Die Debatte um Antisemitismus ist in Deutschland in eine neue Phase eingetreten. Der mühsam errungene Gründungsmythos der westdeutschen Demokratie, der auf der Auseinandersetzung mit eigener Schuld und Verantwortung für die nationalsozialistischen Verbrechen und für die Vernichtung des europäischen Judentums insbesondere beruhte, besteht weiterhin, aber die Frage taucht nicht zum ersten Mal auf, ob das ausreicht. Seit 1990 gibt es nicht nur eine Debatte um die Erinnerungskultur bezüglich der nationalsozialistischen Verbrechen, auch das schwierige Verhältnis in Teilen der kritischen Öffentlichkeit zu Israel spielt dabei eine immer größere Rolle. Ein Kristallisationspunkt war in den 1990ern die Drohung des irakischen Diktators Saddam Hussein, Israel mit Chemiewaffen zu bombardieren. Israelische Intellektuelle kritisierten damals die Empathielosigkeit, mit der in Deutschland über diese Drohung gesprochen wurde, die hierzulande nur als ein Ergebnis des Nahost-Konflikts gedeutete wurde. Welche dunklen Schatten diese Drohung in Israel wieder zum Leben erweckte, spielte damals in der linken Debatte keine allzu große Rolle. Hinzu kommt die Erfahrung der Ostdeutschen, die –aufgewachsen in einem „verordneten Antifaschismus“ – zugleich mit einem fundamentalen staatlichen Anti-Israelismus der DDR konfrontiert waren. Für die kritische Öffentlichkeit mit DDR-Prägung war deshalb verständlicherweise eine neue differenzierte Beschäftigung mit Israel und seiner Geschichte ein wichtiges Anliegen. Der Politdiskurs der Westdeutschen hatte da wenig Schnittstellen mit der ostdeutschen Erfahrung.
All diese manchmal nur parallel laufenden Zugänge zum Thema Israel und Antisemitismus haben sich mit der Zeit nicht angenähert. Heute ist die Debatte in Deutschland so polarisiert wie selten zuvor. Zum einen verschärft die antideutsche Bewegung die Auseinandersetzung und macht eine bedingungslose Unterstützung der israelischen Politik zur Sollbruchstelle linken Denkens. Zum anderen befeuert die rechte Regierung in Israel den Konflikt in Deutschland. Ihre Strategie, Kritik an der israelischen Politik und schlussendlich an der Besatzung für antisemitisch zu erklären und dies insbesondere gegenüber palästinensischen Sprechpositionen durchzuhalten, ist aufgegangen. Der Bundestagsbeschluss, die in Deutschland marginale Kampagne Boycott, Divestment, Sanctions (BDS) für antisemitisch zu erklären, ist ein solcher Markstein wider die Meinungsfreiheit. Diese Form, die komplexen Problemlagen des Nahost-Konflikts vor allen Dingen unter dem Fokus der Antisemitismusdebatte zu betrachten, hat erhebliche Implikationen für die Demokratie in Deutschland, die sich über die umkämpfte Erinnerungskultur entwickelt hat.
Der Bundestagsbeschluss offenbart aber auch die Widersprüche. Aus allen Fraktionen, bis auf die AfD und FDP, gab es Einwände, BDS für antisemitisch zu erklären. Diese Einwände kamen gerade von denen, die sich auf dem außenpolitischen Feld bewegen und sich in der Region auskennen. Auch ein Aufruf von fachkundigen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in Deutschland begründete sehr differenziert ihre Ablehnung des Beschlusses. Sie alle eint der Tenor, dass mit diesem Beschluss die palästinensische Zivilgesellschaft in großen Teilen als Gesprächspartner ausgeschlossen werde. Die Frage, auf welche Kräfte man sich in den besetzten Gebieten dann noch stützen will, treibt die Fachleute um. Allerdings nicht die gutmeinenden Bundestagsabgeordneten, die ja in ihren eigenen Augen nichts anderes wollen als den Antisemitismus hierzulande zu bekämpfen.
Der Historiker Dan Diner schlägt im Buch „Neuer Antisemitismus?“ eine Lösung vergleichbar mit der Zerschlagung des gordischen Knotens vor: „Nämlich zum einen den Antisemitismus zu bekämpfen, als ob es den arabisch-jüdischen, den israelisch-palästinensischen Konflikt nicht gäbe; zum anderen alles zu unternehmen, um ebenjenen Konflikt einer beiden Seiten zuträglichen Lösung zuzuführen – so, als gäbe es den Antisemitismus nicht.“ Natürlich ist dies ein Vorschlag, der sich eher an die eigene Denkhaltung richtet, als dass er eine praktikable Lösung bietet. Aber in dieser Debatte tut Orientierung not.
