Nicht erst seit ich bei medico arbeite, das sind jetzt gute 20 Jahre, beschäftige ich mich mit dem israelisch-palästinensischen Konflikt. Bei medico haben wir uns bemüht, nicht nur das paradoxe Sprechen über den Nahost-Konflikt zu üben (2002 veröffentlichten wir den Aufruf "Im Zeichen paradoxer Hoffnung"), sondern auch den gesamten Kontext der Region wahrzunehmen. Sobald man sich mit den Verbrechen Assads beschäftigt – auch gegenüber der palästinensischen Bevölkerung in Syrien, lassen sich die israelische Menschenrechtsverletzungen nicht mehr so aufgeregt singularisieren, wie das in manchen Öffentlichkeiten hierzulande üblich ist.
In meiner Zeit als Auslandsredakteurin einer DKP-nahen Wochenzeitung in den 1980er Jahren waren die Sprechweisen klar und die Gut- und Böse-Rollen verteilt. Genauso wie mit den Befreiungsbewegungen in Südafrika oder Mittelamerika gab es eine Solidaritätsbewegung mit Palästina, die weit über die hier lebenden Palästinenser_innen (viel weniger als heutzutage) hinausging. Alles Nationale war uns fremd. Wir hatten eine Idee von einem antikapitalistischen Universalismus und verlagerten unsere Träume von der Revolution auf den kämpferischen Süden.
Was bei Nicaragua als Revolutionsromantik und Projektion eigener nicht gelebter Kämpfe durchging, war bei Palästina weitaus problematischer. Es gab ausgerechnet da eine unheilvolle Praxis. Der gescheiterte Bombenanschlag einer deutschen Stadtguerilla auf das Jüdische Gemeindehaus in der Berliner Fasanenstraße am 9. November 1969, der, wäre er geglückt, 250 Menschen in den Tod gerissen hätte, gehört dazu. Es ist ein Beinah-Ereignis, das sich nicht vergisst, auch wenn es bei vielen in Vergessenheit geraten ist. Und wenn es nur eine Handvoll Leute waren, die diese Idee hatten. Es gab ein Umfeld linker Hybris, das sich qua vermeintlich richtiger politischer Meinung in einem erinnerungsfreien Raum bewegte. Und so musste man sich auch nicht mit der Frage beschäftigen, wie denn überlebende Jüdinnen und Juden mit der totalen Vernichtung umgehen sollten, außer nach einem – in ihren familiären Biografien vielfach zu spät – sicheren Ort zu suchen.
Man kann einwenden, dass damals eine restaurative Bundesrepublik mit ihren zu Demokrat_innen gewendeten Nazis mit Israel desto enger zusammenarbeitete, je aggressiver dessen militärischer Kurs wurde. Aber Jean Améry, der sich in seinem Buch „Jenseits von Schuld und Sühne“ entsetzt über derartige linke Anmaßungen zu Israel äußerte, wurde kaum vernommen. Ich erinnere mich gut an den Kommentar einer israelischen Freundin, die sehr gern in Berlin lebte, sich aber über die deutsche Linke wunderte. Nach ihrer Beobachtung erwartete diese, dass aus den deutschen Konzentrationslagern bessere Menschen gekommen sein müssten und deshalb hätte diese Linke besondere Maßstäbe für Israel entwickelt.
Das „deutsche Gedächtnistheater“, ein Begriff des Soziologen Michal Bodemann aus den 1990er Jahren, den Max Czollek in seinem Buch „Desintegriert Euch!“ wieder aufgriff, hat diese Idee perfektioniert. Denn so richtig es ist, sich der Opfer des Nationalsozialismus zu erinnern, so schwierig ist das Unterfangen in einer Gesellschaft, die doch wesentlich von den Tätern geprägt ist. Der Verdacht, dass hinter dem Opfergedenken irgendwann die Auseinandersetzung um die Täterschaft verschwinden könnte, ist nicht unbegründet. Czollek verweist auf Umfragen, nach denen immer weniger Deutsche annehmen, eigene Familienangehörige könnten in der Nazizeit Täter gewesen sein: Im deutschen Gedächtnistheater stehe der „gute Deutsche“ dem „guten Juden“ gegenüber.
