Wenn es um die Menschenrechte geht, sollte man von Haiti reden. Denn die haitianische Revolution, die zeitgleich mit der französischen begann und 1804 zur Abschaffung der Sklaverei und Unabhängigkeit führte, hat deren Universalität überhaupt erst gesetzt, und zwar in einem eigenen Akt, nicht einfach nur als Nachahmung der französischen Revolution. Doch nicht deshalb ist Haiti gerade Thema, sondern wegen der Gewalt von unzähligen Gangs, die große Teile der Hauptstadt kontrollieren. Die Berichterstattung vermeidet meist die Erklärung der Zusammenhänge und wiederholt so tiefsitzende Vorurteile: Die Gangs erscheinen als Naturgewalt. „Die Gangs sind die Kinder, die ihr der haitianischen Republik gemacht habt“, schrieb hingegen kürzlich der haitianische Schriftsteller Lyonel Trouillot.
Intervention gegen Gangs?
Seit fast einem Jahr verlangen die UNO, USA und Kanada eine internationale Intervention in Haiti. Die immer wieder aufpoppenden Berichte über die Gewalt der Gangs, die zweifellos dramatisch ist, dienen – gewollt oder nicht – als Begleitmusik für diese Forderung. Mehrere Aufrufe von Organisationen der Zivilgesellschaft, die Rang und Namen haben, genauso wie Schriftsteller:innen, darunter auch Lyonel Trouillot, wenden sich öffentlich gegen diese Pläne. Sie fürchten, dass sie der in ihren Augen illegitimen Regierung unter Ariel Henry die Macht sichern wird, aber das Problem der Gangs nicht lösen kann.
„Die Gangs“, so der Direktor des Menschenrechtsnetzwerkes RNDDH und langjährige Partner von medico, Pierre Espérance, kürzlich bei einem Besuch in Berlin, „sind Ergebnis der politischen Krise Haitis. Es fehlt eine wirkliche Demokratie, in der gewählte Politiker das Gemeinwohl im Blick haben, und die Regierungsgeschäfte nicht nur als einen weiteren Geschäftsbereich der haitianischen Kompradoren-Bourgeoisie betrachten“. Es gebe keine funktionierende Justiz, die sich der systematischen Straflosigkeit für Menschenrechtsverbrechen und Korruption der Eliten entgegenstelle. Ein politisches Problem, so Espérance, lasse sich nur politisch lösen. Doch wie es aussieht, wird es dazu nicht kommen. Noch im Herbst soll ein UN-Sicherheitsratsbeschluss gefasst werden, der eine militärpolizeiliche Intervention unter Führung Kenias und der Beteiligung anderer Länder – unter anderem ist von Jamaika die Rede – ermöglichen soll.
Sollten Russland und China erneut ein Veto einlegen, dürfte der Fall Haitis in der UNO zu einem weiteren Exempel der neuen Spaltung in der Welt werden. Denn diese Intervention durch „befreundete Partner“ in Haiti ist eine Idee, die maßgeblich in der US-Administration vorangetrieben wird. Sie gilt als Pilotprojekt für eine neue US-Strategie, die lokale Konflikte eindämmen soll. Als Gesetz verabschiedet wurde sie noch unter Trump unter dem Titel „Global Fragility Act“, dem Globalen Fragilitätsgesetz. Nun hat es die Biden-Administration aus der Schublade geholt, um damit eine strategische Führungsrolle der USA in Konflikten wie dem haitianischen zu begründen und entsprechende Mittel abzurufen. Als Länder, in denen dieses Gesetz zur Anwendung kommen könnte, gelten zum Beispiel Libyen und Niger. Dabei wollen die USA über „Partner“ agieren, mit der UNO, gegebenenfalls aber auch ohne sie.
Der als „friedensbildendes“ Programm deklarierte Masterplan verfügt über eine starke militärische Komponente. Er setzt aber auch auf die staatliche Entwicklungsorganisation USAID und internationale NGOs. Biden erklärte im August, man wolle Beziehungen zur lokalen Zivilgesellschaft aufbauen, um „die Fähigkeit der USA zu stärken, ein effektiver Führer der internationalen Bemühungen zu sein, Extremismus und gewalttätige Konflikte zu verhindern“. Es gehe darum, einen Katalog von unterstützenden Sicherheitsaktivitäten durchzuführen, die es den USA ermöglichten, „erfolgreich militärische Ziele von, mit und durch seine Partner in fragilen Staaten durchzusetzen“. Das ist offenkundig eine Interventionsstrategie des 21. Jahrhunderts – auch wenn vieles an die gescheiterte Strategie in Afghanistan erinnert.