Als Grundlage für die Beschlüsse deutscher Parlamente dient die umstrittene „Arbeitsdefinition Antisemitismus“ der International Holocaust Remembrance Alliance, die sich zu einem „Quasi-Gesetz“ entwickelt hat, wie die Islamwissenschaftlerin Rebecca Gould schreibt. Die Definition und die ihr beigefügten Beispiele beschäftigen sich insbesondere mit israel-bezogenem Antisemitismus und lassen erheblichen Interpretationsspielraum zu. Die Arbeitsdefinition kann in ihrer Vagheit für politische Instrumentalisierung missbraucht werden, wie man jetzt bei dem BDS-Beschluss gut sehen kann. Denn mit dem Antisemitismusvorwurf gegenüber BDS hat sich der Bundestag auf die Politik der illiberalen Rechtsregierung in Israel einschwören lassen. Die Frage, wie eine taugliche Antisemitismusdefinition aussehen könnte, die sich mit aktuellen auch Israel-bezogenen Formen des Antisemitismus auseinandersetzt und den Kampf gegen Antisemitismus befördert, ist also weiterhin offen.
Setzt sich die politische Instrumentalisierung des Antisemitismusvorwurfs fort – und der Bundestagsbeschluss ist ein großer Schritt in diese Richtung -, dann steht mehr als BDS auf dem Spiel. Denn dann würde auch eine Erinnerungskultur in Frage gestellt, die, wie die Friedenspreisträgerin des deutschen Buchhandels von 2018, Aleida Assmann, schreibt, „eine historisch vollkommen neue Erfindung“ ist. In ihrem jüngsten Buch „Der europäische Traum“ weist sie darauf hin, dass aus der Beschäftigung mit den nationalsozialistischen Verbrechen ein „transnationaler moralischer Maßstab“ entstanden ist. Dazu gehören auch universelle Kategorien wie Verbrechen gegen die Menschlichkeit, die Menschenrechte und die Genozid-Konvention. Aleida Assmann verbindet die Beschäftigung mit dem Holocaust als „präzedenzlosem Menschheitsverbrechen“ mit der postkolonialen Debatte: „Heute sprechen wir noch von den Juden, aber nicht nur von ihnen, sondern auch von den Sklaven, von den Kolonisierten und von den indigenen Ureinwohnern, an denen bis in die Gegenwart hinein Verfolgungen, Massaker und Repressionen verübt wurden und werden.“ Dies ist der Horizont einer Erinnerungskultur, die es weiter zu entwickeln und zu verteidigen gilt. Dass dann auch die kolonialen Anteile Israels zur Debatte stehen, muss man aushalten.
Empörung in Israel
Die kritische Öffentlichkeit des Landes ist mit dem BDS-Beschluss des Bundestages nicht einverstanden
In Israel hat der Bundestagsbeschluss gegen BDS große Befürworter in der Regierung und eine große Gegnerschaft bei allen, die sich für eine Verständigung mit den Palästinenserinnen und Palästinensern einsetzen. Ein Aufruf von 240 renommierten israelischen Intellektuellen machte dies deutlich. Nicht zuletzt die folgenden Auszüge aus einem Artikel von Avraham Burg, dem ehemaligen Sprecher des Knesset und Ex-Leiter der Jewish Agency, und dem auch in Deutschland bekannten Künstler Dani Karavan, machen deutlich, wie groß die Empörung in Israel über den Beschluss ist:
„Wir fragen die deutsche Regierung, ob sie wirklich der Meinung ist, dass es Ähnlichkeiten gibt zwischen dem Boykott einer Flasche Wein, die in besetzten Gebieten auf einem von Siedlern gestohlenen Land, das von der stärksten Armee der Region geschützt wird, und dem Boykott der Geschäfte von Juden in der Nazi-Zeit, die vollkommen wehrlos waren?
Die Entscheidung fügt dem Kampf gegen den Antisemitismus schweren Schaden zu, der im europäischen Nationalismus seinen Ursprung hat und auch von Teilen der muslimischen Gemeinden in Europa kommt.
Die Entscheidung des Bundestages vermischt den Kampf gegen Antisemitismus mit der Unterstützung für eine nationalistische israelische Agenda, und erschwert vielen Menschen damit den Kampf gegen Juden-hass in eben diesen Gemeinden. Außerdem schränkt der Bundestagsbeschluss die Gedanken- und Meinungsfreiheit ein, zwei Grundsäulen jeder liberalen Demokratie.
Die israelische Regierung hat den Beschluss als großen Erfolg gefeiert. Völlig unausgewogen hat sich der Bundestag hinter einer Regierung versammelt, die alles dafür tut, jede politische Lösung des Konflikts zu verhindern, indem sie mit dem Bau und der Ausweitung von Siedlungen weitermacht; hinter einer Regierung, die hofft palästinensisches Territorium annektieren zu können und den Obersten Gerichtshof beschneiden möchte, weil er undemokratische Gesetze blockiert, hinter einer Regierung, die das Nationalstaats-Gesetz verabschiedete, das Minderheiten in einer Weise diskriminiert, wie es in keiner anderen westlichen Demokratie vorstellbar wäre.
Aus der israelischen Tageszeitung Haaretz , 17. Juni 2019
[Das Denkmal für die von den Nationalsozialisten ermordeten Sinti und Roma im Berliner Tiergarten ist ein Entwurf von Dani Karavan, einem der beiden nebenstehenden Autoren.]