Die Historikerin Ulrike Jureit und der Psychoanalytiker Christian Schneider sprechen sogar vom „Verharmlosungs- und Verleugnungspotential“ eines „opferidentifizierenden Erinnerungskonzeptes“. Das war damals in der Diskussion um das Holocaust-Denkmal in Berlin, das ich trotz dieser Kritik nicht nur wegen seiner schieren Größe mitten im Herzen Berlins, sondern auch wegen seiner Abstraktion, die jedem einzelnen überlässt, was er dort empfindet, prima finde. Aber man muss sich dieser Kritik gewärtig sein.
Die Auseinandersetzungen um die Frage, was Antisemitismus heute sei und inwieweit sich dieser in israelkritischen Äußerungen widerspiegele, ist ein Stachel im Fleisch dieses einfachen Weltbilds. Man höre allein die deutschen Reden am Holocaust-Gedenktag. Es wird sich gegen den Antisemitismus verwahrt und gleich noch gegen den „zugewanderten Antisemitismus“ (Schäuble). Parolen und Floskeln standen einer Rede von Saul Friedländer gegenüber, der sein Bekenntnis zu Israel mit seiner individuellen Erfahrung als heimatloser Überlebender verknüpfte und zugleich leise aber klar sein kritisches Verhältnis zur israelischen Regierungspolitik benannte. Hätte sich Schäuble nicht fragen müssen, ob an einem Tag wie diesem die Auseinandersetzung mit Zuwanderung hätte unterbleiben müssen, weil sie allzu häufig einen Vorwand für Rassismus liefert? Hätte er sich nicht die Mühe machen müssen, mehr zu sagen als nur Schlagworte.
Diese aber prägen die deutsche Debatte. Man distanziert sich von Antisemitismus und bezichtigt andere desselben. Und schon ist man fein aus dem Schneider und auf der richtigen Seite. Nicht nur wenn es um Israel geht, ist die Sache aber nicht so einfach. Ausgehend vom gut 2000 Jahre währenden christlichen Antijudaismus, der schon vor der nationalsozialistischen Judenvernichtung extreme Verfolgungsmethoden aufwies, ist der Antisemitismus und die immerwährende Auseinandersetzung damit ein grundlegendes Thema deutschen und europäischen Selbstverständnisses. Es kann sich also nicht durch Parlamentsbeschlüsse erledigen, die definieren, was Antisemitismus sei. Vor allen Dingen dann nicht, wenn diese Definitionen vorwiegend interessegeleitet sind: Die Deutschen wollen nicht als Antisemiten beschimpft werden; die Israelische Rechte nutzt den Antisemitismus-Vorwurf, um jeden Menschenrechtsdiskurs gegenüber der israelischen Besatzung zu disqualifizieren.
Auch der Blick auf Israel muss immer wieder neu geschärft werden. Schließlich ist es der europäischen Geschichte nicht gelungen, die jüdisch-christlichen Beziehungen nach zwei Jahrtausenden Verfolgung einvernehmlich zu entwickeln. Das nationale jüdische Projekt vollzieht dieselben Ausschlüsse wie alle nationalen Projekte und ist wie sie ein Ergebnis der europäischen Geschichte. Das jüngste Buch des französischen Philosophen Jean-Luc Nancy, „Der ausgeschlossene Jude in uns“, beschäftigt sich deshalb mit diesem sich unablässig wiederholenden Ausschluss als der fürchterlichen Permanenz eines sich als Judenhass offenbarenden Selbsthasses des Abendlandes, der sich seiner Widersprüche wie in einer destruktiven Autoimmunreaktion zu entledigen suche. Wer sich also ernsthaft mit dem Antisemitismus und auch seinen jüngeren Formen auseinandersetzt, kann das nur in einem widersprüchlichen und paradoxen Denken tun.
