vollends ad absurdum geführt. Denn der Westen trägt mit seinem Verbrauch an Ressourcen maßgeblich zur Verschärfung der Klimakrise bei. SUV-Fahrer, und nicht nur diese, sind also mitverantwortlich für die Gewalt in anderen Regionen. Für diesen Satz habe ich heftige Reaktion erhalten. Aber das ändert nichts an der Tatsache. Unser individuelles Verhalten hat globale Konsequenzen.

Die postkolonialen Debatten haben die öffentliche Wahrnehmung verändert. Das zeigt sich an der Empörung über die Vernachlässigung der Menschen in Afghanistan, die man den Taliban ausliefert. Sehen Sie neue Möglichkeiten für eine Öffentlichkeit, die sich ihrer Weltverantwortung bewusst ist?

Ich befasse mich als Historiker vor allen Dingen mit Afrika. Und hier erlebe ich nach wie vor das klassische koloniale Muster, in dem sich der Westen und auch die Öffentlichkeit in der Rolle der Helferin sieht. Unser Bild von uns selbst reproduziert sich unablässig: Wir sind die Guten, wir sind alle Albert Schweitzer. Dieses Hilfssystem funktioniert auch für andere Regionen so. Deutschland erklärt, die BeninBronzen zurückgeben und beim Aufbau eines Museums „helfen“ zu wollen. Wir helfen und helfen und helfen. Nein, wenn Nigeria eine rückwirkende Leihgebühr für die Bronzen erhalten würde, bräuchten sie keine Hilfsgelder mehr. Wollen wir die Sachen weiter ausstellen – ich bin sehr dafür –, dann müssen wir eben bezahlen, und zwar rückwirkend. Nigeria könnte damit die nötige Infrastruktur aufbauen.

Wir befinden uns nun sichtbar und spürbar in einer globalen Krise, deren Ausmaß wir noch verstehen lernen müssen. Würde ein nicht eurozentrischer Universalismus helfen, sie zu verstehen, oder werden wir immer wieder einen Rückfall in den Eurozentrismus erleiden?

Ich fürchte, dass wir mit Blick auf die globale Krise immer wieder im Eurozentrismus landen. Das Gute ist, dass wir nicht länger der Nabel der Welt sind. Klimakrise und Kolonialismus hängen zusammen, aber auch Dekarbonisierung und Dekolonisierung. Wir wissen um die Klimakrise und die Notwendigkeit der radikalen Änderung im Globalen Norden. Aber die Bürgerinnen und Bürger im Globalen Norden glauben das nicht, weil über 600 Jahre für Europäer:innen das Leben in einer kolonialen Globalisierung ein Leben über die Verhältnisse war. Das hat zu einer mentalen Disposition geführt, die davon ausgeht, dass es doch immer gut gegangen ist. Deshalb sind die Europäerinnen und Europäer, ja der Globale Norden insgesamt, völlig unfähig, auf diese Krise zu reagieren. Ausnahme sind etwa die jungen Leute von „Fridays for Future“.

Sie sind gut vernetzt in der globalen Debatte. Wie sehen Sie die Forderungen von Denkerinnen und Denkern des Südens nach einer neuen Wissensproduktion, nach einer Besinnung auf eigene Quellen statt auf europäische Philosophie?

Die Dezentrierung Europas – in den USA ist das ein wenig anders – ist eine Realität und das ist auch eine epistemische, auch eine intellektuelle Dezentrierung. Damit verlieren auch das europäische Wissen und die europäische Wissensproduktion ihre hegemoniale Position. Das europäische Denken muss sich beweisen im globalen Wettstreit, und da wäre es sicherlich von Vorteil, wenn sich die europäische Politik an den europäischen Ideen und Werten orientieren würde. Es wäre auch ein Gebot dekolonialer Verantwortungsübernahmen, wenn der Globale Norden wenigstens seine unstrittig vorhandenen wissenschaftlichen Kapazitäten für ein globales Nachdenken über eine gemeinsame Zukunft einsetzen würde.

Was ist zu tun?

Am Teilen, an globaler sozialer Gerechtigkeit führt kein Weg vorbei. Wenn man sich nicht auf ein Niveau des Ressourcenverbrauchs einigt, das jedem und jeder das Gleiche zugesteht, kann das in Gewalt bis zum Genozid enden. Statt zu teilen, schottet man sich ab, werden weltweit Mauern gebaut. Die Folgen des Klimawandels bedeuten damit das Ende Europas, wie wir es kennen. Es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder wir lassen Menschen aus den unbewohnbar gewordenen Regionen hierher. Damit würde sich die demografische Zusammensetzung ändern, ich kann damit leben. Oder wir errichten ein Grenzregime, das die Werte, die wir angeblich haben, ad absurdum führt. Wir können die Sache drehen und wenden, wie wir wollen: Europa, wie wir es kannten, selbst wenn es nur ein Zerrbild war, ist tot.

Interview: Katja Maurer

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!


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