Libanon

Gesundheit im Ausnahmezustand

20.08.2020   Lesezeit: 8 min

Nach der Explosion im Hafen von Beirut verschärft sich die Gesundheitskrise im Land. Im Flüchtlingslager Ein El Hilweh sind die Menschen auf Solidarität und Selbsthilfe angewiesen.

Von Till Küster

Die Frage, welche Katastrophe sich im Libanon ereignet, ist für die meisten von Ihnen sicherlich schnell beantwortet. Zu heftig war die Explosion im Hafen der Hauptstadt Beirut, die am 4. August weite Teile der Innenstadt schwer zerstörte, vermutlich 300.000 Menschen obdachlos machte und über 7.000 verletzte. Über 200 Menschen starben bei dem Unglück. Ein Feuer hat die Explosionen von 2.750 Tonnen Ammoniumnitrat ausgelöst, die seit Jahren im Hafen lagerten – eine der schwersten nicht-nuklearen, von Menschen verursachten Explosionen, die je gemessen wurde.

Die materiellen Folgen für die Stadt sind immens und noch nicht vollständig absehbar. Dutzende öffentliche Schulgebäude sind so schwer beschädigt, dass 50.000 Schulkinder in den kommenden Monaten an alternativen Standorten unterrichtet werden müssen. Ins Mark getroffen hat die Explosion das ohnehin schon arg heruntergewirtschaftete öffentliche Gesundheitssystem. Sechs Krankenhäuser, das zentrale Medikamentenlager sowie 55 Gesundheitszentren sind durch die Druckwelle schwer beschädigt worden.

Der Staat ist nur mit Militär präsent

Wir besuchen das Krankenhaus im Hafenviertel Karantina. Der Ort der Explosion ist nur einige hundert Meter entfernt, der Krankenhaus-Betrieb wurde komplett eingestellt. Eine neu eingerichtete Covid-19-Station sollte just an dem Tag in Betrieb gehen, als im Hafen die Katastrophe ihren Lauf nahm. Auf der Neugeborenen-Station riss die Druckwelle ganze Wände ein, dreißig Säuglinge mussten evakuiert werden, ein Kind starb. Wir sprechen mit dem Klinikpersonal, das quasi alleine die Aufräumarbeiten begonnen hat. Von den libanesischen Behörden war bislang niemand vor Ort. In den Innenhöfen des Hospitals wurden kleine Zelte aufgebaut, immer wieder betreten Mitarbeiter*innen ausländischer NGOs das Gebäude, wenig wirkt hier koordiniert, es herrscht eine gespenstische Ruhe.

Zwei Straßenecken weiter hat die medico-Partnerorganisation AMEL eine kleine mobile Klinik errichtet, die nun täglich bis zu hundert Patient*innen versorgt. AMEL verfügt über sechs mobile Kliniken im ganzen Libanon, die nun abwechselnd nach Karantina rotieren. Damit soll sichergestellt werden, dass in den Flüchtlingslagern in der Bekaa-Ebene sowie im Norden des Landes die medizinische Versorgung aufrechterhalten werden kann. Seit Jahren läuft ein milliardenschweres internationales Hilfsprogramm zur Versorgung der 1,5 Millionen syrischen Flüchtlinge im Land, das trotz der hohen Summen nur mit Müh und Not eine Mindestversorgung in den unzähligen inoffiziellen Camps im Land aufrechterhalten kann.

Wir sprechen mit Mohammad, dem Gesundheitskoordinator von AMEL, der jeden Tag in Karantina ist. „Eigentlich soll unsere mobile Klinik nur vierzehn Tage in Karantina sein, bis die fünfzehn umliegenden Gesundheitszentren und das zentrale Krankenhaus wieder öffnen können. Seit der Katastrophe ist hier aber wenig passiert. Also wird sich unser Einsatz hier wohl verlängern.“ Neben ihrer Untätigkeit verbreiten die Behörden auch noch Falschmeldungen. „Sie bestreiten bis heute, dass das zentrale Medikamentenlager nahe das Hafens zerstört wurde. Ich selbst war aber als freiwilliger Helfer dort: quasi alle Bestände sind vernichtet.“ Daher geht es für AMEL auch nicht mehr nur um die Versorgung von Verletzten der Explosion. Viele Menschen sind auf Medikamente angewiesen, die sie täglich benötigen und nun nicht mehr beziehen können. Ein Provisorium, wie so vieles im Libanon.

