Im Sommer konnten wir bei einem Deutschland-Aufenthalt mit Sergej sprechen. Das war vor der jüngsten ukrainischen Gegenoffensive in der Region Charkiw. Vor der Offensive schlugen im Schnitt viermal täglich russische Geschosse in Charkiw ein. Als wir zuletzt während der Offensive – die Stadt war zu dem Zeitpunkt den zweiten Tag in Folge ohne Strom und Wasser – sprachen, berichtete Sergej von Einschlägen jede halbe Stunde. Viele sind in die Keller und Schutzräume unter der Erde zurückgekehrt.
medico: Seit Beginn des russischen Einmarsches in die Ukraine hast du die meiste Zeit in Charkiw bzw. Charkow, wie die Stadt auf Russisch heißt, nahe der russischen Grenze verbracht. Wie haben sich dein Alltag und dein Umfeld seitdem verändert?
Sergej Čubukov: Die Lage in Charkow ändert sich täglich zum Schlechteren, weil es hier jeden Tag Beschuss und Einschläge gibt, weil jeden Tag Häuser einstürzen und jeden Tag Menschen sterben. Deshalb beobachten die Charkower:innen, die seit langem hier leben, mit sehr großem Schmerz, was mit ihrer Heimatstadt geschieht. Insbesondere die, die den gesamten Krieg hindurch hiergeblieben sind, zu denen ich auch zähle, haben sich wahrscheinlich schon an diesen Krieg gewöhnt, wie sich der Mensch an alles gewöhnt, an Gutes und Schlechtes. Aber jeden Tag kehren mehr Leute zurück nach Charkow, die Stadt erwacht wieder etwas zum Leben. Und ich will den Leuten unserer Stadtreinigung wirklich Respekt zollen und danken: Nach jeder Explosion beseitigen sie die Trümmer. Wenn ein Gebäude einstürzt, ist dort zwei Tage später aufgeräumt. So viele Menschen versuchen, die Stadt am Leben zu halten.
Ihr habt euch spontan selbst organisiert, um Menschen in eurer Stadt zu helfen. Was habt ihr unter den ständigen Angriffen geschafft?
Wir haben von Anfang an geholfen, indem wir warme Mahlzeiten zubereitet und Lebensmittelpakete an Bedürftige verteilt haben. Wir waren auch an der Evakuierung der Bevölkerung beteiligt und halfen, mehr als 1.500 Menschen, darunter Familien, Kinder, Erwachsene und Rentner, aus der Stadt und der Region Charkow an Orte mit sicheren Unterkünften zu evakuieren. Darüber hinaus haben wir über 300 Bombenschutzräume ausgestattet, Betten gebaut sowie Ausrüstung, Haushaltsgeräte, Kühlschränke, Mikrowellen und Herde gekauft. Wir versuchen, der Bevölkerung bei der Lösung unterschiedlicher Probleme zu helfen. Es gab Rentner:innen, die ihre Rente nicht erhalten konnten. Wir unterstützten beim Ausfüllen von Dokumenten, brachten sie aus Charkow heraus, reichten sie ein und brachten sie zurück. Es gibt so viele solcher Situationen. Deshalb werden alle Hände unserer zurzeit etwa 120 Mitarbeiter:innen benötigt. Außerdem haben wir soziale Projekte gestartet, die langfristig angelegt sind und der verbesserten Entwicklung des sozialen Umfelds unserer Stadt dienen sollen.
Das Ausmaß der Hilfe, die ihr leistet, hat sich innerhalb kürzester Zeit unter extrem schwierigen Bedingungen vervielfacht. Wie lange könnt ihr das so noch aufrechterhalten?
Tatsächlich ist da Erschöpfung. Ich bekomme immer noch nicht in meinen Kopf hinein, dass wir uns im Krieg befinden, dass Zivilbevölkerung so kaltblütig ermordet wird. Und ich stehe immer noch jeden Tag auf und finde keine Antwort auf die Frage, wie das geschehen konnte. Deshalb sind wir eindeutig: Es gibt die menschliche Erschöpfung, es gibt die Anspannung, ob man den heutigen Tag übersteht und den morgigen Tag erlebt, und jeder Mann, dessen Familie fliehen konnte, vermisst seine Kinder, seine Frau, seine Eltern. Und am bedrückendsten: Wir wissen nicht, wann das alles vorbei sein wird.
Ihr plant für die Zukunft nach dem Krieg auch die Einrichtung von sozialen Küchen für Bedürftige und ein Waisenhaus, außerdem Sportstätten und -förderung für Kinder und Jugendliche, die Versorgung alter Menschen usw. So wichtig diese Pläne sind: Habt ihr nicht Sorge, dass sich der ukrainische Staat, der sich schon vor dem Krieg nicht bestmöglich um die Bevölkerung gekümmert hat, weiter seiner Verantwortung für Soziales entzieht?
