Haiti

Fernverwaltung einer No-go-Zone

08.12.2022   Lesezeit: 7 min

Haiti steht paradigmatisch für das Scheitern globaler Governance unter westlicher Hegemonie.

Von Katja Maurer

Das ist eine Nachricht: Es gibt den Weltsicherheitsrat noch und er kann sich einigen. Die Probebühne, auf der die Einigung inszeniert wird, ist das arme Haiti, dem alle ja nur Gutes tun wollen.

Im Oktober 2022 tagte der Weltsicherheitsrat zur Lage in Haiti. Ausgangspunkt waren unter anderem die aktuellen Warnmeldungen des Welternährungsprogramms, das von 4,7 Millionen Menschen in Haiti berichtete, die von akutem Hunger bedroht sind, darunter 19.000 Menschen in der Hauptstadt Port-au-Prince, die in der höchsten Katastrophenstufe leben, also bereits lebensgefährlichem Hunger ausgesetzt sind. Das ist zum ersten Mal in Haiti der Fall. Und nicht nur das: Millionen von Kinder gehen seit Monaten nicht in die Schule, weil die Gewalt in den Straßen der Hauptstadt ein solches Ausmaß angenommen hat, dass die Eltern sie nicht mehr aus dem Haus lassen. Krankenhäuser und Gesundheitsstationen sind geschlossen, weil sie keinen Strom mehr haben. Die Cholera breitet sich im ganzen Land aus und ist zu einer lebensbedrohlichen Gefahr geworden, weil es an Gesundheitsversorgung mangelt. Die beiden privatisierten Häfen in der Hauptstadt, über die das Erdöl in das Land geliefert wird, standen über Monate unter der Kontrolle von bewaffneten Gruppen, die den Import verhinderten. Jetzt ist zwar einer der Häfen wieder frei, aber Benzin wird trotzdem nicht in großem Maßstab transportiert, weil man jederzeit überfallen werden könnte.

Zuletzt mussten 100.000 Menschen das Elendsviertel Cité Soleil verlassen, weil bewaffnete Gruppen mit unvorstellbarer Grausamkeit, darunter Massenvergewaltigungen von Frauen und planmäßige Zerstörung von Hütten durch Bulldozer, ihre Flucht erzwangen. Die Hauptstadt steht weitestgehend unter ihrer Kontrolle. Das wichtigste Gericht des Landes ist seit Monaten von Gangs besetzt, die die Akten über Strafverfahren unter ihre Kontrolle gebracht und zerstört haben. Der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze schreibt in seinem Chartbook: „Haiti ist 2022 das vielleicht drängendste Beispiel einer Polykrise, die über die Welt hinwegfegt.“

Welttheater im Weltsicherheitsrat

Die Tagung des Weltsicherheitsrates wurde mit einer Rede von Generalsekretär Guterres eingeleitet, der einen Militäreinsatz in Haiti forderte. Allerdings war er nicht bereit, dafür noch einmal UNO-Truppen zur Verfügung zu stellen. Guterres machte sich damit zum Fürsprecher des haitianischen Regierungschefs Ariel Henry, der im Vorfeld der Sitzung einen ausländischen Militäreinsatz forderte. Henry wiederum besitzt zwar die Unterstützung durch die UNO, die USA und die anderen westlichen Staaten, die in der internationalen CORE Group sitzen und Haiti seit dem verheerenden Erdbeben 2010 quasi von außen verwalten, aber keinerlei Legitimation im Land selbst.

Menschenrechtsorganisationen aus Haiti, darunter das Menschenrechtsnetzwerk RNDDH (Réseau National de Défense des Droits Humains), haben ausführliche Berichte über die nach wie vor nicht aufgeklärte Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 vorgelegt. Danach stand der jetzige Regierungschef mit den wahrscheinlichen Auftraggebern in der Mordnacht in ausführlichem Kontakt. Eine UNO und ein Weltsicherheitsrat, die die entgrenzte Gewalt in Haiti debattieren, ohne über deren Hintermänner zu sprechen, will und kann das Problem nicht wirklich aus der Welt schaffen.

Bei der Debatte um Haiti hat sich im Weltsicherheitsrat ein Welttheater abgespielt, das viel mehr erzählt als nur die haitianische Katastrophe. Während die westlichen Mitglieder einer Militärintervention in Haiti das Wort redeten und die Gangs zur Ursache des Problems erklärten, wandten sich Russland und China gegen eine solche Vereinfachung. Der russische Vertreter fragte, ob es nicht klug wäre, erst einmal den Mord an Präsident Moïse aufzuklären und dann erst zielgerichtet und möglicherweise auch militärisch einzugreifen. Dafür bot er die Unterstützung durch russische Söldner der berüchtigten Wagner-Truppe an. Der chinesische Vertreter wies darauf hin, dass ein Militäreinsatz von außen die Gewalt möglicherweise noch weiter anheizen werde, statt sie zu beenden. Auf den parallel stattfinden[1]den Demonstrationen gegen eine internationale Intervention in Port-au-Prince wehten deshalb auf einmal russische und chinesische Fahnen.