Ein ganz anderes Problem stellt sich auf der Ebene der Koordinierung: Es gibt im Libanon nun drei verschiedene Koordinierungsstellen zwischen den Behörden, den Vereinten Nationen sowie den nationalen und internationalen NGOs. Neben dem bereits erwähnten „Lebanon Crisis Response Plan“ zur Versorgung der syrischen Flüchtlinge gibt es die Koordinierung der Corona-Programme und nun auch noch verschiedene Gremien zur Hilfe nach der Explosion im Hafen. „Jeden Tag müssen wir in verschiedene Meetings anstatt dass die Hilfe zentral gesteuert wird“, meint Virginie Lefèvre von AMEL.

Die libanesischen Behörden sind seit Jahren überfordert mit der Versorgung der zunehmend verarmten Gesellschaft und der konstant hohen Zahl an Flüchtlingen im Land. Im Zuge der Katastrophe in Beirut verhängte Staatspräsident Aoun den Ausnahmezustand, der dem Militär umfassende Befugnisse einräumt. Ein auf den ersten Blick logischer Schritt, der aber massive Kritik hervorrief, weil das Militär sich nur punktuell an den Aufräumarbeiten und Hilfsverteilungen beteiligte. Stattdessen wurden die Soldaten eingesetzt gegen die heftigen Proteste in der Stadt, die wenige Tage nach der Katastrophe die mittlerweile zweite Regierung binnen eines Jahres zum Rücktritt zwangen. Die Demokratiebewegung befürchtet, dass die Explosion nun als Vorwand genutzt wird, um mit dem Militär noch härter gegen die Demonstrationen vorgehen zu können. Bei den heftigen Protesten am Samstag nach der Explosion wurden über 700 Menschen verletzt – während gleichzeitig noch in den Trümmern nach Menschen gesucht wurde.

Politisches Gerangel um die Hilfe

Hinzu kommt, dass die Armee nun direkt an der Koordinierung der Hilfe in Beirut beteiligt werden muss, ein bislang einzigartiger Vorgang im Libanon, der die humanitäre Arbeit weiter verkompliziert. So forderte die Armee alle Hilfsorganisationen auf, sich bei ihr zu registrieren, um weiterhin in Beirut Hilfe leisten zu können, während die UN-Agenturen wiederum die Organisationen anwiesen, sich auf keinen Fall registrieren zu lassen. Ein politisches Gerangel, das zu weiteren Krisensitzungen führte.

Und in diesem Chaos wird das Land nun von einer zweiten, heftigen Corona-Welle getroffen. Während in der Zeit von März bis Juli die Ausbreitung des Virus durch einen strikten Lockdown überraschend gut eingedämmt werden konnte, registrieren die Krankenhäuser nun täglich über 400 Neuinfektionen, ein beängstigender Rekord in einem Land mit sechs Millionen Einwohner*innen und nur sehr begrenzten Testkapazitäten. Bereits vor der Explosion in Beirut stiegen die Fallzahlen, hauptsächlich ausgelöst durch Libanes*innen, die aus dem Ausland zurückkamen, nachdem der über Monate gesperrte Flughafen wieder geöffnet wurde. Nach der Explosion infizierten sich Dutzende Angestellte in den Notaufnahmen der verbleibenden Krankenhäuser bei der Versorgung von Schwerstverletzten.

Nun schlagen die libanesischen Krankenhäuser Alarm. Eine Versorgung der Patient*innen sei nicht mehr zu gewährleistet, wenn nicht umgehend ein erneuter Lockdown angeordnet würde. Das Land habe die Wahl zwischen einer unkontrollierten Ausbreitung von Covid-19 oder einer Verschlimmerung der wirtschaftlichen Krise durch einen erneuten Lockdown. Während der monatelangen Beschränkungen des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens konnte zwar die Pandemie erfolgreich eingedämmt werden – dafür aber rutschten immer mehr Menschen in die Armut. Ein erneuter Lockdown könnte die Not noch weiter verschärfen. Im Juli vermeldeten die Behörden erschreckende Zahlen: eine Arbeitslosigkeit von vierzig Prozent, 75 Prozent der Menschen unterhalb der Armutsgrenze, befürchtete Versorgungskrisen.

