und Katherine Braun
In ihren aktuellen Wahlprogrammen äußern sich fast alle größeren Parteien Deutschlands zum Thema Fluchtursachenminderung. Dass dieses Schlagwort in aller Munde ist, ist kein Zufall. Spätestens seit 2015 steht die Bekämpfung von Fluchtursachen im Fokus der Politik in Europa. In einem ressortübergreifenden Ansatz sagen EU und europäische Regierungen wie auch die Bundesregierung dabei vor allem der sogenannten irregulären Migration den Kampf an, ohne jedoch zugleich ernsthaft legale Migrationswege zu schaffen und Fluchtwege offen zu halten. Dabei wird Entwicklungszusammenarbeit zunehmend in den Dienst dieses innenpolitischen Interesses gestellt, Programme werden an die Bedingung geknüpft, Migration zu verhindern und Rückübernahmen zuzustimmen. Entwicklungshilfegelder kommen bevorzugt Ländern entlang der Hauptrouten nach Europa zugute bzw. werden zugunsten der Migrationsabwehr umgewidmet.
Bereits 2017 forderten 150 Träger:innen des Bundesverdienstkreuzes den Bundestag auf, eine Enquete-Kommission einzusetzen, um zu untersuchen, wie Deutschland weltweit zu Fluchtursachen beiträgt. Im Koalitionsvertrag von 2018 wurde die Einsetzung einer solchen unabhängigen Kommission daraufhin vereinbart. Im Frühjahr 2019 nahm die Kommission bestehend aus 24 Mitgliedern aus Nichtregierungsorganisationen, Wissenschaft, Wirtschaft und internationalen Organisationen ihre Arbeit auf. Den Vorsitz hatten Gerda Hasselfeldt, Präsidentin des Deutschen Roten Kreuzes, und Bärbel Dieckmann, ehemalige Präsidentin der Welthungerhilfe. Unter dem Titel „Krisen vorbeugen, Perspektiven schaffen, Menschen schützen“ legte die Kommission im Frühjahr 2021 schließlich ihren Bericht vor. Was ist davon zu halten?
Paradigmenwechsel statt „Weiter so?“
Die Bundesregierung sieht in dem Bericht der Fachkommission eine Bestätigung ihrer bisherigen Politik. Auf der Homepage des BMZ heißt es: „Die Kommission bestätigt mit ihrem Bericht den Ansatz der Bundesregierung, dass ein entschiedenes Handeln angesichts der seit Jahren weltweit steigenden Flüchtlingszahlen weiterhin nötig ist und die Minderung von Fluchtursachen als ein ressortübergreifendes Thema zu sehen.“ Konkret hebt das BMZ Handlungsempfehlungen wie „entschiedenere Unterstützung von Entwicklungsländern beim Kampf gegen den Klimawandel“ und „bessere Berücksichtigung der besonderen Lage von Binnenvertriebenen“ hervor. Mit einer so willkürlichen und begrenzten Auswahl von Handlungsempfehlungen verweist das BMZ zugleich auf die vielen blinden Flecken bei der Bekämpfung von Fluchtursachen, die im Bericht ausführlich dargelegt werden. Dieser deutet nämlich keineswegs einfach in Richtung „Weiter wie bisher“. Statt weiterhin Fluchtursachen weit weg zu bekämpfen, betont der Bericht an mehreren Stellen ausdrücklich, dass eine ernst zu nehmende Bekämpfung von Fluchtursachen hier in Europa ansetzen muss. Gleich im Vorwort heißt es: „Gründe, warum Menschen ihre Heimat verlassen, sind nicht nur in den Ländern der Betroffenen selbst zu suchen, sondern auch entwickelte Länder wie die europäischen Staaten tragen dazu bei.“ Und wenige Seiten später: „Die Reduzierung der Ursachen von Flucht und irregulärer Migration erfordert Veränderungen in Deutschland und anderen Industriestaaten, denn unserer Wirtschafts- und Lebensweise tragen zu den Ursachen bei.“ Konkrete Handlungsfelder werden etwa in einem ambitionierten Klimaschutz, fairen Handelsbeziehungen und restriktiven Rüstungsexporten ausgemacht. Und es wird die Forderung erhoben, die Bundesregierung und die EU müssten sich „konsequent für eine gerechte globale Ordnung einsetzen“ und „Wohlstandsgefälle abbauen“.
Zugleich erkennt der Bericht an, dass die Gründe, warum Menschen aufbrechen, vielschichtig und miteinander verwoben sind, sodass man Flucht und Migration nicht immer sauber voneinander trennen kann: aus Binnenmigration in die Städte werde nicht selten Flucht ins Ausland und aus Arbeitsmigration ins Nachbarland könne Flucht auf einen anderen Kontinent werden. Insbesondere in Bezug auf Klimavertriebene, die nicht unter die Genfer Flüchtlingskonvention fallen, verweist der Bericht auf bestehende Rechts- und Schutzlücken und fordert eine internationale Lösung ein. Auch eine Allianz für Resettlement soll gegründet werden, deren Mitgliedsländer direkt aus den Herkunftsländern Flüchtlinge aufnehmen.
