Eigentlich wäre die Meldung eine Meldung wert gewesen. Pakistan, unter den bevölkerungsreichsten Ländern der Welt auf Platz fünf, steht unter Wasser. Im Vergleich der letzten dreißig Jahre hat der Süden des Landes in den letzten Wochen das Fünffache der üblichen Regenmenge schlucken müssen. Das Fünffache. Die Gletscher im Norden schmelzen in noch nie dagewesener Geschwindigkeit. Auch ihr Wasser sammelt sich in den vom Regen geschwollenen Flüssen. Sie fließen im Hauptstrom Indus zusammen, der sich ganz im Süden ins Meer ergießt, nahe der 30-Millionen-Metropole Karatschi. Die Zahl der Einwohner:innen Karatschis und der anderen Städte Pakistans wird infolge der Fluten noch einmal in die Höhe schnellen: Rund 50 Millionen Menschen, heißt es, haben ihr Heim und ihre Ernten verloren, auch die Ernte mindestens des nächsten Jahres.
Das trifft auch die Städte, auch Karatschi, das so groß wie das Saarland ist. Pakistans Platz in der Konkurrenz der südasiatischen Textilländer hängt an dem „Standortvorteil“, landeseigene Baumwolle verarbeiten zu können. Die gibt es nicht mehr und wird es auch im nächsten Jahr nicht geben. Deshalb werden in den Städten Fabriken schließen und ihre Arbeiter:innen auf die Straße setzen. Noch bevor es dazu kommt, droht vielen die Malaria. Das Hunderte von Quadratkilometer weit stehende Wasser bietet den Mücken, die den Erreger übertragen, beste Ausbreitungsbedingungen. Mit dem Fieber kommt der Hunger, und es werden Millionen sein, die hungern. Hungrig, krank und obdachlos werden sie noch im Winter sein, der in Pakistan gleich nach dem Monsun Einzug hält. Jetzt aber, jetzt regnet es erst einmal weiter, Tag für Tag.
Was wir längst wissen
Was, wenn nicht das, wäre eine Meldung wert? Pakistans Fluten sind aber keine Meldung. Jedenfalls nicht in dem Maß, in dem üblicherweise von solchen Katastrophen berichtet wird. Mag sein, dass das Unheil einfach zu groß ist, dass auch die Journalist:innen und ihre Redaktionen sprach- und hilflos sind. Ihr Schweigen hängt aber auch an dem, was wir alle längst wissen. Wir wissen, dass uns Pakistans Schmelz- und Regenfluten zeigen, was die globale Klimakrise sein wird. Was sie heute schon ist. Das ist der eigentliche Punkt. Die Durchschnittstemperatur Pakistans hat sich bereits um die 2,2 Grad erwärmt, an denen die Unabwendbarkeit des Klimawandels gemessen wird. Zu den dafür verantwortlichen Emissionen aber hat Pakistan weniger als ein Prozent beigetragen, trotz seiner über 220 Millionen Menschen. Deshalb bittet die zuständige Ministerin Sherry Rehman nicht um internationale Hilfe. Stattdessen fordert sie von den verantwortlichen Ländern und Unternehmen Reparationszahlungen im vollen Umfang der erlittenen und der folgenden Schäden. Die pakistanische Menschenrechtskommission, sonst nicht regierungsfreundlich, stimmt der Ministerin ausdrücklich zu.
Was zu tun ist
Zustimmung findet Ministerin Rehman auch bei den medico-Partnerorganisationen vor Ort, bei der Hilfsorganisation HANDS, der Gewerkschaft NTUF und bei der größten humanitären Organisation des Landes, der Edhi Foundation, mit der die NTUF zusammenarbeitet. Obwohl seit Wochen schon rund um die Uhr im Einsatz, wissen sie eigentlich nicht, was sie morgen noch tun können und tun sollen. Nach der letzten großen Flutkatastrophe, der des Jahres 2010, hat HANDS maßgeblich den Wiederaufbau damals zerstörter Dörfer getragen. Der Sinn dieser zehnjährigen Arbeit steht infrage: Viele dieser Dörfer sind wieder zerstört. Der NTUF, ebenfalls medico-Partner seit 2010, geht es in allem immer auch um die Demokratisierung des lange autoritär regierten Landes. Was aber kann Demokratisierung in Pakistan überhaupt noch bedeuten, wenn sich die Katastrophen von 2010 und 2022 von nun an stetig wiederholen, in sieben, fünf, drei Jahren, vielleicht schon im nächsten Jahr.
Wenn die einzig aussichtsreiche Lebensperspektive für Millionen seiner Bewohner:innen in der Flucht außer Landes liegt, wie Faisal Edhi auf einer gemeinsam von der NTUF und der Edhi Foundation ausgerichteten Pressekonferenz in Karatschi sagte: „Die Migration aus Pakistan wird die Ausmaße der Migration aus Syrien annehmen.“ Die Fragen unserer Partner:innen sind auch unsere Fragen. Natürlich haben wir uns sofort an ihre Seite gestellt, per Telefon und E-Mail die nötigen Vereinbarungen getroffen, Gelder für die unmittelbare Nothilfe überwiesen. Natürlich werden wir bald auch vor Ort über diese Fragen sprechen, in Karatschi, in den Dörfern, deren Häuser weggespült wurden, an den Rändern der überfluteten Straßen und Felder. Antworten haben wir im Moment nicht. Doch stimmen auch wir der Ministerin Rehman zu, wenn sie nicht um Hilfe bittet, sondern in vollem Umfang Reparationen fordert. Wird man ihr und wird man unseren Partner:innen zuhören? UN-Generalsekretär António Guterres hat der Welt in Bezug auf Pakistan „Schlafwandel“ vorgeworfen. Sicher ist nur, dass dieser Schlaf nicht von Dauer sein wird.
Unsere pakistanischen Partnerorganisationen versorgen Menschen, die in den ungeheuren Fluten alles verloren haben, mit Lebensmitteln, Hygienematerial, Zeltplanen und Moskitonetzen. Alles Weitere braucht jetzt Zeit.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!