Ich schaue auf meine Hand. Sie ist nicht besonders groß. Ich stelle mir ein Fladenbrot vor, klein wie meine Hand. Kürzlich kursierten Bilder aus Ägypten von Menschen, die ein Fladenbrot auf der Hand halten. Es kostet so viel wie vor wenigen Wochen, doch es ist nur noch halb so groß. Ich erinnere mich, wie die ausgestreckten Hände mit Mini-Fladenbrot vor elf Jahren erst zu Fäusten und dann rhythmisch zu den Rufen „Brot, Freiheit, Würde“ in die Luft gereckt wurden. Im Arabischen ist der Ruf ein a-b-a-Reim, die Würde hätte melodisch auch vorne stehen können. Aber es war eine bewusste Entscheidung, zuerst Brot zu fordern. Tatsächlich werden in Ägypten inzwischen im großen Stil Bohnen und Baumwolle für den Export angebaut, Weizen aber muss importiert werden. In Zeiten des Ukraine-Krieges und ausfallender Lieferungen ist das eine Katastrophe. Die Frage ist, warum die Grundversorgung in Ländern wie Ägypten, Irak, Algerien, Tunesien oder dem Libanon so stark auf Importe angewiesen ist, obwohl sie selbst große Anbauflächen haben. Wie konnten solch gefährliche Abhängigkeiten entstehen?
Bereits im Januar 2022, also noch vor dem Putin-Krieg gegen die Ukraine, haben die globalen Lebensmittelpreise einen historischen Höchststand erreicht. Grund ist die große „nachholende“ Nachfrage auf den Weltmärkten nach dem Abebben der Covid-19-Pandemie. Verstärkend wirkt die zunehmende Verwendung landwirtschaftlicher Produkte für Biodiesel. Zudem haben Missernten das Angebot an Sojabohnen aus Südamerika, Weizen aus den USA, Kanada und der EU und Palmöl aus Malaysia verringert. Die hohen Preise für energieintensive Betriebsmittel, insbesondere Düngemittel, und die steigenden internationalen Frachtkosten tun ihr Übriges. Einige Länder haben angesichts der beschriebenen Krise Ausfuhrbeschränkungen für Weizen, Rindfleisch, Palmöl oder Düngemittel verhängt. Auch das treibt die Preise nach oben. Bereits im Februar warnte der Zusammenschluss lokaler Kleinbäuer:innen auf dem afrikanischen Kontinent, ROPPA Afrique Nourricière, im Rahmen des EU-Afrika-Gipfels vor einer drohenden Hungerkrise. UN-Generalsekretär António Guterres sprach von einem sich abzeichnenden „Hurrikan des Hungers“.
(Alb-)Träume einer entwickelten Welt
Über Jahrzehnte ist der Anbau von Nahrungsmitteln für die Versorgung der eigenen Bevölkerung in vielen afrikanischen Ländern reduziert worden. Der Fokus liegt stattdessen auf exportgeeigneten Nutzpflanzen. Der Export von Baumwolle, Bohnen, Blumen und Beeren bringt zwar nicht viele Devisen ein, aber eben doch mehr als die Selbstversorgung. Insofern tragen sie zum Bruttoinlandsprodukt bei, was der Zusammenarbeit mit dem Internationalen Währungsfonds und der Weltbank zuträglich ist. Im Zuge der Liberalisierung wurden viele Anbauflächen an private Investor:innen verkauft oder verpachtet. Spekulation wurde Teil des täglichen Falafel-Brotes.
Diese Entwicklung begann in Afrika schon mit den Strukturanpassungsprogrammen der 1970er-Jahre. Damals wurden die afrikanischen Märkte mit stark subventionierten europäischen Agrarüberschüssen überflutet. Lebensmittel waren so günstig wie nie. Mit den künstlich niedrigen Preisen konnten die heimischen Produkte aber nicht mithalten. Lokale Märkte wurden zerstört, Abhängigkeiten geschaffen. Seit den 2000er-Jahren gibt es ein neues Instrumentarium: Economic Partnership Agreements (EPAs). EPAs sind Handels- und Entwicklungsabkommen zwischen der EU und Staaten in Afrika, im karibischen Raum und im Pazifischen Ozean, den sogenannten AKP-Staaten. Angeblich sollen sie zu einer verantwortungsvollen wirtschaftspolitischen Steuerung beitragen. Tatsächlich sind etwa die Abkommen zwischen der EU und afrikanischen Ländern Teil einer modernisierten globalen Ausbeutung. Ein typisches EPA verlangt die Öffnung der Märkte für praktisch alle Einfuhren aus Europa. Eine „Stillhalteklausel“ verpflichtet die afrikanischen Staaten dazu, ihre Einfuhrzölle für EU-Produkte einzufrieren. Eine dritte typische Komponente ist die „Meistbegünstigungsklausel“: Sie macht es afrikanischen Staaten zur Pflicht, der EU die gleichen Zölle anzubieten, die sie auch anderen wichtigen Handelspartnern anbieten. Das verhindert die Entwicklung regionaler Märkte für afrikanische Kleinbäuer:innen. Die Abkommen gehen so weit, dass sie Bäuer:innen daran hindern, Saatgut zu speichern und zu tauschen – was sie in die Abhängigkeit von transnationalen Saatgutunternehmen treibt.