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Das worst case-Szenario ist eingetreten

Wie sehr die medizinische und wirtschaftliche Krise die Menschen im Libanon trifft, wird uns beim Besuch unserer Partnerorganisation Nashet im palästinensischen Flüchtlingslager Ein El Hilweh, eine Autostunde von Beirut entfernt, deutlich. Das Ein El Hilweh ist vielleicht der speziellste Ort im Libanon, der die krisenhafte und von Gewalt geprägte jüngere Geschichte des Landes am drastischsten abbildet. Von der Armee abgeriegelt leben im Camp seit 1947 circa 90.000 Palästinenser*innen auf engem Raum.

Mit den ersten Corona-Fällen ist hier mittlerweile eines der worst case-Szenarien eingetroffen. 25 Infizierte sollen es sein, zwei Menschen sollen an der Krankheit gestorben sein. So richtig bestätigen kann das niemand, im Camp wird nicht getestet. Für die medizinische Versorgung der palästinensischen Flüchtlinge im Libanon ist das UN-Hilfswerk UNRWA zuständig, nicht die libanesischen Behörden. Palästinenser*innen im Libanon besitzen auch in der vierten Generation nicht die Staatsbürgerschaft und sind damit von Grundleistungen des Staates ausgeschlossen.

Solidarität und Selbsthilfe im Ausnahmezustand

Das UNRWA selbst befindet sich in einer chronischen Finanzkrise, verschärft noch durch die Entscheidung von US-Präsident Trump vor einigen Jahren, die Zahlungen der USA an UNRWA weiter zusammen zu streichen. Die Folge: Im Ein El Hilweh müssen die Menschen 100 US-Dollar für einen Test in privaten Kliniken zahlen – eine Summe, die hier niemand finanzieren kann. Als erkrankt gelten daher Personen, die eindeutige Symptome aufweisen. Mittlerweile sind es so viele, dass innerhalb des Camps einige Sektoren abgeriegelt wurden. Ein verzweifelter Versuch der rivalisierenden Milizen im Camp, um das Infektionsgeschehen einzudämmen. Ebenso wurde der zentrale Markt geschlossen, nun befürchten die Menschen eine komplette Abriegelung, Erinnerungen an die schwierigsten Zeiten in der 70jährigen Geschichte des von Konflikten und Ausgrenzung geprägten Lagers werden wach.

„Wir haben hier eigentlich zwei grundlegende Probleme“, sagt Zafer Al Khateeb, Direktor von Nashet unserer palästinensischen Partnerorganisation im Ein El Hilweh. „Zum einen gibt es für uns keine ausreichende medizinische Versorgung, zum anderen haben die Menschen große Angst, wodurch die Solidarität im Lager leidet“. Nashet hat deshalb mit zwei Projekten auf Corona reagiert: Eine Großküche der Nashet-Frauenkooperative kocht täglich Essen für bis zu hundert Familien, das ihnen nach Hause geliefert wird. Mit Unterstützung medicos wurden zudem bereits 23 Gärten auf den Hausdächern im Ein El Hilweh errichtet, durch die sich Familien selbst versorgen und einen Teil der Ernte an die Kooperative verkaufen können. Zusätzlich betreibt Nashet Aufklärung zu Abstandregelungen und Hygiene, um die Übertragung von Covid-19 zu begrenzen. Nahrung und Wissen als Mittel gegen eine Pandemie, der man im Libanon immer weniger medizinisch begegnen kann. Solidarität und Selbsthilfe in einem dauerhaften Ausnahmezustand.

medicos Partnerorganisationen streiten gemeinsam mit der libanesischen Zivilgesellschaft für politische Veränderung und Solidarität. Sie leisten die Unterstützung, die die Regierung nicht bietet. Es kommt jetzt auf sie an. Es geht um Hilfe in der Katastrophe, langfristige Projekte zur STärkung von Selbstorganisation und Solidarität und um Unterstützung bei einem Systemwechsel, der schon begonnen hat und dringender ist denn je.

Till Küster

Till Küster ist Politikwissenschaftler und leitete bis 2023 die Abteilung für transnationale Kooperation bei medico international.

Twitter: @KuesterTill


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