Wir machen dieselbe Arbeit. Der Staat hat mehr Befugnisse und Möglichkeiten, aber als Gemeinschaft von Bürger:innen sind wir flexibler und haben weniger bürokratische Beschränkungen. Aber es ist klar, dass die Umsetzung sozialer Projekte unbedingt staatlicher Unterstützung bedarf. Deshalb haben wir eine Reihe von Gesprächen mit den Stadt- und Regionalverwaltungen geführt und im Prinzip werden alle unsere Initiativen und Projekte von ihnen unterstützt. Darüber hinaus hat sich die Regionalverwaltung bereit erklärt, diese Projekte mitzufinanzieren, wenn wir den Löwenanteil der Mittel für die Umsetzung aufbringen. Nun weiß ich nicht, was morgen passieren wird. Wir können hier nicht planen, was in einem Jahr sein wird. Wir leben im Hier und Jetzt und leider nur dafür. Deswegen hoffe ich, dass der Krieg mit all seinem Leid wenigstens auch etwas zum Guten verändert.
Wie meinst du das?
Ich hoffe, dass sich die Einstellung der Menschen zu den Werten in ihrem Leben wandelt. Ich sehe jedenfalls, dass sich meine Wertvorstellungen und die vieler anderer, die in diesen Krieg geraten sind, verändert haben. Ich hoffe, dass das so auch bei unserer Regierung stattfindet, hin zu einer Orientierung auf den Wert des menschlichen Lebens, auf den Wert und die Bedeutung von sozialen Projekten, die Unterstützung von Familien, Kindern, Rentner:innen. Deshalb glaube ich, dass das alles realistisch ist und umgesetzt werden wird. Vielleicht nicht so schnell, wie wir es gerne hätten und vielleicht muss auch Druck auf den Staat ausgeübt werden. Außerdem wird es Unterstützung von außen brauchen. Wir zählen darauf, dass die Weltgemeinschaft uns dabei hilft, wieder auf die Beine zu kommen. Außerdem erwarten wir eine Verurteilung Russlands durch die internationale Gerichtsbarkeit. Alle Verluste müssen kompensiert werden. Ich denke also, dass finanzielle Mittel gefunden werden. Für uns ist nun das Wichtigste, dass wir diese Projekte beginnen können.
Charkow hat eine Geschichte als Stadt mit einer Bevölkerungsmehrheit, die sich kulturell und sprachlich immer auch als russisch verstand. Wie hat der Krieg die Einstellungen zum russischen Teil der eigenen Identität bei den Menschen verändert?
Erstens war Charkow in der Tat schon immer eine russischsprachige Stadt, wie auch Donezk und Lugansk. Ich weiß nicht, ob mit Absicht, aber tatsächlich haben Politiker viele Jahre lang die ukrainisch- und die russischsprachige Bevölkerung, die West- und Ostukraine, gespalten, obwohl wir eins sind. So oder so, es hat jedenfalls zu einer gewissen Feindseligkeit geführt. Die nächstgelegene russische Stadt, Belgorod, ist 80 Kilometer entfernt. Für die Leute aus Charkow und Belgorod, die jeweils dort gemeldet waren, gab es freien Grenzverkehr. Wir fuhren zu ihnen, sie kamen zu uns. Viele aus Charkow arbeiteten dort. Das war normal, genau wie in der Westukraine engere Beziehungen mit Polen und Rumänien bestehen oder im Norden der Ukraine nach Belarus. Es ist normal, sich mit den Nachbarn anzufreunden. Aber der Krieg hat alle Beziehungen über den Haufen geworfen, sodass nun ein tiefer Graben zwischen uns verläuft. Auch ich habe angefangen, mehr Ukrainisch zu sprechen, seit ich alle meine Geräte umgestellt und eine ukrainische Tastatur und Messenger installiert habe. Ich lebe seit 1991 in Charkow und habe immer Russisch gesprochen, aber innerlich widerstrebt mir inzwischen alles, was mit Russland zu tun hat. Dabei sind wir Russischsprachige deswegen nie schikaniert worden, niemand hat meine Rechte in irgendeiner Weise eingeschränkt oder verletzt. Ich arbeite seit zehn Jahren mit der Westukraine. Obwohl ich Russisch spreche, hat mich dort jeder verstanden. Andererseits gibt es in vielen europäischen Ländern zwei oder drei Sprachen, in Belgien, in Holland gibt es mehrere Landessprachen, richtig? Wenn jemand Französisch sprechen will, spricht er das, dasselbe mit Deutsch, Englisch. Es wird einfach gesprochen. Deswegen wird dort niemand benachteiligt. Das ist auch hier so. Wenn du so oder so sprechen willst, sprich. Ich versuche trotzdem, meine Kinder dazu zu bringen, mehr Ukrainisch zu sprechen. So ist das jetzt.
Interview: Riad Othman
medico unterstützt in der Ukraine unter anderem die Lebensmittelhilfe von Mirnoe Nebo Kharkova für 15.000 Menschen in der Region Charkiw, die Unterstützung von Binnenflüchtlingen durch die Landwirtschaftskooperative Longo Maï im Westen des Landes und Hilfslieferungen mit dem Nötigsten in Zufluchtsorte nahe der umkämpften Gebiete im Osten des Landes.
Dieser Beitrag erschien zuerst im medico-Rundschreiben 3/2022. Das Rundschreiben schicken wir Ihnen gerne kostenlos zu. Jetzt abonnieren!