So wie Israels Existenz sich möglicherweise auch einem politischen Zufall verdankt, weil die Sowjetunion überraschend in der UNO für die Staatsgründung stimmte, und es sich zugleich legitimiert aus der Verfolgungs- und Vernichtungsgeschichte der europäischen Jüdinnen und Juden, so ist Israel eben auch Produkt des europäischen bzw. britischen Kolonialismus. Dass Israel in vom Kolonialismus geprägten und gezeichneten Regionen dann vor allen Dingen als koloniales Projekt gesehen wird, kann nicht verwundern. Zumal die antikolonialen Anfänge Israels mit der eigenen Verwicklung in Formen von Siedlerkolonialismus zunehmend in Widerspruch gerieten.
Dieses Nebeneinanderher von unterschiedlichen Erfahrungen und Blickwinkeln mit der Fixierung einfacher Formeln zur Definition von Antisemitismus lösen zu wollen, ist ein Unding des Denkens. Schließlich sind die Frage nach dem Antisemitismus und die, worin er besteht, eine täglich neu zu führende Auseinandersetzung unter all denen, die sich die Bekämpfung von Antisemitismus, Rassismus und Islamophobie zur innigsten Angelegenheit machen. Dazu gehört es auch, die Widersprüche auszuhalten, statt sich ihrer zu entledigen. Ich saß kürzlich mit einem wunderbaren und mutigen Kollegen aus Brasilien in einer Kneipe in Straßburg. Wir unterhielten uns über die entsetzliche Lage in Brasilien und dann berichtete er, dass er mit BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) in der Westbank gewesen sei. Als ich ihm vielleicht etwas emotionaler sagte, dass ich es unmöglich fände, in Deutschland einen Boykott Israels zu fordern, schließlich hätten wir schon einmal erst die Juden boykottiert, um anschließend sechs Millionen von ihnen umzubringen, sah er mich mit großen und erschrockenen Augen an. Von diesem Blickwinkel aus hatte er die Sache offenbar noch nie betrachtet. Warum auch.
Was auch immer zu Recht gegen BDS eingewendet werden kann oder muss, der Antisemitismus-Vorwurf entpuppt sich nicht nur als Kampagne israelischer Rechtspopulist_innen, sondern vor allen Dingen auch als eine eurozentristische Angelegenheit. Aus dem globalen Süden auf die israelische Besatzung geschaut zeigt sich eben auch eine Wahrheit. Nämlich, dass der israelische Siedlerkolonialismus in der Westbank mit allem einhergeht, was zu Siedlerkolonialismus gehört: Formen von ausgetüftelter Klassifizierung und Einteilung der ursprünglichen Bevölkerung, um sie besser kontrollieren zu können; die beständige Delegitimierung ihres Sprechens und ihrer Anliegen und klassische Repression. Um nur einige zu nennen.
Es gibt also in einer Zeit, in der zu Recht unser eigenes koloniales Denken erneut auf den Prüfstand kommt, auch in der Debatte um Israel keinen anderen Ausweg als legitime Sprechweisen auszuhalten. Und die bestehen eben darin, dass aus deutscher und europäischer Sicht die Verantwortung für Judenverfolgung und Judenvernichtung Teil eines Diskurses über Israel sein muss, während sich der Süden diese Sichtweise keineswegs zu eigen macht und manchmal aufgrund bitterer Erfahrungen nicht zu Unrecht befürchtet, der Antikolonialismus könnte gegen den Antisemitismus, wie ihn europäische Politiker_innen verstehen, ausgespielt werden.
Es wird so nicht kommen. Denn in der aktuellen Auseinandersetzung mit der „Politik der Feindschaft“, wie das Achille Mbembe nennt, landen wir alle im selben Boot. Die zentralen Mittel dieser Politik der Feindschaft sind, so Mbembe, Antisemitismus, Islamophobie und Rassismus. Oder mit Czolleks Worten: Wenn heute Muslime ausgegrenzt werden, sind morgen die Juden dran. Und das gilt auch umgekehrt.