Migrationspartnerschaften und Rückführungen
Der Bericht ist also keineswegs eine Bestätigung der bisherigen Politik. Man kann ihn in Teilen sogar eher als Vorschlag für einen Paradigmenwechsel in der Fluchtursachenbekämpfung verstehen. Leider bleibt der Bericht jedoch in einigen Handlungsempfehlungen weit hinter dem zurück, was er postuliert. So deutlich er kritisiert, dass Entwicklungsmaßnahmen in den letzten Jahren zunehmend an die Kooperationsbereitschaft von Partnerländern bei der Migrationskontrolle geknüpft waren, so dürftig und widersprüchlich ist er in seinen konkreten Vorschlägen dazu.
So begrüßt die „Kommission Fluchtursachen“ die von Menschenrechtler:innen vielfach kritisierten Migrationspartnerschaften wie auch die Programme zur Förderung „freiwilliger“ Rückkehr und Reintegration. Wenn in dem Bericht Partnerschaften in beiderseitigem Interesse gefordert werden, geht es – wie gehabt – um eine Kopplung von Entwicklungszusammenarbeit an die Bereitschaft zur Kooperation beim Migrationsmanagement, etwa bei der Rücknahme von Migrant:innen. Treu dem Ansatz, sich Schutzsuchender zu entledigen, indem man nach dem Vorbild des EU-Türkei-Deals fragwürdige Abkommen mit Herkunfts- und Transitländern schließt. Was die Förderung „freiwilliger“ Rückkehr und Reintegration anbelangt, wird der ressortübergreifende Ansatz gelobt. Zugleich wird deutlich gemacht, dass die alimentierte Rückkehr nicht zu erfolgreich sein darf, um keine Pullfaktoren auszulösen. Kritischen Stimmen, die darauf verweisen, dass die Reintegration oft nicht nachhaltig ist und viele Menschen ihre Rückkehr-Entscheidung bereuen, hält der Bericht „überzogene Erwartungen“ vor. Dass „überzogene Erwartungen“ nicht das Kernproblem sind, sondern vielmehr die Bedingungen, unter denen sich Menschen zu einer „freiwilligen“ Rückkehr entscheiden, zeigen wir mit unserem Recherche- und Dokumentationsprojekt Rückkehr-Watch, mit dem wir gerade online gegangen sind. Es macht auch deutlich, in welch desolaten Situationen sich Menschen nach einer „freiwilligen“ Rückkehr häufig wiederfinden.
Alle wollen Fluchtursachen mindern
Nach den Bundestagswahlen ist offen, wie es weitergeht mit der Fluchtursachenbekämpfung. Ein Blick in die Parteiprogramme lohnt: Fast alle größeren Parteien wollen Fluchtursachen mindern, doch die Vorstellungen davon, wie das gelingen soll, variieren stark. Einige Tendenzen zeichnen sich aber schon ab. Ungeachtet der sinnvollen Handlungsempfehlungen der Kommission Fluchtursachen sieht der Haushaltsplan ab 2023 massive Kürzungen unter anderem im Bereich der humanitären Hilfe, in der entwicklungspolitischen Bildungsarbeit, der zivilgesellschaftlichen Arbeit in den ökonomisch schwächsten Ländern und beim Zivilen Friedensdienst vor.
Sollte die Regierung der Empfehlung der Kommission folgen, Migrationspartnerschaften zu stärken, wird das kaum unter Wahrung der Menschenrechte möglich sein. Ägypten und Marokko werden als bevorzugte Partnerländer verhandelt, Ägypten zudem großzügig ausgerüstet mit Überwachungstechnologien, um Migrationsströme zu beobachten. Dass diese Technologien auch zur Identifizierung von politischen Gegner:innen genutzt werden, liegt auf der Hand. Hier wird also mit Regimen kooperiert, die mit Menschenrechtsverletzungen selbst Fluchtursachen produzieren. Auch mit Afghanistan hat die EU 2016 ein Migrations- und Rückführungsabkommen geschlossen, das erst Anfang dieses Jahres verlängert wurde. Entwicklungshilfezahlungen dienten auch hier als Druckmittel, um Kooperationsbereitschaft bei der Rücknahme afghanischer Staatsbürger:innen zu erwirken. Bis kurz vor der Machtübernahme der Taliban haben europäische Regierungen daran festgehalten, nach Afghanistan abzuschieben und die „freiwillige“ Rückkehr gefördert.
Wenn – auf universelle Werte und Rechte rekurrierend – Frauen und Männer alles riskieren und in Afghanistan oder Sudan für Demokratie und Gleichberechtigung auf die Straße gehen, in Ägypten oder Syrien Menschenrechtsverletzungen aufklären oder sich in Marokko oder Nigeria als homosexuell zu erkennen geben – dann kann das für sie schnell zu einem Fluchtgrund werden. Und dann müssen wir alles dafür tun, dass ihre Flucht gelingt. Was wir für die Zukunft brauchen, ist daher nicht nur eine Abkehr vom Euphemismus der „Fluchtursachenbekämpfung“, der zu oft nichts anderes meint als Fluchtverhinderung. Wir müssen vielmehr weiterhin Menschen unterstützen, die für ihre Rechte eintreten und dabei riskieren, fliehen zu müssen. Und wenn sie dann tatsächlich fliehen müssen, muss alles dafür getan werden, dass ihre Flucht gelingt.
Katherine Braun forscht und arbeitet im Bereich Fluchtursachen und war bis 2020 bei Brot für die Welt. Seit 2021 ist sie Referentin der Flüchtlingsbeauftragten der Nordkirche.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2021. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!