Das Humanitäre als Legitimation

Das Dilemma des Westens, der eigentlich Haiti aufgegeben hat, besteht in Haiti darin, dass man angesichts der offenkundigen humanitären Katastrophe und einer sich ankündigenden massiven Hungersnot intervenieren muss. Auf diese Weise lässt sich zugleich die immer wieder humanitär begründete Interventionsmacht der UNO unter westlicher Hegemonie aufrecht[1]erhalten. Die moralische Begründung des Humanitären ist für diese nun durch den Ukraine-Krieg auf dem Spiel stehende globale Governance, die über die UNO wesentlich gesteuert wird, tatsächlich von Bedeutung und nicht nur Schmuck, um eigene Interessen zu verbergen. Handlungsfähigkeit im Humanitären ist die Legitimation für einen westlichen Führungsanspruch. Sie kann man nicht einfach aufgeben.

Gleichzeitig ist das Feld des Humanitären voll von Doppelmoral. Nirgendwo ist das besser zu besichtigen als in Haiti. Seit der Westen 2004 unter US-amerikanischer und französischer Führung den Präsidenten Aristide stürzte, der bereits mit bewaffneten Gangs aus Cité Soleil arbeitete, und danach UNO-Truppen 17 Jahre im Land stationierte, scheiterte er zugleich an eigenem Überlegenheitsdenken, neoliberalem Marktglauben und der Idee einer repräsentativen Demokratie, die nur eine leere Hülle ist, wenn Präsidenten mit 15 Prozent der Wählerstimmen, wie in Haiti der Fall, gewählt werden. An dieser Stelle wurde mehrfach dazu berichtet. Als die UNO begann Haiti zu kontrollieren, gab es zwei bewaffnete Gangs. Heute sind es mindestens 200.

Schlussendlich einigte man sich im Sicherheitsrat der UNO im Oktober auf eine Haiti-Resolution. Jetzt gibt es Sanktionen und einen internationalen Haftbefehl gegen einen der führenden Warlords, Jimmy Barbecue Cherizier. Cherizier ist ein ehemaliger Polizist, der eng mit dem ermordeten Präsidenten verknüpft war und eine revolutionäre Rhetorik pflegt. Dass die sogenannte Weltgemeinschaft Sanktionen gegen einen der Warlords beschließt, ist Ausdruck vollendeter Ohnmacht. Eine solche punktuelle Intervention ist jedoch durch die Resolution abgesichert, zum Beispiel um humanitäre Transporte zu sichern. Aber wer will schon in Haiti „boots on the ground“ haben? Unter kanadischer Führung soll nun trotzdem eine Militäraktion stattfinden. Über deren Erfolgsaussichten macht sich allerdings niemand Illusionen. Selbst wenn es gelingen sollte, in Teilen der Hauptstadt die bewaffneten Gruppen zurückzudrängen und so irgend[1]eine Art von haitianischer Normalität wiederherzustellen, wird das Problem erneut auftauchen, sobald die internationalen Truppen weg sind. Die politischen Hintermänner der Gangs zählen zu den wichtigsten Kontakten der westlichen Botschaften.

Gespaltene Zivilgesellschaft

In Haiti selbst, das über eine traditionsreiche und vielfältige, wenn auch im Laufe der vielen Niederlagen geschwächte Zivilgesellschaft verfügt, zeichnet sich keine Alternative ab. Lange Zeit schien der nach der Moïse-Ermordung gegründete Montana-Accord eine Chance zu sein. Hier sammelten sich über 300 Vertreter:innen von Menschenrechts- und Frauenorganisationen sowie von politischen Parteien, um einen detaillierten Plan für eine technokratische Übergangsregierung, die legitime Wahlen organisieren sollte, zu erarbeiten. Sie verlangten die Absetzung des derzeitigen Premiers aufgrund der Verwicklungen in die Ermordung von Moïse und als Repräsentant der Regierungspartei PHNTK, die Haiti seit 2011 ins Desaster geführt hat. Doch UNO und USA übten Druck auf den Montana-Accord aus, sich mit Henry zu einigen, was letztlich zur Spaltung des Accord führte.

So also sieht die „Fernverwaltung von No-go Zonen“ aus, von der Philosoph Achille Mbembe in Bezug auf Regionen spricht, die im Sinne des globalen Kapitalismus Ausdruck reiner Dysfunktionalität sind. Der neokolonialen Verwaltung Haitis in den Abgrund hinein steht derzeit nur eins entgegen: Im Zuge der post- und dekolonialen Debatten wird die haitianische Revolution und ihre globale Bedeutung für die Moderne gerade wieder entdeckt. Und die Abhängigkeitsstrukturen, die mit der Unabhängigkeit durch Verschuldung geschaffen wurden, wurden unter anderem in einer sechsteiligen New-York-Times-Serie detailliert untersucht. Für die Aufarbeitung der Geschichte von Emanzipation, die sich postkolonial schreiben muss, ist das von zentraler Bedeutung. Den Haitianer:innen, die aktuell einer anhaltenden und eskalierenden Krise ausgesetzt sind, hilft das allerdings wenig.

Die medico-Partner:innen in Haiti arbeiten bereits seit Jahren unter extremen Bedingungen unausgesetzt weiter. Pierre Espérance, der Direktor des Menschenrechtsnetzwerkes RNDDH, erhält beispielsweise regelmäßig Todesdrohungen und geht trotzdem täglich ins Büro. Die Kolleg:innen der Flüchtlingsorganisation GARR beteiligten sich u.a. an der Versorgung der 19.000 Haitianer:innen, die vergangenes Jahr aus den USA nach Haiti abgeschoben wurden. Alles Akte der Selbstbehauptung.

Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 4/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!

Katja Maurer

Katja Maurer leitete 18 Jahre lang die Öffentlichkeitsarbeit von medico international und die Rundschreiben-Redaktion. Heute bloggt sie regelmäßig auf der medico-Website.


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