Die Ideologie der Freiheit
„Freihandel“ ist ein Euphemismus für die Prämisse, die solchen Abkommen zugrunde liegt, denn sie verwechselt die Abwesenheit von staatlicher Regulierung mit Freiheit. Die Realität ist ein wilder Handel, der Menschenrechtsstandards ignoriert und die Bedürfnisse transnationaler Konzerne und Investitionen bedient. So tragen EPAs zu Landgrabbing bei: Je profitabler die Produktion im Globalen Süden wird, umso mehr gerät der lokale Agrarsektor unter Druck und wird der Anbau auf den Export für den „globalen Verbrauch“ umgestellt. Dieser macht jedoch nur kleine Minderheit satt. Der „Freihandel“ setzt einen Großteil der Bevölkerungen des Globalen Südens in Konkurrenz zu den Konsument:innen des Globalen Nordens, deren Kaufkraft im Schnitt 60-mal so hoch ist. In den Hunger- und Unterernährungsgebieten werden wichtige Landressourcen für ein Prozent der Weltbevölkerung in Beschlag genommen. Das Überleben der Armen wird damit absichtlich und vollständig von der internationalen „Hilfspolitik“ abhängig gemacht.
Ein Widerspruch zum Traum von „Entwicklung“? Im Gegenteil. Die früheren „Millennium Development Goals“ der UN und die heutigen „Ziele für nachhaltige Entwicklung“ unterstützen diese Vorgänge. Denn auch in ihnen geht es nicht primär um die Ernährungssouveränität der betroffenen Länder, sondern um deren bessere Einbindung in die globalen Wirtschaftsströme. Die jüngsten Strategien globaler Ernährungspolitik sehen kleinbäuerliche Landwirtschaft noch immer als überholte Praxis an. Lebensmittel für die internationalen Märkte sollen stattdessen von einer kleinen Zahl großer, intensiv wirtschaftender Betriebe produziert werden, die wenige Menschen beschäftigen und oft durch Verträge für Saatgut und Düngemittel an globale Konzerne gebunden sind. Dieser Ansatz hat verheerende Folgen für den Zugang der Menschen zu Land, Wasser und Ressourcen, die für lokale Nahrungsmittelproduktion benötigt werden.
Der Krieg als Katalysator
All diese Widersprüche spitzen sich durch den Ukraine-Krieg massiv zu. In diesem werden Hunger und die Angst vor einer globalen Hungersnot nicht nur produziert – sie werden strategisch genutzt, als Druckmittel, als Verhandlungsmasse, als „Waffe“, die - wie der Vizechef des russischen Sicherheitsrats Dimitri Medwedew bereits im April betonte - „still, aber schrecklich“ sei. Deswegen können Getreidefrachter nicht auslaufen und werden Silos in die Luft gejagt. Getreide und Sonnenblumenöl sind zum Faustpfand geworden und jede Seite, bis hin zur türkischen, versucht herauszuholen, was für sie herauszuholen ist. Die Folgen werden tödlich sein, bald schon oder erst im Winter, in diesem Dorf oder jenem Slum. Daran wird auch die Politik des IWF, den Hunger mit „Resilience and Sustainability Trust“ für besonders vulnerable Staaten abzufedern, wenig ändern. Denn neben den schon bestehenden Schulden gehen diese Trusts, ähnlich wie die EPAs, mit Strukturanpassungsvorgaben einher – etwa der Aufhebung von Subventionen für wichtige Lebensmittel. Hier schließt sich der Kreis.
Angenommen, es gäbe irgendeine Form von Kompromiss oder der Ukraine-Krieg wäre beendet: Die globale Ernährungsunsicherheit wäre mindestens so groß, wie sie das schon im Januar war. Denn sie ist Auswuchs einer jahrzehntelangen Politik, die es zulässt und ermöglicht, dass selbst elementarste Güter des Überlebens durchkapitalisiert und der Spekulation ausgesetzt werden. Sie sind Folge eines Weltsystems, das eklatante Ungleichheiten herstellt und Existenzgrundlagen zerstört. Globaler Hunger wird gemacht – heute mit blockierten Frachtern, jeden Tag mit Landraub und Lebensmittelspekulationen, aufgepressten Handelsabkommen und Strukturanpassungen sowie vielen anderen Zutaten des globalisierten Kapitalismus. Was tun? Akute Hilfe ist nötig. Aber sie muss sich an ein politisches Projekt der Veränderung binden. Nur dann wird sie mehr bewirken können, als dürftige Krümel Fladenbrot zu spenden, die niemanden satt machen.