Nun also Haiti, das erste „Partnerland“. Das Szenario sieht folgendermaßen aus: Unter der Führung des von den USA nach langem Suchen gefundenen Partners Kenia, das 1.000 Polizist:innen verspricht, soll es eine militärischpolizeiliche Mission geben. Ursprünglich wollten die USA, dass Kanada diese Mission leitet. Doch dort lehnte man dankend ab. Die Begründung für die Intervention klingt einleuchtend, denn die Gang-Gewalt ist so brutal, dass schnelle Maßnahmen zwingend erscheinen. Dann aber wird es schwierig. Denn lokale Partnerin ist die Regierung unter Ariel Henry, dem Ministerpräsidenten, der mit Zustimmung der USA und ihrer Partner:innen (der UNO und zahl[1]reichen westlichen Staaten, darunter Deutschland) zwar ernannt, aber nie gewählt wurde. Das haitianische Parlament und der Senat sind aufgelöst, der Oberste Gerichtshof tagt schon lange nicht mehr. Seit die USA und die UNO 2011 die Fälschung der Präsidentschaftswahlen betrieben und mit Martelly ihren Kandidaten installierten, kann von demokratisch legitimen Präsidenten nicht mehr die Rede sein. Die vom Westen gestützten Politiker:innen sind außerdem massiven Korruptionsvorwürfen, etwa der Entwendung von Erdbebenhilfen, ausgesetzt und nachweislich in die Ausweitung der Gang-Gewalt verwickelt.
Zivilgesellschaft wird ignoriert
Die Zivilgesellschaft, der in der US-Strategie doch eigentlich eine zentrale Rolle zukommt, gilt im Fall von Haiti vor allen Dingen als Störfaktor. Sie wird konstant ignoriert. Sie hat sich hinter dem „Accord de Montana“ versammelt, einer Vereinbarung, die nach der Ermordung des Präsidenten Jovenel Moïse im Juli 2021 veröffentlicht wurde, um eine haitianische Lösung der Krise auszuarbeiten. In einem landesweiten Prozess hat ein Bündnis ein umfassendes Programm für eine Übergangszeit entwickelt, in der Voraussetzungen für faire Wahlen und ein funktionierendes Gerichtssystem geschaffen werden sollten. Doch weder die UN-Vertretung in Haiti, die das Land quasi als Protektorat behandelt, noch die Vertreter:innen der Länder, die in der Core-Group sitzen und über haitianische Politik und Finanzen mitentscheiden, haben sich je bemüht, ernsthaft mit dem Bündnis ins Gespräch zu kommen.
Geht es also um eine Lösung der haitianischen Krise oder ist die neue US-Politik vor allen Dingen Ausdruck von Aktivismus angesichts scheiternder hegemonialer Ansprüche? Pierre Espérance hat keine Hoffnung, dass eine erneute Intervention (nach jener durch die USA von 1915 bis 1934 und der 13-jährigen Mission der UN-Truppen MINUSTAH bis 2017) irgendetwas verbessern wird. Im Telefongespräch verweist er darauf, dass die kenianische Polizei für Menschenrechtsverletzungen berüchtigt sei. Die Vertreter Kenias hätten bei ihrem Besuch im August keinen Kontakt mit regierungskritischen Organisationen gesucht. Die US-Journalistin Amy Wilentz, die viele Bücher über Haiti veröffentlicht hat, bringt es in einem Tweet auf den Punkt: „Wie sollen 1.000 kenianische Polizisten mit ca. 200 schwer bewaffneten Gangs fertig werden? Mit Kenia benutzt die Internationale Gemeinschaft eine Stellvertreterarmee, um Raum für neue unpopuläre Wahlen zu schaffen. Danach werden die Gangs weiter regieren.“ Dass manche haitianische Intellektuelle den Afropessimist:innen recht geben, denen zufolge sich der eigentliche Antagonismus zwischen den Schwarzen und der Menschheit bewege, denn Letztere konstituiere sich im Ausschluss der Schwarzen, kann nicht verwundern.
Fluchtpunkt Menschenrechtsrevolution
Den Haitianer:innen wird kein eigenständiger Weg aus der Krise zugetraut und möglich gemacht. Einen Einwand dagegen bietet die haitianische Revolution selbst, in deren Folge eine Verfassung entstand, die alle Unterdrückten als Schwarze begriff und ihnen Bürgerrechte zusprach. Die Hautfarbe war dabei nicht das einzige Kriterium. So erhielten die polnischen Soldaten, die von der französischen Armee im damals von ihr besetzten Polen zwangsrekrutiert und in Haiti eingesetzt wurden, auch diese Rechte. Sie hatten sich der haitianischen Revolution angeschlossen. Die haitianische Revolution gab sich selbst den abolitionistischen Auftrag, alle Sklav:innen zu befreien. Deshalb wurde dem Unabhängigkeitskämpfer Simón Bolívar mehrfach Unterschlupf in Haiti gewährt, Waffenhilfe inklusive.
Hinter die Neubegründung der Menschenrechte als einem Recht für alle und jede:n, die die haitianische Revolution beispielhaft vollzogen hat, gibt es auch heute kein Zurück. Wenn das nicht geschieht, bleibt das, was Lyonel Trouillot kürzlich schrieb: „Die Widrigkeit ist so groß, dass wir jede Rede als die letzte betrachten und die Dinge schreien sollten, die es verdienen, gehört zu werden. Damit möchte ich – als ob es das letzte Mal wäre – sagen, dass jede ausländische Militärmacht, die unter den gegenwärtigen Bedingungen der De-facto-Regierung von Ariel Henry nach Haiti kommt, deren Macht nur verstärken und uns damit im Stillstand und in der Maskerade halten wird.
medico unterstützt die Arbeit des haitianischen Menschenrechtsnetzwerkes RNDDH, dessen Büro in Port-au-Prince vor wenigen Wochen beschossen wurde.
Eine Kette des Scheiterns
Die UNO und Haiti
Seit 1993 ist die UNO mit verschiedenen Missionen in Haiti präsent. Stets stand dabei die „Sicherheitsfrage“ im Mittelpunkt. Zunächst wurden unter UN-Auspizien Polizeibeauftragte zur Ausbildung lokaler Kräfte entsandt. Diese Mission dauerte bis 1996. Sie begleitete die Rückkehr des zuvor weggeputschten Präsidenten Jean-Bertrand Aristide, der im Gegenzug den haitianischen Markt für globale Produkte öffnen musste, mit verheerenden Folgen für die dortige Landwirtschaft. 2004 kehrte die UNO mit den MINUSTAH-Truppen der „Stabilisierungsmission in Haiti“ und einem Mandat des Sicherheitsrates zurück, um die Gang-Gewalt zu bekämpfen und Aristide abzusetzen, damals mit Unterstützung eines wichtigen Teils haitianischer demokratischer Kräfte.
Die MINUSTAH-Mission dauerte 13 Jahre lang, kostete täglich eine Million Dollar und geriet aufgrund vieler Skandale immer mehr in die Kritik. Ab 2010 koordinierte die UNO die Hilfe nach dem verheerenden Erdbeben. Auch diese wurde heftig kritisiert, weil sie lokale Akteur:innen sukzessive entmächtigte und über die Verwendung der Gelder nicht hinreichend Rechenschaft ablegte. Vollends verspielte die UNO ihre Glaubwürdigkeit in Haiti, als sie 2011 der Ernennung von Michel Martelly zum Präsidenten zustimmte, obwohl dies nachweislich nur durch Wahlbetrug möglich war.
Die Rolle der UNO bleibt zentral. Ihre Sonderbeauftragten leiten heute die Haiti-Core-Group, der u.a. die USA, Kanada, die EU, Deutschland und Frankreich angehören. Dass sich die UNO nun zum Vorreiter einer Interventionsforderung macht, kann zwei Gründe haben: In einer sich abzeichnenden neuen Weltordnung muss sie um ihre Rolle fürchten. Gelänge es, im Sicherheitsrat ein Votum für die Intervention zu bekommen, könnte sie ihre Rolle vorläufig sichern. Zudem leidet die UNO unter chronischem Geldmangel. Haiti ist auch eines ihrer Geschäftsfelder.
In Zeiten einer drohenden politischen Zweiteilung der Welt ist es schwer, auf die UNO als Instanz der Multipolarität zu verzichten. Aber eine Hoffnung erfüllt sie schon lange nicht mehr: den Menschenrechten global zur Durchsetzung zu verhelfen.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2023. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!